Jugendliche ohne Angebot

Intensivklassen an der Kerschensteinerschule Wiesbaden

HLZ 12/2015: Flüchtlinge

Zur selben Stunde und in derselben Stadt, in der der von Ministerpräsident Bouffier (CDU) eingeladene „Flüchtlingskonvent“ stattfindet, sitzt Lehrerin Vanessa Marquardt vor 17 jungen Menschen eines InteA-Kurses (1) der Kerschensteinerschule und bearbeitet mit ihnen einen Text, in dem gerade das Wort „arbeitslos“ vorkommt. Auf die Frage, was man macht, wenn man „arbeitslos“ ist, gehen gleich mehrere Hände in die Höhe: „Bewerbungen schreiben“. Auf die Frage, wer in einer solchen Situation helfen kann, hört man aus mehreren Mündern: „das Arbeitsamt“. Ein Schüler korrigiert die Lehrerin, als diese die Antwort bestätigt: „die Agentur für Arbeit“.

Von der Wissbegierde ihrer Schülerinnen und Schüler, von den schnellen Fortschritten beim Erlernen der deutschen Sprache ist Vanessa Marquardt immer wieder begeistert (siehe Foto und Kasten). Die Mädchen mit und ohne Kopftuch, die Jungen mit und ohne Baseballkappe, die jungen Menschen unterschiedlicher Hautfarbe und aus vielen verschiedenen Herkunftsländern verbindet die Sehnsucht nach Normalität, nach Bildung, nach der Möglichkeit, die individuellen Wünsche zu verwirklichen. Die meisten Schülerinnen und Schüler aus der Klasse von Vanessa Marquardt sind in Heimen für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge untergebracht und werden dort, wie ihre Deutschlehrerin aus den vielen Kontakten weiß, gut betreut und haben auch so den Weg in die Kerschensteinerschule gefunden.

Schule ist mehr als Unterricht

Unmittelbar neben dem Klassenraum der InteA-Gruppe befindet sich das Büro von Studiendirektor Peter Eickelmann, der in der Schulleitung der Kerschensteinerschule für die „Bildungsgänge zur Berufsvorbereitung“ und damit auch für die Beschulung von Flüchtlingen und Seiteneinsteigern zuständig ist. Und das seit vielen Jahren und mit ganzem Herzblut. Die Begeisterung für diese Aufgabe, die Freude an der Kommunikation mit den Hilfesuchenden und über die vielen Beispiele gelungener Integration und erfolgreicher Vermittlung in Berufsausbildung und Arbeit ist ihm anzusehen. Aber eben auch der Frust über die schwierigen Bedingungen und unzureichenden Ressourcen. Und genau darüber sprachen Schulleiter Dr. Peter Binstadt und Peter Eickelmann, der auch ehrenamtlicher Schatzmeister des GEW-Landesverbands ist, bei einer Pressekonferenz mit dem GEW-Landesvorsitzenden Jochen Nagel, den sie zusammen mit Pressevertretern zu einem Schulbesuch eingeladen hatten.

Die Kerschensteinerschule ist als Aufnahme- und Beratungszentrum im Bereich des Rheingau-Taunus-Kreises und der Stadt Wiesbaden für die Aufnahme von jugendlichen Flüchtlingen und Kindern von Arbeitsmigranten zwischen 16 und 18 Jahren zuständig. Erste Anlaufstelle ist dann das Büro von Peter Eickelmann, der weiß, wie wichtig der Schulbesuch für Jugendliche in diesem Alter ist: „Einige von ihnen haben nur wenige Jahre eine Schule besucht, andere haben eine gute Schulbildung. Die meisten haben keine Dokumente, um ihre Schulabschlüsse nachzuweisen. Und viele sind schon seit Monaten oder Jahren auf der Flucht und brauchen dringend eine feste Struktur, die ihnen zunächst nur die Schule bieten kann.“

Je nach Wohnort und Kapazitäten kann Eickelmann Plätze in einem der acht InteA-Kurse oder an den beruflichen Schulen in Taunusstein und Geisenheim vermitteln, aber insgesamt ist die Decke viel zu kurz: Über 70 junge Menschen im schulpflichtigen Alter zwischen 16 und 18 stehen im Schulamtsbezirk „auf der Straße“, die er nur auf eine „Warteliste“ nehmen kann. Bis zum Redaktionsschluss dieser HLZ war ihre Zahl auf 83 angestiegen. Allerdings reagierte das Kultusministerium auf die Presseberichte mit Maßnahmen zur „Nachsteuerung“. Für zwei weitere Klassen der Kerschensteinerschule läuft das Einstellungsverfahren, 35 Jugendliche sollen in Geisenheim und Taunusstein aufgenommen werden.

Was passiert, wenn die steigende Zahl von Jugendlichen, die sich derzeit noch in den Erstaufnahmeeinrichtungen befinden, in den Städten und Gemeinden ankommt, darüber will Peter Eickelmann derzeit lieber nicht nachdenken. Der erfahrene und überzeugte Berufsschullehrer weiß, was gerade die berufsbildenden Schulen mit ihrer Praxisorientierung und ihren Werkstätten für junge Menschen leisten könnten – auch für jene, die nicht mehr schulpflichtig sind und von ihm immer abgewiesen werden müssen. GEW-Vorsitzender Jochen Nagel springt ihm bei und bekräftigt die Forderung der GEW nach einer Ausweitung der Schulpflicht: „Für die GEW Hessen ist eine Ausweitung des Rechts auf schulische Bildung bis zum 21. Lebensjahr und unabhängig vom ausländerrechtlichen Status erforderlich, um der Situation dieser jungen Menschen gerecht zu werden.“

Die Forderung nach einer schnellen Integration dürfe nicht nur ein „Lippenbekenntnis“ bleiben:
„Wenn die Landesregierung mit 60.000 Flüchtlingen in diesem Jahr rechnet, die im Land bleiben werden, muss nach den Daten des letzten Jahres davon ausgegangen werden, dass davon etwa 24.000 Kinder und Jugendliche im schulpflichtigen Alter sind, die nicht nur besondere Sprachförderung, sondern auf dem Hintergrund traumatischer Fluchterfahrungen auch besondere pädagogische und psychologische Unterstützung benötigen.“

Nagel kritisierte auch die Art und Weise, wie das Kultusministerium immer wieder den Mangel zu verschleiern versuche. So seien zusätzliche Intensivklassen in den Schulen der Sekundarstufe I durch eine Kürzung der Stundenzahl von früher 28 Stunden auf inzwischen 22 „erwirtschaftet“ worden. Das „heftige Dementi“ einer geplanten Aufhebung der Obergrenze von 16 Jugendlichen nannte Nagel „doppelzüngig“. Die Obergrenze bleibe „auf dem Papier“ erhalten, aber in der Realität werde den Berufsschulen „freigestellt, bis zu vier zusätzliche nicht mehr schulpflichtige Jugendliche aufzunehmen, wenn sie dafür keine Ressourcen anfordern“.

Die Schulleitung der Kerschensteinerschule nahm aber nicht nur die Ressourcen in den Blick, sondern kritisierte auch große bürokratische Hindernisse. Den Praktikern war der Unmut über langwierige Debatten über Details der neuen InteA-Verordnung und fragwürdige Vorgaben anzumerken. Auch für die beruflichen Schulen sei die aktuelle Einwanderung nicht die erste große „Welle“ und man fühle sich konzeptionell „eigentlich gut vorbereitet“. Sprachunterricht müsse mit praktischer Arbeit einhergehen, denn für diese Altersgruppe gebe es keine großen zeitlichen Spielräume für die Integration in die Arbeitswelt. Im Ministerium wisse man offensichtlich auch viel zu wenig über die Möglichkeiten und Chancen, den notwendigen Erwerb der deutschen Sprache zeitlich und inhaltlich mit einer Heranführung an die Fachsprache zu verbinden.

Während die Jugendlichen in den Wohngruppen und Heimen für unbegleitete Flüchtlinge sozialpädagogisch betreut werden, geht es der Schulleitung bei der schulischen Begleitung zu langsam. Schließlich habe man ja schon lange gewusst, dass die EIBE-Maßnahme (2) auslaufe, und hätte deshalb auch „bessere Vorkehrungen“ treffen können.

Die „Durchlässigkeit“ von InteA sei eigentlich „gut gedacht“, doch in der Praxis sei eine Eingliederung von Jugendlichen, die sehr schnell ein ausreichendes Sprachniveau erreicht haben, im laufenden Schuljahr kaum zu realisieren. Schließlich seien auch die Berufsschulklassen „voll“. Im Hinblick auf die Vermittlung in eine berufliche Ausbildung wünschen sich die Praktiker eine größere Flexibilität der deutschen Behörden bei der Vergabe eines sicheren Aufenthaltsstatus: „Betriebe nehmen keine Auszubildenden, wenn sie nicht wissen, ob sie in einem halben Jahr noch da sind. Und sie investieren auch nicht in Ausbildung, wenn sie nicht wissen, ob ihnen die ausgebildeten Fachkräfte danach überhaupt zur Verfügung stehen.“

Bei den Berufswünschen unterschieden sich die jungen Flüchtlinge kaum von anderen Jugendlichen. Allerdings gebe es gerade bei den weiterführenden Schulen und im Beruflichen Gymnasium große Hürden zu überwinden. Vorrangiges Ziel sei zunächst der Hauptschulabschluss. „Natürlich wollen viele Mädchen Ärztin werden“, weiß Peter Eickelmann zu berichten, aber viele hätten auch schon verstanden, dass es gerade in den Pflegeberufen gute Vermittlungschancen gebe.

Der Schuh drückt aber nicht nur bei den personellen und räumlichen Ressourcen, sondern auch bei der Ausbildung der Lehrkräfte für die Deutschintensivklassen. Hoch motivierte und qualifizierte Lehrkräfte für den Sprachunterricht könnten nur befristet eingestellt werden, obwohl es sich, davon ist Schulleiter Peter Binstadt überzeugt, „um eine längerfristige Aufgabe handelt“. Gleichzeitig würde befristet Beschäftigten, die sich in diesen Bereich einarbeiten, die Teilnahme an den Weiterbildungsangeboten des Kultusministeriums verweigert. Die Deutschlehrerinnen und Deutschlehrer an den beruflichen Schulen hätten Germanistik studiert und seien leider oft „zu literaturlastig“ ausgebildet. Jochen Nagel sieht aber durchaus noch viele geeignete Personen auf den Ranglisten. Auch Lehrkräfte für den Fremdsprachenunterricht in Englisch oder Französisch verfügten über die notwendigen didaktischen und methodischen Kenntnisse. Über eine Änderung des Einstellungserlasses könnte man auch Lehrkräften mit anderen Fächern ein unbefristetes Einstellungsangebot machen, wenn sie sich verpflichten, eine Weiterbildung zu absolvieren und für eine begrenzte Zahl von Jahren in den Intensivklassen zu arbeiten.

Harald Freiling, HLZ-Redakteur

(1) InteA: Integration und Abschluss
(2) EIBE: Eingliederung in die Berufs- und Arbeitswelt (Sonderprogramm aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds)