Leanas Traum

Akrobatiktheater für eine Kultur des Willkommens

HLZ 12/2015: Flüchtlinge

Angesichts von hunderttausenden Flüchtlingen, die bei uns Schutz und eine Lebensperspektive suchen, ist es eine der wichtigsten zivilgesellschaftlichen, gewerkschaftlichen und pädagogischen Aufgaben, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Hass und Gewalt entgegenzutreten und eine Kultur des Willkommens zu entwickeln. Mit dem Bühnenprogramm „Leanas Traum“ stellen wir ein Beispiel vor, wie dies insbesondere im Grundschul- und Förderstufenbereich möglich ist.

Die Geschichte einer Freundschaft

„Leanas Traum“ erzählt die Geschichte von Prinzessin Leana und ihrer Freundin, dem Zirkusmädchen Magica. Obwohl Magica durch ihre unglaublichen artistischen Fähigkeiten die Gabe hat, den Menschen Staunen und Freude zu schenken, sind sie und der mit ihr reisende Zirkus immer wieder fremdenfeindlichen Vorurteilen und Drohungen ausgesetzt. Deshalb muss der Zirkus auch über Nacht aus der Königsstadt fliehen. Als Leana am nächsten Tag ihre Freundin besuchen will, ist der Zirkus spurlos verschwunden. Leana ist verzweifelt. Zusammen mit Minister Pedanto begibt sie sich auf die Suche nach Magica und begegnet dabei einer bunten und aufregenden Welt mit Akrobaten, Clowns, Zauberern, Tänzern und Musikern. Endlich findet Leana das Zirkusmädchen Magica wieder und erfährt, warum der Zirkus aus der Königsstadt fliehen musste. Leana, die auf ihrer Reise gelernt hat, dass erst Vielfalt die Welt schön macht, ist tief betroffen. Entschlossen verkündet sie ihren Traum: „Alle sind willkommen!“

Das Programm wurde im Schuljahr 2014/15 mit rund 100 Kindern der Grundschule II Stadtallendorf aus den Arbeitsgemeinschaften Akrobatik, Musik, Clownerie, Zaubern, Tanz und Kunst und dem Schulchor erarbeitet und im Juni 2015 vor 1.400 Zuschauerinnen und Zuschauern gezeigt. Den akrobatischen Part übernahmen die Kinder des Zirkusprojekts „Traumfänger“. Die „Traumfänger“, die mit ihren Auftritten bereits mehr als 50.000 Zuschauer begeistert haben, sind gegenwärtig mit rund 900.000 Aufrufen Deutschlands erfolgreichste Akrobatikgruppe beim Internetkanal Youtube.

Ein Projekt der Grundschule II in Stadtallendorf

Die Grundschule II Stadtallendorf ist eine Schule in einem sozialen Brennpunkt mit einem Zuwandereranteil von 90 Prozent. Rund 40 Kinder aus Flüchtlingsfamilien besuchen die Schule. Ein respektvolles Zusammenleben ist keineswegs selbstverständlich, da natürlich fremdenfeindliche Vorurteile in die Schule hineinwirken und das Denken und Verhalten vieler Kinder beeinflussen. Kinder aus Flüchtlingsfamilien und besonders Roma und Sinti können sehr schnell zum Opfer von Ablehnung, Ausgrenzung und Mobbing werden. Insofern sind die Auseinandersetzung mit fremdenfeindlichen Vorurteilen und die Entwicklung einer Schulkultur, in der jedes Kind sich respektiert und angenommen fühlen kann, eine ständige Aufgabe. Dabei war das Bühnenprogramm „Leanas Traum“ eine große Hilfe, weil seine Erarbeitung mit vielen Gesprächen über dessen Inhalte und zentrale Aussagen verbunden war und immer wieder der Bezug zu aktuellen Fragen und Konflikten deutlich wurde.
Inzwischen haben wir ein Video von „Leanas Traum“ bei Youtube eingestellt.

Dieses Video, in dem die Vorstellung unter vollständiger Erhaltung der Geschichte in 30 Minuten zusammengefasst wird, kann unter „Akrobatik Traumfänger – Leanas Traum (3)“ aufgerufen werden. Mit dem Video bieten wir ein Unterrichtsmaterial an, das als Einstieg in das Thema Fremdenfeindlichkeit versus Kultur des Willkommens oder auch zur Erweiterung und Vertiefung dienen kann. Nach unseren bisherigen Erfahrungen und entsprechenden Rückmeldungen lohnt sich ein Einsatz im Unterricht in vielfacher Hinsicht. Die Geschichte zweier Mädchen unterschiedlicher Herkunft und Lebensumstände, deren Freundschaft Vorurteile und Fremdenfeindlichkeit überwindet, berührt die Kinder auch emotional und schafft so ein offenes und aufgeschlossenes Gesprächsklima. In der Figur der Leana wird deutlich, dass sich die Vielfalt, der kulturelle Reichtum und die Schönheit der Welt nur Menschen erschließen, die ihr wissbegierig, respektvoll und offen gegenübertreten. Besonders das Zirkusmädchen Magica fasziniert die Kinder und steht gleichzeitig dafür, dass Menschen, die zu uns kommen, keine Last darstellen, sondern mit ihren vielfältigen Fähigkeiten unser Leben und unsere Gesellschaft bereichern können.

Dieser Bericht und das Video sollen auch zu eigenen Projekten zum Thema Willkommenskultur ermuntern, wobei gerne die Geschichte zu Leanas Traum genutzt werden kann. Dabei geht es jenseits aller Perfektionsansprüche um pädagogische Projekte, die neben den inhaltlichen Aspekten auch die Entwicklung von Selbstbewusstsein, Fantasie, Kreativität, Empathie, Kommunikations- und Kooperationsfähigkeit beinhalten. Auch dies sind Bausteine einer Willkommenskultur: Wer gelernt hat, sich selbst zu achten, muss nicht auf andere Menschen aufgrund ihrer Herkunft oder Hautfarbe herabsehen.

Aus der Geschichte des Zirkus kann man lernen

„Leanas Traum“ wurde mit Blick auf die Grundschule entwickelt. Die Geschichte des Zirkus bietet jedoch auch für den Unterricht in weiterführenden Schulen vielfältige Möglichkeiten, sich vertieft mit den Themen Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Entrechtung auseinanderzusetzen. Dazu einige Beispiele, die nicht nur schulische Projektarbeit, sondern auch eine wissenschaftliche Aufarbeitung lohnen würden:

Im nationalsozialistischen Deutschland stand der universal ausgerichtete, multikulturelle Zirkus im Gegensatz zur Ideologie des arischen Herrenmenschen. Deswegen wurden vor allem Juden, Sinti und Roma ihrer Arbeit beraubt. An die Stelle des „verjudeten Zirkus“ sollte der „deutsche Zirkus“ treten, in dem „arische“ Artisten die Überlegenheit ihrer Rasse demonstrieren. Selbst in den letzten Kriegsjahren hat diese Art Zirkus noch Millionen Menschen in Deutschland erreicht, um inmitten von Terror und Tod Normalität vorzugaukeln und den Glauben an den „Endsieg“ aufrechtzuerhalten. Die entrechteten und verfolgten Artisten wurden, soweit sie überlebt haben, übrigens niemals rehabilitiert oder entschädigt.

Ein zweites, besonders in der Zeit zwischen 1870 und 1930 verbreitetes Beispiel ist die Zurschaustellung von schwarzen, verkrüppelten, kleinwüchsigen oder irgendwie anders aussehenden Menschen in Zoos, auf Jahrmärkten, im Zirkus und in Varietees. Diese auch „Völkerschau“ genannte Entwürdigung sollte nicht nur die Sensationslust bedienen, sondern auch die Überlegenheit der „weißen Rasse“ und die Minderwertigkeit anderer „Rassen“ demonstrieren und so Nationalismus und Kolonialismus rechtfertigen. Zugleich illustrierte und beförderte diese Zurschaustellung den grassierenden Rassismus und Sozialdarwinismus und fand ihre logische Konsequenz in der „Rassenhygiene“ und der Vernichtung „lebensunwerten Lebens“.

Im Mittelalter waren reisende Akrobaten, Gaukler und Musikanten vielfach der einzige Zugang des Volkes zur Kultur. Diese Artisten wurden bestaunt und bewundert und waren zugleich die Opfer von Vorurteilen und Fremdenfeindlichkeit. Gerade die Vertreter der katholischen Kirche unterstellten Akrobaten oder Zauberern immer wieder, sie seien mit dem Teufel im Bunde. Ein solcher Vorwurf konnte zu Zeiten der Hexen- und Ketzerverbrennungen Anlass zu „hochnotpeinlichen Befragungen“, also zu Verhören unter Folter und damit letztlich für ein Todesurteil sein.

Die Geschichte der reisenden Artisten des Mittelalters sollte ursprünglich der Inhalt von „Leanas Traum“ sein. Als im Mittelmeer massenhaft Flüchtlinge ertranken und in Deutschland die ersten Flüchtlingsunterkünfte brannten, entschieden wir uns dafür, die Geschichte nicht einer zurückliegenden Epoche zuzuordnen. Denn tatsächlich ist sie aktueller denn je.

Kollege Gerhard Bitterwolf ist Lehrer an der Grundschule II Stadtallendorf und Leiter des Zirkus- und Akrobatikprojekts „Traumfänger“.