Lehrkräftemangel in Hessen

HLZ 1/2020: Lehrkräftemangel in Hessen

Den Begriff „Lehrermangel“ nahm der hessische Kultusminister Lorz auch in seiner Eigenschaft als Präsident der Kultusministerkonferenz (KMK) nur ungern in den Mund. Die Situation sei von „Region zu Region unterschiedlich, von Schulform zu Schulform und letzten Endes auch von Unterrichtsfach zu Unterrichtsfach“ (hr-iNFO, 11.11.2019). Dabei liegen die Zahlen schon lange auf dem Tisch und alle Aktualisierungen weisen kaum auf eine Entspannung hin.

Die umfassendste Untersuchung der letzten Zeit für Hessen liegt in Form einer „Prognose der Schülerzahl und des Lehrkräftebedarfs an allgemeinbildenden Schulen in Hessen bis 2030“ vor, die im Auftrag der Fraktion Die Linke vom Forschungsinstitut für Bildungs- und Sozialökonomie (FIBS) erstellt und im August 2018 vorgestellt wurde (1). Insbesondere für die Jahre ab 2022 prognostiziert die FIBS-Studie deutlich höhere Schülerzahlen als die KMK. Ab 2027 liegen sie um mindestens 5 Prozent höher als die Prognose der KMK aus dem Jahr 2018.

Zu ähnlichen Ergebnisse kam eine Studie der Bildungsforscher Klaus Klemm und Dirk Zorn, die im Sommer 2019 für Schlagzeilen sorgte (2). Danach zeigt eine Schülerzahlenprognose auf der Basis der aktuellen Bevölkerungsvorausschätzung des Statistischen Bundesamts, dass die Zahl der Grundschulkinder bis 2025 auf rund 3,2 Millionen steigt und damit ebenfalls um rund 5 Prozent über den Prognosen der KMK liegt. Kai Eicker-Wolf hat die Zahlen für Hessen berechnet und in der HLZ 11/2019 publiziert: Danach steigt der Bedarf an zusätzlich benötigten Grundschullehrkräften gegenüber den bisherigen Prognosen der KMK im Jahr 2022 von 610 (KMK) auf 1.451 und im Jahr 2023 von 877 (KMK) von 1.307 (3). Erst ab 2028 rechnen Zorn und Klemm wieder mit leicht zurückgehenden Schülerzahlen an Grundschulen.

Ante portas: Mangel in der Sekundarstufe I

In allen Schlagzeilen geht es derzeit vorrangig um den Lehrkräftemangel an den Grundschulen. Dabei ist es eine Binsenweisheit, dass dieselben Schülerinnen und Schüler nach der Grundschule an weiterführenden Schulen unterrichtet werden und dass der Mangel an Grundschullehrkräften von heute der Mangel an Lehrkräften in der Sekundarstufe I von morgen ist. Die Autorinnen und Autoren der FIBS-Studie kommen deshalb zu der folgenden Bilanz:

„Die steigenden Schülerzahlen führen zu einem steigenden Lehrkräftebedarf: Statt 50.435 wie noch im Jahr 2016/17 werden im Jahr 2030 57.250 Lehrerinnen und Lehrer benötigt.“ (S.46)
Alle Zahlen beziehen sich ausschließlich auf die derzeit geltenden Parameter zur personellen Ausstattung der Schulen. Dringend erforderliche zusätzliche Stellen zur Verkleinerung der Lerngruppen, zur Reduzierung der Arbeitszeit der Lehrkräfte und zur Bewältigung der zusätzlichen Aufgaben in den Bereichen Inklusion und Ganztag sind hier noch nicht berücksichtigt!

Die Zahl der Ersatzeinstellungen ist nach der FIBS-Studie in den nächsten Jahren leicht rückläufig, da sich die Kollegien in den letzten Jahren verjüngt haben, und zwar vor allem aufgrund eines besorgniserregenden Anstiegs der Zahl der Frühpensionierungen.

Den „Rekrutierungsbedarf“ beziffert die FIBS-Studie für die Zeit bis 2030 auf 21.000 bis 26.000 Personen, d.h. auf mindestens 2.000 Personen pro Jahr:

„Betrachtet man die in der vorliegenden Studie dargestellten Zusammenhänge zwischen Studienabschluss, Eintritt in den Vorbereitungsdienst, Abschluss desselben und Eintritt in den Schuldienst, dann ist die Zahl der dafür erforderlichen Studienanfängerinnen und Studienanfänger beträchtlich größer.“ (S.46)

Dabei müsse man auch die Quote der Studierenden in den Blick nehmen, die das Lehramtsstudium abbrechen und das erste Staatsexamen nicht bestehen (4), ebenso die Übergangsquoten in den Vorbereitungsdienst und die Erfolgsquoten im zweiten Staatexamen (HLZ S. 16f.). Hessen könne außerdem aufgrund der Bedarfssituation und der Bemühungen um die Gewinnung zusätzlicher Bewerberinnen und Bewerber in allen Bundesländern nicht mehr damit rechnen, eine nennenswerte Anzahl von jungen Menschen für den Vorbereitungsdienst oder eine Einstellung in Hessen abwerben zu können.

Numerus Clausus an den Hochschulen

Ein wesentliches Hindernis für eine Erhöhung der Zahl der Lehramtsstudierenden ist weiterhin die unzureichende Zahl von Studienplätzen, die mit einem hohen Numerus Clausus (NC) verwaltet werden. So kamen im Wintersemester 2018/19 an der Goethe-Universität Frankfurt auf 240 Studienplätze für das Lehramt an Grundschulen 2.007 Bewerbungen (einschließlich Mehrfachbewerbungen). Die Wirkung des NC von 2,3 an der Goethe-Universität und von 2,4 an der Liebig-Universität Gießen beschreibt Isabell Bebber, eine ausgebildete Innenarchitektin aus Frankfurt, die seit längerer Zeit bereits als Quereinsteigerin an einer Grundschule unterrichtet:

„Ich bin gewillt, ein langes Studium auf mich zu nehmen, will nichts geschenkt haben, sondern in Zukunft einfach nur als Grundschullehrerin arbeiten. Trotz meiner gesammelten Berufserfahrung (…) habe ich nun zum zweiten Mal eine Absage von der Uni Frankfurt erhalten.“ (Leserbrief in der Frankfurter Rundschau vom 30.9.2019)

Die soziale Dimension des Lehrkräftemangels

Bei dem zu erwartenden Anstieg der Schülerzahlen in der Sekundarstufe I ist allerdings nicht zu übersehen, dass die Schulen mit dem Bildungsgang Haupt- oder Realschule den schwereren Part haben. Der Anteil der jungen Menschen, die sich beim Studium für das Lehramt an Gymnasien entscheiden, ist in den letzten zehn Jahren von einem Viertel auf die Hälfte angestiegen. Dasselbe gilt für den Vorbereitungsdienst: Während im Bereich des Grundschullehramts nicht einmal alle Stellen besetzt werden können, gibt es beim Lehramt für Gymnasien weiterhin lange Wartezeiten. Sicher ist die bessere Besoldung ein Motiv, aber entscheidend ist wohl die bewusste Entscheidung für die Schulform, die – trotz der deutlich gestiegenen Abiturquote – noch immer eine soziale Auslese vornimmt und erwarten lässt, dass man es mit den „einfacheren“ Schülerinnen und Schülern zu tun bekommt und soziale Brennpunkte umschiffen kann.

Die veränderten Rahmenbedingungen haben inzwischen dazu geführt, dass sich ausgebildete Lehrerinnen und Lehrer die Schule und den Schulbezirk aussuchen können. Lehrkräfte mit dem Lehramt für Gymnasien können das Einstellungsangebot einer Integrierten Gesamtschule wieder ablehnen – Überzeugungstäterinnen und Überzeugungstäter ausgenommen. Und deshalb ist es auch kein Wunder, dass gerade die Grundschulen im sozialen Brennpunkt den höchsten Anteil von Lehrkräften ohne Lehramt haben. Bildungsforscher Klaus Klemm kommt zu dem Ergebnis, dass der Lehrermangel „die soziale Schieflage an den Grundschulen weiter verstärken wird“: „Hochqualifizierte Lehrkräfte bewerben sich lieber an Schulen in einem gut situiertem Umfeld statt an Brennpunktschulen, obwohl sie dort dringend benötigt werden, um die schwachen Schüler zu fördern. Umgekehrt unterrichten an Problemschulen schon jetzt überproportional viele Seiteneinsteiger, die keine grundständige pädagogische Ausbildung haben.“ (Interview in der Frankfurter Rundschau vom 10.9.2019)

Dieser allgemeine Befund kann auch für Hessen bestätigt werden. Eine Antwort der Landesregierung auf eine Anfrage der SPD-Landtagsfraktion zeigt, dass der Anteil der Quereinsteigerinnen und Quereinsteiger an hessischen Grundschulen höchst unterschiedlich verteilt ist: Stadt und Landkreis Offenbach, die Stadt Frankfurt und der Kreis Groß-Gerau sind nicht nur die Regionen mit dem höchsten Anteil an Quereinsteigern, sondern eben auch – wie auf der Karte ersichtlich - die Regionen mit dem höchsten Anteil von Kindern mit nichtdeutscher Familiensprache und aus Familien mit Hilfe zum Lebensunterhalt (SGBII) (5).

Lehrkräftebedarf in Hessen 2017 bis 2030

Schulform

2017

2023

2030

Vorklassen

393

396

330

Grundschulen

15.312

17.141

17.767

IGS

5.572

5.581

6.339

Freie Waldorfschulen

490

505

552

Förderschulen

6.126

5.602

5.218

Förderstufen, Haupt- und Realschulen, Mittelschulen

7.779

7.829

8.806

Gymnasien

15.800

15.901

18.144

Intensivklassen

89

90

97

Summe

51.561

53.045

57.253

Dieter Dohmen/Maren Thomsen (2018): Prognose der Schülerzahlen... a.a.O. S.57

 

Abschlüsse in den Lehramtsstudiengängen an hessischen Universitäten

Vorbereitungsdienst Einstellungstermin: 1.11.2019

Lehramt

2007

%

2017

Bewerber

Stellen

Zusagen

Grundschule

471

28,8

341

12,5

279

330

279

Haupt- und Realschule

320

19,5

625

23,0

284

250

280

Förderschule

194

11,8

196

7,2

129

130

129

Gymnasien

445

27,2

1.407

51,8

1.118

480

518

Berufliche Schulen

207

12,6

149

5,5

37

110

37

Roman George, HLZ 5/2019

Hessisches Kultusministerium: Einstellungsbericht zum 1.11.2019

Lehrkräfte an Grundschulen mit Lehramt (Stand: 10/2017)

Marburg-Biedenkopf

92,6 %

Main-Kinzig-Kreis

87,1 %

Lahn-Dill

Limburg-Weilburg

92,1 %

Darmstadt

Darmstadt-Dieburg

85,7 %

Hersfeld-Rotenburg

Werra-Meißner-Kreis

90,5 %

LK Bergstraße

Odenwaldkreis

85,4 %

Hochtaunus

Wetterau

89,8 %

Rheingau-Taunus

Wiesbaden

83,8 %

Gießen/Vogelsberg

89,5 %

Frankfurt

82,2 %

Fulda

89,1 %

Offenbach-Stadt

Offenbach-Land

80,4 %

Schwalm-Eder

Waldeck-Frankenberg

88,7 %

Kreis Groß-Gerau

Main-Taunus-Kreis

79,0 %

(1) Dieter Dohmen/Maren Thomsen (2018): Prognose der Schülerzahl und des Lehrkräftebedarfs an allgemeinbildenden Schulen in den Ländern bis 2030, Frankfurt am Main
(2) Klaus Klemm/Dirk Zorn (2019): Steigende Schülerzahlen im Primarbereich.
(3) Kai Eicker-Wolf: Lehrkräftemangel an Grundschulen, in: HLZ 11/2019, S.9
(4) Roman George: Lehramtsstudium – Erfolg und Misserfolg, in: HLZ 5/2019, S.26f.
(5) Horst Weishaupt: Kinderarmut und Migration. Personalausstattung der Schulen und schulische Lernbedingungen, in: HLZ 3/2018, S.24f.