Von wegen: Ende der Fahnenstange

Bis 2030 droht eine weitere Verschärfung des Lehrkräftemangels

Der Lehrkräftemangel spielte auch im Landtagswahlkampf  eine große Rolle - offensichtlich aber keine entscheidende. Die GEW war mit ihren Zahlen und Forderungen auch in den Medien sehr präsent. Die hohe Zahl von Quereinsteigerinnen und Quereinsteigern in den Kollegien, ohne die der Schulbetrieb nicht mehr aufrechtzuerhalten wäre, war genauso ein Thema wie der starke Zusammenhang von sozialer Herkunft und Bildungserfolg in Deutschland, der immer deutlicher zu Tage tritt. Vor diesem Hintergrund legte die GEW Hessen neue Simulationsrechnungen für Deutschland und für Hessen vor, die die Entwicklung des Lehrkräftebedarfs mit der Entwicklung der Zahl der verfügbaren Lehrkräfte abgleicht. Das Ergebnis ist alarmierend: In den kommenden Jahren wird sich das Problem fehlender Lehrkräfte massiv verschärfen. Die neue Landesregierung ist deshalb dringend aufgefordert, sich der Herausforderung eines sich absehbar weiter erhöhenden Mangels an ausgebildeten Lehrkräften zu stellen.
 

Die Lehrkräftelücke in Deutschland wächst


Am 20. September 2023 veröffentlichte die Kultusministerkonferenz (KMK) ihre neue Vorausberechnung der Zahl der Schülerinnen und Schüler bis zum Jahr 2035. (1) Auf dieser Basis und unter Verwendung weiterer Publikationen der KMK und des Statistischen Bundesamtes lassen sich Simulationsrechnungen zum Lehrkräftebedarf, zur Zahl der zur Verfügung stehenden Lehrkräfte und zum nicht gedeckten Lehrkräftebedarf ermitteln. Ausgangspunkt sind die Ist-Werte des Jahres 2021. Diese enthalten auch Lehrkräfte, die ohne eine passende Ausbildung unterrichten. Ihre Zahl ist zumindest deutschlandweit nicht bekannt. Der Lehrkräftebedarf in den Jahren 2022 bis 2035 lässt sich auf Basis der Schülerzahlen und der Schüler-Lehrer-Relation für die jeweilige Schulform berechnen.


Um die jährliche Zahl der ausgebildeten Lehrkräfte zu bestimmen, sind zunächst die Lehrkräfte, die in den Ruhestand gehen, vom Bestand des jeweiligen Vorjahres abzuziehen. Als Alterseintritt in den Ruhestand wird dabei 65 Jahre unterstellt, was sogar ein Jahr über dem aktuellen durchschnittlichen Eintrittsalter liegt. Addiert werden müssen die neu ausgebildeten Lehrkräfte. Während die Zahl der jährlich in Pension oder Rente gehenden Lehrkräfte auf Grundlage der bekannten Altersstruktur leicht zu berechnen ist, ist die Frage nach den zukünftig pro Jahr neu ausgebildeten Lehrkräften schwieriger zu beantworten. Hierfür müssen Anteilswerte aus zurückliegenden Jahren (Zahl der Lehramtsstudierenden in Deutschland, Zahl der Lehramtsabschlüsse, Zahl der Lehrkräfte im Vorbereitungsdienst usw.) auf die prognostizierte Zahl der jährlichen Abiturienten bezogen werden.


Wenn der Lehrkräftebedarf höher ausfällt als die Zahl der zur Verfügung stehenden (ausgebildeten) Lehrkräfte, dann besteht eine Lehrkräftelücke, im umgekehrten Fall ein Lehrkräfteüberhang. Tabelle 1 zeigt die Zahl der Schülerinnen und Schüler in Deutschland für die Jahre 2022 bis 2035 und die sich daraus ergebende Zahl der erforderlichen Lehrkräfte. Der Spalte „fehlende Lehrkräfte“ ist zu entnehmen, wie viele Lehrkräfte pro Jahr fehlen, um den Bedarf zu decken. Im Jahr 2030 werden demnach fast 63.000 Lehrkräfte zu wenig ausgebildet worden sein. Dieser Fehlbetrag wächst in den folgenden Jahren weiter an und erreicht in der Spitze im Jahr 2034 einen Wert von fast 74.000 fehlenden Lehrkräften.


Simulationen für Hessen zeigen dasselbe Bild


Für Hessen kann eine ähnliche Berechnung wie für Deutschland insgesamt vorgenommen werden. Tabelle 1 dokumentiert in der letzten Spalte die Entwicklung der Zahl zusätzlich fehlender Lehrkräfte für Hessen ab dem Jahr 2022.


Anders als für Deutschland insgesamt ist für Hessen die Zahl der bereits im Jahr 2021 fachfremd unterrichtenden Lehrkräfte zumindest für die öffentlichen Schulen aufgrund einer kleinen Anfrage der SPD annähernd bekannt. (2) Demnach waren seinerzeit zehn Prozent der Stellen von Lehrkräften an öffentlichen Schulen mit Personen besetzt, die nicht über die für dieses Lehramt vorgesehene Qualifikation verfügen. Damit dürfte es sich – ausgehend von den zu diesem Zeitpunkt unterrichtenden rund 64.500 Lehrkräften in Voll- und Teilzeit – um vorsichtig geschätzt rund 6.450 Lehrkräfte an allen Schulen handeln, die mit einer nicht passenden Qualifikation unterrichten. Tabelle 2 ist zu entnehmen, wie sich der gesamte Mangel an Lehrkräften in den kommenden Jahren in Hessen entwickeln wird, wenn auch die ab 2022 fehlenden Lehrkräfte aus Tabelle 1 und außerdem der ab 2026 geltende Rechtsanspruch auf einen Ganztagsplatz berücksichtigt werden, der zusätzliche Lehrkräfte im Grundschulbereich erforderlich macht. (3)


Im dargestellten Zeitraum werden an hessischen Schulen in der Spitze in den Jahren 2029 und 2030 fast 12.000 Lehrkräfte fehlen. Das entspricht in diesen Jahren gemäß der Simulationsrechnung einem Anteil von jeweils 15 bis 16 Prozent an allen eigentlich benötigten Lehrkräften.


Über das ermittelte fehlende Angebot bei den ausgebil­de­ten Lehrkräften hinaus lässt sich ein zusätzlicher Lehrkräftebedarf in Folge ausgewählter Reformmaßnahmen begründen. So weist Klemm (4) einen zusätzlichen Lehrkräftebedarf für die Unterstützung von Schulen in herausfordernden sozialen Lagen und für die Inklusion aus. Bezogen auf Hessen würde dies vorsichtig geschätzt weitere 1.500 Lehrkräfte für Schulen in herausfordernden sozialen Lagen bzw. 2.000 Lehrkräfte für inklusive Bildung erfordern.


Ganz grundsätzlich wäre es zudem angezeigt, die Arbeitsbedingungen der Lehrkräfte und die Lernbedingungen der Schülerinnen und Schüler in Hessen zu verbessern. Nur so wird es gelingen, in Zukunft noch eine ausreichende Zahl von Lehrkräften zu gewinnen. Geeignete Maßnahmen wären eine Reduzierung der Pflichtstundenzahl und kleinere Klassen. Würde die Pflichtstundenzahl für jede Schulart moderat um 1,5 Stunden reduziert, so müssten zusätzlich rund 3.300 Lehrkräfte eingestellt werden. Eine Verringerung der Klassengröße an öffentlichen Schulen auf maximal 23 Schülerinnen und Schüler an allen weiterführenden Schulen und an Grundschulen auf maximal 20 Schülerinnen und Schüler würde weitere 4.400 Lehrkräfte erfordern.


In der Summe ergibt sich durch die vier aufgezählten Maßnahmen, die nicht einmal als besonders weitreichend oder gar utopisch bezeichnet werden können, ein weiterer geschätzter Zusatzbedarf von 11.200 Lehrkräften. Auch wenn die hier vorgenommenen Berechnungen nicht den Anspruch erheben, die Zukunft exakt voraussagen zu können, so zeigen sie doch einen erheblichen Handlungsbedarf auf. Unter den gegebenen Bedingungen ist mit einer steigenden Lehrkräfteunterversorgung in der hier präsentierten Größenordnung zu rechnen. Auch die neue Landesregierung ist dringend aufgefordert, sich der Herausforderung des sich weiter erhöhenden Mangels an ausgebildeten Lehrkräften zu stellen.


Kai Eicker-Wolf

(1) KMK: Vorausberechnung der Zahlen der Schülerinnen und Schüler und Absolvierenden 2022 bis 2035, Berlin 2023.
(2) Kleine Anfrage von Christoph Degen (SPD) vom 9.11.2021: Landtagsdrucksache 20/6696.
(3) Kai Eicker-Wolf, Roman George und Thilo Hartmann, Blindflug ins Scheitern? – Zur Umsetzung des Rechtsanspruchs auf einen Ganztagsplatz an Grundschulen ab 2026 in Hessen, in: Liv Dizinger u.a. (Hg.), Aufgebrochen im Wandel. Marburg 2023
(4) Klaus Klemm: Entwicklung von Lehrkräftebedarf und -angebot in Deutschland bis 2030. Essen 2022.