Junge Flüchtlinge

Herausforderungen und Chancen für die Schule

HLZ 12/2015: Flüchtlinge

2015 ist das Jahr des größten Zustroms von Flüchtlingen seit Jahrzehnten. Angela Merkel sprach in ihrer Regierungserklärung am 24. September von global 60 Millionen Menschen aus Krisengebieten, die sich auf der Flucht vor Krieg, Bedrohung und Tod befinden. Die wachsende Zahl dieser Flüchtlinge stellt Europa vor eine der größten Herausforderungen seit Bestehen der Europäischen Union und wird den Kontinent mit Sicherheit nachhaltig beeinflussen. Von Anfang Januar bis Ende September diesen Jahres suchten nach Angaben des Sozialministeriums in Hessen 42.474 Menschen Schutz und Zuflucht (Information der Pressestelle vom 28.10.2015).

Die Aufnahme von Flüchtlingen ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, doch besonders konfrontiert mit der neuen Situation sind die Lehrkräfte: Zum Start des neuen Schuljahres hat Hessen insgesamt 399 sogenannte Intensivklassen eingerichtet, in denen Flüchtlingskinder vor allem erst einmal Deutsch lernen sollen. Die in diesen Klassen eingesetzten Lehrkräfte – die meisten ohne entsprechende Zusatzausbildung – sehen sich unvermittelt mit Schülerinnen und Schülern betraut, mit denen die Kommunikation aufgrund der fehlenden Deutschkenntnisse noch schwierig ist, denen aufgrund ihrer Herkunft demokratische Partizipation fremd ist und die sich in einer aktuell schwierigen Lebenssituation befinden. Flüchtlingskinder sind aus ihren gewohnten Strukturen herausgerissen, sind mitunter durch grausame Erfahrungen auf der Flucht oder im Heimatland traumatisiert und leben nun in Containern, Zelten oder in einer Turnhalle auf engstem Raum mit Menschen unterschiedlicher Kultur zusammen. Die Frustration über ihre Lebensumstände entlädt sich nicht selten in Gewalt innerhalb der Flüchtlingsunterkunft oder Flüchtlinge erleben Gewalt und Anfeindungen von feindlich gesinnten Bürgern. Diese Gewalterfahrungen werden Spuren hinterlassen.

Mehr als Sprachunterricht

„Unterricht mit Flüchtlingen unterscheidet sich in großem Maße vom dem uns gewohnten“, erklärt Ludger Kaul, Lehrer für Politik und Wirtschaft an der Landrat-Gruber-Schule (LGS) in Dieburg. Er lehrt schon seit mehreren Jahren in Flüchtlingsklassen; seit diesem Jahr ist seine Schule eine der zwölf Schwerpunktschulen mit dem erweiterten hessischen Sprachförderkonzept „Integration und Abschluss“ (InteA) in beruflichen Schulen. Das Konzept wurde gemeinsam vom Hessischen Kultusministerium (HKM) und dem Hessischen Ministerium für Soziales und Integration als Förderkonzept für die künftige Beschulung von Seiteneinsteigern ohne Deutschkenntnisse erarbeitet, denn das Beherrschen der deutschen Sprache hält auch Kultusminister Prof. Dr. R. Alexander Lorz für den Schlüssel zum Schulerfolg und zur Teilhabe an der Gesellschaft.

Eine Facultas für Lehren von Deutsch als Fremdsprache ist nicht an jeder Schule vorhanden. Das Land Hessen hat daher auf den Bedarf an Qualifizierung im Bereich Sprachunterricht reagiert und einen „Weiterbildungskurs für das Unterrichtsfach Deutsch als Fremd- oder Zweitsprache (DaF/DaZ)“ für 120 hessische Lehrkräfte ins Leben gerufen. Dieser war allerdings bei den Lehrkräften so gefragt, dass mehr als jeder zweite Interessierte eine Absage auf seine Bewerbung bekam. Lehrkräfte wünschen sich demnach dringend Fortbildungen für das Unterrichten der neuen Schülerinnen und Schülern aus den Krisengebieten. Für 2016 sind von Seiten des Kultusministeriums daher weitere DaF-/DaZ-Weiterbildungsangebote vorgesehen. Doch der Fortbildungsbedarf betrifft längst nicht nur die rein fachlich zu erwerbenden Qualifikationen in der Sprachvermittlung. Nötige soziale Kompetenzen der Lehrenden im Umgang mit Flüchtlingen sind ebenfalls von großer Bedeutung, z.B. der Umgang mit Traumatisierung, konstruktive Konfliktbearbeitung und der sensible Umgang mit religiöser und kultureller Heterogenität. Diese Hürden dürfen nicht ausgeblendet werden. „Es geht nicht nur darum, den Flüchtlingen Deutsch beibringen zu wollen“, erklärt Lehrer Kaul, es gehe „um Menschen, die aus einem anderen Umfeld kommen und andere Erfahrungen mitbringen“. Wichtig sei daher die Bereitschaft, „in Beziehung zu gehen“ und mehr als nur Sprache – nämlich Kultur und Werte – vermitteln zu können.

Gewaltprävention und Demokratielernen

Hier stehen Schulen vor einer großen Aufgabe. Sie brauchen eine durchdachte Strategie. Gerade Gewaltprävention und Demokratielernen sind wichtig, um Integration überhaupt gelingen zu lassen. Lehrkräfte benötigen in diesem Bereich Kompetenzen, um mit den Herausforderungen und Schwierigkeiten umgehen zu können. Die Schule wird in Zukunft noch viel stärker mit dem Thema Flüchtlinge konfrontiert werden und muss unter anderem die folgenden Herausforderungen bewältigen:

Spracherwerb: Die erste Aufgabe ist es, Flüchtlingskindern Deutsch zu vermitteln, damit sie zukünftig am Regelunterricht teilnehmen können. Dies kann ohne zusätzliche Mittel nicht realisiert werden.
Umgang mit Traumatisierungen: Schulen müssen verstärkt mit Expertinnen und Experten für Traumatherapie zusammenarbeiten. Hier müssen Kontakte aufgebaut werden, um diese Expertise den Schulen zugänglich zu machen. Lehrerinnen und Lehrer brauchen Fortbildung für den Umgang mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen, die in der Regel nicht nach ihren Erfahrungen befragt werden sollten, da dies die Gefahr von Re-Traumatisierungen in sich birgt.

Wertevermittlung und Demokratielernen: Geflüchtete kommen zumeist aus Ländern ohne demokratische Strukturen. Gewalt und Menschenrechtsverletzungen sind an der Tagesordnung und jeder Krieg geht mit Verrohung einher. Es gibt keine funktionierenden Zivilgesellschaften, humane Werte werden mit Füßen getreten. Deshalb stehen auch Schulen vor der Aufgabe, die Kinder und Jugendlichen mit Kinderrechten und Menschenrechten sowie zentralen Werten unseres Grundgesetzes vertraut zu machen und diese Werte in der Klasse aktiv zu leben. Ganz praktisch kann dies durch einen Klassenrat erfahren werden. Es bedeutet auch, dass sich Lehrkräfte sehr klar im Sinne der Menschen- und Kinderrechte positionieren und menschenverachtenden Haltungen und Aussagen von Jugendlichen klar entgegentreten müssen. Aktuell haben wir es mit zwei Bedrohungen zu tun: Rechtsextreme und Rechtspopulisten (Pegida) begegnen den Fremden mit Gewalt und Hass und extremistische Salafisten machen vor den Unterkünften Werbung für ihre Sache.
Konstruktiver Umgang mit Konflikten und Mediation: Das Aufeinandertreffen von Kindern und Jugendlichen aus ganz unterschiedlichen Ländern und Kulturen wird zwangsläufig mit Konflikten einhergehen, nicht nur zwischen „Neuen“ und „Alten“, sondern auch unter den „Neuen“, wie die Konflikte in den Flüchtlingsunterkünften bereits jetzt zeigen. Eine wichtige Aufgabe für die Lehrkräfte wird es sein, präventive Maßnahmen zu ergreifen, um Gewalt möglichst zu vermeiden und Konflikte mit mediativen Mitteln zu lösen. Dies setzt voraus, dass Lehrkräfte ein Mindestmaß an Methoden konstruktiver Konfliktbearbeitung kennen und anwenden können. Fortbildungen zur Mediation sind hier hilfreich.

Interkulturelles Lernen: Das Zusammentreffen von Kindern und Jugendlichen aus unterschiedlichen Kulturen bietet Chancen voneinander zu lernen und ist eine Bereicherung. Um interkulturelles Lernen zu ermöglichen, müssen entsprechende Lernräume bereitgestellt und Prozesse initiiert werden. Es gilt aber auch hier der Grundsatz, traumatisierte Kinder und Jugendliche in einer Form einzubeziehen, die sie nicht einer Re-Traumatisierung aussetzt. Lehrkräfte sollten sich Kenntnisse und Methoden über die Initiierung von interkulturellen Dialogen aneignen (1).

Die Herausforderungen stellen sich an jeder Schule anders. Aber alle Schulen müssen sich so vorbereiten, dass die gesamte Schulgemeinde in einen Diskurs über die neuen Aufgaben eintritt und die einzelne Lehrkraft mit den entstehenden Aufgaben nicht allein gelassen wird. Auch ist eine vorausschauende Haltung sinnvoll, um zu überlegen, wie eine Schule in Bezug auf zukünftige Flüchtlingsklassen und die Integration von Flüchtlingskindern und –jugendlichen reagieren kann.

Eine weitere Möglichkeit besteht darin, das Prinzip des Peer-Lernens zu nutzen. Kinder und Jugendliche können in einem begrenzten Rahmen Flüchtlingskinder beim Lernen unterstützen. So unterstützt eine Oberstufenklasse in Heidenau (Sachsen) Flüchtlingskinder beim Spracherwerb.

Eine weitere wichtige Rolle kommt dem Engagementlernen (Service Learning) zu. Hierbei handelt es sich um fest im Stundenplan integrierte Stunden, die Teil des schulischen Lernens sind. In diesem Rahmen können Schülerinnen und Schüler Flüchtlingen bei der Integration helfen. Das reicht von der Sprachvermittlung über gemeinsame Sportveranstaltungen und die Unterstützung bei Ämtergängen bis hin zu gemeinsamen Festen und weiteren Aktivitäten wie Kochen oder Ausflügen. Hierfür gibt es auch in Hessen schon viele gute Beispiele.

Nikola Poitzmann und Helmolt Rademacher

Helmolt Rademacher leitet das Projekt „Gewaltprävention und Demokratielernen“ (GuD) des Hessischen Kultusministeriums (www.gud.bildung.hessen.de), Nikola Poitzmann ist GuD-Landeskoordinatorin für Südhessen. GuD startet Anfang 2016 ein Pilotprojekt für Schulen, die sich intensiver mit den Herausforderungen durch die Flüchtlinge beschäftigen wollen.

(1) vgl. beispielsweise: Helmolt Rademacher und Maria Wilhelm: Miteinander. Über 90 interkulturelle Spiele, Übungen und Projektvorschläge für die Klassen 5-10. Berlin 2016

Die Schülervertretung (SV) der Edith-Stein-Schule in Darmstadt organisierte Mitte Oktober 2015 einen Ausflug von Schülerinnen und Schülern der Schule mit 15 jugendlichen Flüchtlingen aus Syrien, Eritrea, Äthiopien, Libanon und Libyen, die in Darmstadt leben, zum Ligaspiel der Frankfurt Skyliners. Unterstützung gab es von der Firma Evonik, der Lions-Jugendorganisation und dem Sozialkritischen Arbeitskreis Darmstadt.

Für die Fahrt nach Frankfurt bildeten die jungen Leute „Kultur-Tandems“, die miteinander ins Gespräch kamen und das Spiel genießen konnten. Lars fand den Austausch „sehr bereichernd“ und ist sich sicher, „dass aus diesem Abend einige interkulturelle Freundschaften entstehen werden“. Dass Paul mit seinem Partner Nesredin nur schwer ins Gespräch kam, lag nicht nur an dessen geringen Deutschkenntnissen, sondern vor allem an der Lautstärke beim Spiel: „So konnten wir beide das Spiel in vollen Zügen genießen.“ Und auch seiner Sympathie für Nesredin tat dies keinen Abbruch: „An der unbeschreiblichen Lebensfreude, die Nesredin trotz seines langen Weges aus Eritrea ausstrahlte, kann man sich nur ein Beispiel nehmen.“ Dass es sich bei dem Ausflug nicht um eine einmalige Aktion handelt, dafür sorgt der Ideenpool der AG „Vielfalt als Selbstverständlichkeit“ der Edith-Stein-Schule. Auf dem Programm stehen gemeinsames Kochen, Museums- und Kinobesuche, ein Projekttag und die Zusammenarbeit mit dem „Spielmobil“, das die Wohnheime für unbegleitete minderjährige Flüchtlingskinder besucht.

Übrigens gewannen die Skyliner gegen Tübingen mit 92:64.