Große Aufgaben für die neue Legislaturperiode

HLZ September/Oktober 2023: Die Landtagswahl am 8. Oktober 2023

Die Schulpolitik wird die neue Landesregierung ausgesprochen fordern. Der zukünftige Kultusminister oder die zukünftige Kultusministerin wird nicht umhinkommen, Lösungen für den drastischen Lehrkräftemangel zu finden. Dieser hat bereits die vergangenen fünf Jahre begleitet, und leider gibt es keine Anzeichen für eine rasche Entschärfung. Ein weiteres Problem, das nicht erst seit der Corona-Pandemie mehr politische Aufmerksamkeit verdient, ist die gezielte Förderung von Schülerinnen und Schülern mit schlechten Lernvoraussetzungen. Zudem wird in der kommenden Legislaturperiode das Recht auf einen Ganztagsplatz in der Grundschule in Kraft treten. Der „Blindflug“, den die GEW der schwarz-grünen Landesregierung bei der Vorbereitung attestiert hat, muss schnellstmöglich beendet werden.


Den Lehrkräftemangel minimieren

Mit der Vorausberechnung der zukünftigen Zahl der Schülerinnen und Schüler hat sich die Kultusministerkonferenz (KMK) wahrlich nicht mit Ruhm bekleckert. In ihrer Prognose aus dem Jahr 2013, die erst 2018 turnusgemäß hätte aktualisiert werden sollen, erwartete sie für 2022 insgesamt 571.700 Schülerinnen und Schüler an den allgemeinbildenden Schulen in Hessen. Die tatsächliche Zahl lag um rund 100.000 höher, eine immense Differenz! Das ist fatal, weil die Ausbildung der benötigten Lehrkräfte rechtzeitig hätte aufgenommen werden müssen.


Die in der Tabelle wiedergegebenen Zahlen sind der letzten Vorausberechnung aus dem September 2022 entnommen. Die KMK hat ihre Methodik an dieser Stelle deutlich verbessert, wie auch der Bildungsforscher Klaus Klemm konstatiert, der angesichts des Versagens der Kultusbürokratie über viele Jahre die besseren Prognosen vorlegte. Doch auch die hier präsentierten Zahlen sind mit Vorsicht zu genießen. Der weitere Verlauf des Ukraine-Kriegs dürfte einen maßgeblichen Einfluss darauf haben, wie sich die Zahl der Geflüchteten an den Schulen weiterentwickelt. Dies außenvorgelassen, zeigt die Prognose eines ganz klar auf: Es werden mehr Schülerinnen und Schüler. Für die berufsbildenden Schulen wird bis 2028, dem regulären Ende der Legislaturperiode, eine annähernd gleichbleibende Zahl vorausberechnet. Doch an den allgemeinbildenden Schulen ist für jedes Jahr eine deutliche Steigerung abzusehen. Diese wird sich vom Primar- in den Sekundarbereich verlagern. Die Gesamtzahl der Schülerinnen und Schüler soll sich bis 2028 um rund 25.000 erhöhen. Das bedeutet Pi mal Daumen, dass jedes Jahr 5.000 Kindern und Jugendlichen mehr die Schulbildung ermöglich werden muss. Bei einer angenommenen durchschnittlichen Klassengröße von 20 liefe das auf 250 zusätzliche Klassen in jedem Schuljahr hinaus.


Der Personalbedarf wird also absehbar steigen, nur um den Status Quo halten zu können. Die Landesregierung bemüht sich in der Erzählung, sie habe ja mit zahlreichen Maßnahmen reagiert, es brauche nur etwas Zeit, bis diese wirken. Das wird aus drei Gründen leider nicht ausreichen:

  • Im Grundschullehramt ist die Zahl der Studierenden tatsächlich deutlich angestiegen, nicht so in den anderen Lehrämtern. Einen regelrechten Einbruch gibt es beim Lehramt an Haupt- und Realschulen, doch gerade in diesem wird der Bedarf anwachsen.
  • Zunächst konnte man noch zurückgreifen auf ein Reservoir an Lehrkräften mit erstem oder zweitem Staatsexamen, die noch kein Einstellungsangebot erhalten hatten. So wurden kurzfristig mehr Personen in den Vorbereitungsdienst aufgenommen, doch inzwischen sind die Neueinstellungen rückläufig. Darüber hinaus gab es zunächst noch voll ausgebildete Lehrkräfte im Haupt- und Realschullehramt sowie im Gymnasiallehramt mit weniger gefragten Fächerkombinationen. Doch auch diese Kolleginnen und Kollegen wurden inzwischen fast alle eingestellt.
  • Für Vertretungen setzt Hessen auf befristete Kräfte, die allerdings immer seltener über eine pädagogische Qualifikation verfügen. Da der Vertretungsbedarf struktureller Natur ist, sind Kettenverträge die Folge. Überlange Befristungsketten werden jedoch arbeitsrechtlich problematisch. Inzwischen dürfte sich ein wachsender Anteil der Vertretungskräfte im befristungsrechtlich „gelben“ oder „roten“ Bereich befinden. Die Folge ist, dass die Schulämter eine Weiterbeschäftigung ablehnen.

Das von der GEW schon lange geforderte Qualifikations- und Entfristungsangebot existiert nach wie vor nicht. Weiterhin befristete Vertretungskräfte zu finden, dürfte angesichts der allgemeinen Entwicklung des Arbeitsmarkts immer schwerer fallen.
Neue Konzepte gegen den Lehrkräftemangel sind überfällig und müssen von der neuen Regierung entwickelt werden.

 

Maßnahmen für eine gezielte Förderung

Rund jedes fünfte Kind beziehungsweise jeder fünfte Jugendliche erreicht in unserem Bildungssystem nicht den Stand, der als Grundvoraussetzung für soziale Teilhabe und für den Zugang zum Arbeitsmarkt angesehen werden kann. Dazu zwei alarmierende Befunde aus den vergangenen Monaten:

  • Dem IQB-Bildungstrend zufolge haben im Jahr 2021 in Hessen 21,7 Prozent der Kinder in der 4. Klasse nicht den Mindeststandard im Bereich Mathematik erreicht. Gegenüber der ersten Erhebung im Jahr 2011 hat sich dieser Anteil um 7 Prozentpunkte erhöht (1).
  • Der aktuelle Berufsbildungsbericht konstatiert, dass knapp 18 Prozent der Erwachsenen zwischen 20 und 34 Jahren über keinen Berufsabschluss verfügen. Dies entspricht einer Zahl von 2,6 Millionen bundesweit. Überwiegend handelt es sich hierbei um junge Erwachsene, die die Schule ohne Abschluss oder mit dem Hauptschulabschluss verlassen haben.

Die Schulen müssen also in die Lage versetzt werden, deutlich intensiver als bislang besonders die schwächeren Schülerinnen und Schüler zu fördern. Zwar sollte der seit einigen Jahren bestehende Sozialindex gezielt die Schulen mit zusätzlichen Ressourcen versorgen, deren Schülerinnen und Schüler sozio-ökonomisch benachteiligt sind. Doch leider zeigt er keine nennenswerte Wirkung, da er nicht optimal konstruiert wurde und unterdimensioniert ist. (2)


Die Bundesregierung hat zwei Programme angekündigt, die in diesem Zusammenhang von Bedeutung sind. Das so genannte „Startchancenprogramm“ soll Kindern und Jugendlichen bessere Bildungschancen unabhängig von der sozialen Lage ihrer Eltern ermöglichen. Dazu sollen 4.000 Schulen mit einem hohen Anteil sozial benachteiligter Schülerinnen und Schüler eine besondere Förderung erhalten. Die Details werden noch zwischen Bund und Ländern abgestimmt, das Programm soll gleichwohl zum Schuljahr 2024/25 an den Start gehen. Die neue Landesregierung wird es umsetzen – hoffentlich so, dass es zu spürbaren Verbesserungen führt. Dabei bestünde durchaus die Möglichkeit, die Bundesmittel deutlich mit Landesmitteln aufzustocken, wie es etwa beim DigitalPakt geschehen ist. Ein weiteres Vorhaben der Ampel, das für Abhilfe sorgen könnte, wird gleichfalls in der kommenden Legislaturperiode konkretisiert werden, die „Ausbildungsgarantie“. Auch bei dieser wird es auf die Umsetzung durch die Bundesländer ankommen, vor allem was die außerbetriebliche geförderte Ausbildung anbelangt, die das duale System ergänzen soll.


Ausbau des Ganztags: Den Blindflug beenden

Zur Mitte der Legislaturperiode tritt der Rechtsanspruch auf einen Ganztagsplatz an Grundschulen in Kraft. Kinder, die zum Schuljahr 2026/27 eingeschult werden, verfügen erstmalig über diesen. Der Rechtsanspruch wird dann auch für die folgenden 1. Klassen greifen, bis er zum Ende des Jahrzehnts für alle Grundschulkinder gilt. Hessen ist eines der Bundesländer, in dem der stärkste Ausbau erforderlich ist, weil das Ganztagsangebot noch deutlich kleiner ist als der Bedarf. Die alte Landesregierung hat weder eine solide Planung vorgenommen noch für die Ausbildung des Personals gesorgt. Die GEW hat deswegen einen „Blindflug“ konstatiert. (3) Der Rechtsanspruch droht zu scheitern, wenn die neue Landesregierung nicht schleunigst sicherstellt, dass das benötigte Personal vorhanden ist. Bei den Grundschullehrkräften könnte sich die Situation etwas bessern, weil A 13 und die zusätzlichen Studienplätze helfen werden. Doch es werden auch Erzieherinnen und Erzieher benötigt, und bei diesen ist der Mangel besonders ausgeprägt. Anstatt die Verantwortung einseitig an die Kommunen abzuschieben, sollte mit diesen gemeinsam an Lösungen gearbeitet werden. Das betrifft ebenso die Räumlichkeiten, die für einen guten Ganztag erforderlich sind.


Die Aufgaben, die auf die neue Landesregierung im Schulbereich warten, sind groß. Es wird zunächst vor allem um Lösungen für die dringendsten Probleme gehen müssen, allen voran den Lehrkräftemangel. Doch zu wünschen ist ein darüberhinausgehender bildungspolitischer Gestaltungswille – beispielsweise für längeres gemeinsames Lernen, bessere Lern- und Arbeitsbedingungen und eine Stärkung der politischen Bildung in allen Schulformen.

 

Roman George

(1) Petra Stanat, Stefan Schipolowski, Rebecca Schneider, Karoline A. Sachse, Sebastian Weirich, Sofie Henschel (Hrsg.) (2022): IQB-Bildungstrend 2021. Kompetenzen in den Fächern Deutsch und Mathematik am Ende der 4. Jahrgangsstufe im dritten Ländervergleich, S. 75.
(2) Horst Weishaupt (2023): Weg von der Gießkanne. Kinder in Armut und mit Sprachdefiziten gezielt fördern, HLZ 7-8, S. 24-25.
(3) Kai Eicker-Wolf (2023): Blindflug ins Scheitern? GEW legt Berechnungen zur Ganztagsplatzgarantie in Hessen vor, HLZ 5, S. 28-29.