Endlich wieder Präsenzbetrieb

Zur Situation an den Hochschulen nach 18 Monaten Pandemie

HLZ 12/2021: Studieren in Hessen

Seit zwei Monaten läuft das neue Semester unter gesonderten Hygienebedingungen. Doch diese müssen auch sozialverträglich und datenschutzrechtlich gestaltet sein. Schon vor der Pandemie war die Situation an den Hochschulen keine gute, aber jetzt braucht es soziale Auffangmechanismen statt Leistungsdruck.

Diskutieren statt auf Kacheln starren
Ein seltsames Gefühl, wieder in den Gängen der Hochschule zu den Seminarräumen zu eilen. Selbst zu Zeiten meines Auslandssemesters war ich nicht so lange nicht in den Gebäuden der Hochschule gewesen wie nun aufgrund der Pandemie. Ich frage mich, was ich am meisten vermisst habe. In erster Linie waren es die zufälligen Begegnungen, das spontane gemeinsam Diskutieren nach einem Seminar, das Feierabendbier an der Studi-Trinkhalle. All dies fiel über ein Jahr lang weg. Was blieb, waren die Prüfungen, die Hausarbeiten, die Seminare. Statt als Bildungsorte, die immer auch eine Lernumgebung für Erkenntnisgewinn und gemeinsames Denken sein sollten, ist die Hochschule zu einer Lernfabrik und Produktionsstätte von Abschlüssen verkommen. Mehr als ein Jahr befanden wir Studierenden uns in einem repetitiven, abstumpfenden Trott.

Den ganzen Tag vor dem Bildschirm zu verbringen und auf Kacheln zu starren, war nicht genug fordernd und ermüdend zugleich. Insbesondere für Pendler:innen stellte sich eine Zeitersparnis ein und die Hochschulen haben einen Sprung hinsichtlich Digitalisierung der Lehre gemacht, doch dies insbesondere deshalb, weil sie im Vorfeld wenig gerüstet waren. Die Pandemie wurde stark auf dem Rücken der Einzelnen ausgetragen, sowohl der Lehrenden, für die zu Beginn der Pandemie die Umstellung der Lehre auf den Digitalbetrieb sehr viel Mehrarbeit bedeutete, als auch der Studierenden, von denen sich viele insbesondere zu Beginn der Pandemie mit finanziellen Unsicherheiten konfrontiert sahen. Aber Bildung besteht nicht nur darin, erfolgreich Abschlüsse zu generieren. Es geht auch um das gemeinsame Diskutieren, um soziales Lernen. Und das fällt tatsächlich nun im Nachgang der Pandemie schwer.

Die Atmosphäre in den Seminarräumen ist angespannt und zeugt von Unsicherheit. Gehemmte Diskussionsbereitschaft, Fremdeln und Frustration zeigen, wie stark die Nachwirkungen einer Pandemie nun wirklich sind. Die psychosoziale Belastung ist hoch und die Hochschulen müssen dieser mit Angeboten und einem Ernstnehmen der Situation Rechnung tragen. Gerade weil die Rückkehr zum Präsenzunterricht so unerlässlich und wichtig ist, stellte sich besonders zum Beginn des Wintersemesters die Frage, wie man sie gestaltet. Insbesondere zu Beginn der Pandemie wurden die Mitbestimmungsrechte der akademischen Gremien häufig übergangen, Studierende als größte Statusgruppe selten in den Prozess der Meinungsbildung und der Umsetzung der Maßnahmen einbezogen. Und weiterhin herrscht Unsicherheit über die Rückkehr an die Hochschulen, auch in der Ausgestaltung der Hygienemaßnahmen.

Wildwuchs bei Hygienevorschriften und 3G-Regel
Viele Fragen waren bis zum Beginn des Wintersemesters ungeklärt und immer noch herrscht große Skepsis. Wie schaffen wir es, trotz Präsenz die Fallzahlen niedrig zu halten? Wer kontrolliert am Campus? Wie steht es um ausländische Studierende? Wird ihr Impfnachweis anerkannt?
In Hessen herrscht ein ziemlicher Wildwuchs im Umgang mit der Pandemie. Jede Hochschule kann eigene Regelungen treffen. An meiner Hochschule, der Goethe-Universität, gilt wie an allen Hochschulen außer der Technischen Hochschule Mittelhessen die 3G-Regelung. Die Kontrolle erfolgt durch Mitarbeitende externer Dienstleistungsunternehmen, d.h. in der Regel schlecht bezahlte, uniformierte Sicherheitskräfte. Die Justus-Liebig-Universität lässt die Einhaltung von 3G durch die Lehrenden kontrollieren, eine günstigere und vielleicht weniger einschüchternde Variante, aber mit einer zusätzlichen Belastung der Beschäftigten. Mancherorts werden Selbsttests akzeptiert, die von den Hochschulen gestellt werden. Ein für ihre Mitglieder kostenfreies Testzentrum betreibt die Technische Universität Darmstadt. Zweifelsohne steht außer Frage, dass Hygieneregeln unter den Pandemiebedingungen erforderlich sind. Unterstützt werden könnte dies durch kostenlose medizinische Schutzmasken und kostenlose Corona-Tests für Beschäftigte und Studierende, solange diese Maßnahmen erforderlich sind.

Die Hochschulleitungen haben unisono die erfolgreiche Rückkehr zum Präsenzbetrieb verkündet, doch erreichen uns Rückmeldungen, dass die Maßnahmen nicht adäquat umgesetzt werden, über Unsicherheiten auf allen Seiten und den Ausschluss vulnerabler Gruppen. Es ist wichtig, dass sich Hochschulen weiter an Impfkampagnen beteiligen und Studierenden und Beschäftigten Impfangebote machen. Aus Rücksicht auf vulnerable Personen und auf Personen, die nicht geimpft werden können, muss es für Lehrveranstaltungen auch hybride Formate geben. Dafür braucht es deutlich mehr technisches Personal. Für die Finanzierung dieser Maßnahmen muss das Land aufkommen. Stichprobenartige Kontrollen können eine praktikable Lösung sein, allerdings ist es datenschutzrechtlich bedenklich, wenn Nachweise in Studienausweisen oder durch Markierungen vermerkt werden.

Zweifellos bietet der Umgang mit der Pandemie auch Chancen für die Hochschulen. War es noch zeitgemäß, wie wir lernten? Ist es nicht symptomatisch, dass die Hochschulen erst so spät wieder in den Fokus der Politik gerieten? Das zieht natürlich auch Fragen der Prioritätensetzung, von Rahmenbedingungen und Finanzierung nach sich. So muss hinterfragt werden, ob Gruppen- und Seminargrößen angepasst und  Lehrangebote und Prüfungen an sich auf den Prüfstand gestellt werden müssen. Auch bei den vielfach prekären Beschäftigungsbedingungen an Hochschulen darf es kein „Weiter so!“ geben. Auch die baulichen Voraussetzungen sollten überdacht werden. Ist die große Massenvorlesung ein Auslaufmodell? Alle reden in diesem Zuge von „Blended Learning“, wo Lernphasen digitalisiert und Präsenz primär für Interaktion und Zusammenarbeit genutzt werden sollen.

Sicherlich ist es richtig, dass das Studium mehr nach unseren Lebensrealitäten im Spannungsverhältnis zwischen Job, Familie und Freizeit und nach den individuellen Anforderungen des Lernen strukturiert werden sollte. Aber nach den Erfahrungen mit den bisherigen Reformprozessen steckt auch in der Digitalisierung die Gefahr von Sparmaßnahmen. Was wir an positiven Errungenschaften und Erfahrungen im digitalen Bereich gesammelt haben, muss als didaktisches Zusatzangebot zur Präsenzlehre sinnvoll in den akademischen Kontext überführt werden und darf nicht zu einer Aushöhlung der Hochschule als sozialem Lernort führen, den wir in der Pandemie schmerzlich vermissten.

Nathalie Schäfer in Zusammenarbeit mit Tobias Cepok und Cecilia Schweitzer

Bild: Nathan Dumlao, www.unsplash.com