Flüchtlingskinder integrieren

Integration erfordert Stellen, Weiterbildung und Konzepte

HLZ 12/2015: Flüchtlinge

Bildung ist wertvoll und alle Kinder müssen zur Schule gehen, auch diejenigen, die ohne oder nur mit geringen Deutschkenntnissen nach Hessen kommen. Das Recht auf Bildung und die Schulpflicht gelten für alle Kinder und Jugendliche, unabhängig vom Aufenthaltsstatus und vom ersten Tag an. Deshalb geht es für die hessischen Schulen, für Schülerinnen und Schüler, Eltern und Lehrkräfte in der gegenwärtigen Situation ausschließlich um die Fragestellung, was zu tun ist, um die Flüchtlinge – und hier insbesondere die Kinder und Jugendlichen - möglichst schnell und möglichst gut zu integrieren.

Die Kinder und Jugendlichen kommen mit sehr unterschiedlichen Voraussetzungen an die Schulen: Sie haben verschiedene Lernerfahrungen, sprechen verschiedene Sprachen, einige beherrschen keine lateinische Schrift. Es gibt Analphabeten, die noch nie eine Schule besucht haben. Gleichzeitig verfügen viele aber auch über gute Kenntnisse, können auf eine qualifizierte schulische Ausbildung zurückblicken, haben Fremdsprachen in der Schule gelernt, sind gut im mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich ausgebildet. Viele müssen traumatische Erfahrungen aus Krieg und Flucht verarbeiten. Auf diese Vielfalt muss Schule mit entsprechenden Förder- und Unterstützungsangeboten reagieren können, die jedem einzelnen Kind und Jugendlichen gerecht werden.

Damit dieser Prozess gelingt und alle Potenziale ausgeschöpft werden können, ist sicherlich die erste Voraussetzung der gute Wille aller Beteiligten. Der wiederum fußt auf transparenten Planungen durch die politisch Verantwortlichen und der Bereitstellung zusätzlicher Mittel. Im Improvisationsstatus zu beharren, hilft nicht weiter. Für eine schnelle Integration gibt es zwei Grundvoraussetzungen:

  • die Schaffung menschenwürdiger Lebensbedingungen für die Flüchtlinge und
  • konsequente Maßnahmen zur Bildung und Ausbildung für Kinder und Jugendliche

Dazu müssen Mittel und Stellen in erheblichem Umfang mobilisiert werden, das heißt: zusätzliches Personal und zusätzliche Haushaltsmittel. Diese Aufgaben mit den vorhandenen Ressourcen bewältigen zu wollen, wäre mit erheblichen Einschränkungen und Leistungskürzungen in allen pädagogischen Bereichen und einer permanenten Überforderung der Lehrkräfte durch Mehrarbeit verbunden.
Ehrenamt reicht nicht aus
So anerkennenswert es auch ist, wenn Freiwillige Unterstützungsarbeit für die Flüchtlinge leisten, wird es ohne professionelle Angebote zum Spracherwerb und zur schulischen Bildung nicht möglich sein, die Kinder und Jugendlichen gründlich und schnell für ein Leben in Deutschland zu qualifizieren. In Hessen gibt es für diese Aufgabe hunderte arbeitssuchende, ausgebildete Lehrkräfte. Ihnen müssen schnell Angebote für Fortbildung und eine unbefristete Einstellung gemacht werden. „Schuldenbremse“ und neoliberale Haushaltspolitik lassen eine Mobilisierung der dazu notwendigen, zusätzlichen Mittel nicht zu. Das muss sich ändern!

Es gibt keinen Mangel an hauptamtlichen Lehrkräften, wie das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) behauptet, sondern man will sie nicht bezahlen. Stattdessen sollen „Ehrenamtliche“, vor allem auch „Zugewanderte mit ausreichenden Sprachkenntnissen, zu Lernbegleitern ausgebildet“ werden (1). Außerdem sollen alle Flüchtlingskinder bis zum Alter von fünf Jahren „in Erstaufnahmeeinrichtungen ein speziell konzipiertes Lesestart-Set erhalten“. Glaubt man wirklich, dass sich die häufig durch Krieg und Flucht traumatisierten Kinder, die oft lange keine Schule mehr besucht haben, mit Hilfe einer „Lese- und Medienbox“ und „ehrenamtlicher Vorlesepaten“ selbst Deutsch beibringen können?

Und in Hessen?

Dafür stellt die Bundesregierung 130 Millionen Euro zur Verfügung, aber keinen Cent für zusätzliche hauptamtliche Lehrkräfte. Die Bundeskanzlerin ist zuversichtlich: „Wir schaffen das!“ Nur – wer ist „wir“ und was ist „das“?

Aber auch in Hessen tut sich bisher wenig oder in die falsche Richtung: Die Stundenzahl in den Intensivklassen wurde in der Sekundarstufe I von 28 auf 22 und an den Grundschulen von 20 auf 18 gekürzt. Die Zahl der Jugendlichen in den InteA-Maßnahmen an den berufsbildenden Schulen kann von 16 bis auf 20 erhöht werden (HLZ S.8). Die vom Hessischen Kultusministerium angekündigten 180 zusätzlichen Stellen für die beruflichen Schulen und 120 für die allgemeinbildenden Schulen reichen bei weitem nicht aus und wurden zudem fast vollständig aus den Stundenkürzungen in den Intensivklassen und Kürzungen an Grundschulen und gymnasialen Oberstufen finanziert.

Die Schülerinnen und Schüler sollen vom Aufnahme- und Beratungszentrum (ABZ) schnell den Schulen zugewiesen und dort in die Lehrer- und Schülerdatenbank (LUSD) aufgenommen werden. Die LUSD ist Grundlage für die Zuweisung von Lehrerstunden. Sind an einer Schule genügend Schülerinnen und Schüler „zusammengekommen“, soll eine Lehrerstelle zugewiesen werden. Bei veränderten Zahlen soll neuerdings monatlich „nachgesteuert“ werden. Gut so, dass die Zahlen nicht nur einmal im Jahr erhoben werden, doch Zweifel und Fragen bleiben: Müssen die Schulen einen Monat lang ohne die notwendige Ressource unterrichten? Wird eine weitere Stelle bereits ab dem 17. Kind zugewiesen oder erst wenn mit 32 Kindern und Jugendlichen zwei Klassen voll sind? Soll die Stelle wieder abgezogen werden, wenn die Gruppengröße kurzfristig unter die Mindestzahl sinkt?

Es müssen dringend zusätzliche Stellen eingerichtet werden. Das muss jetzt im Zuge der Beratungen über den Landeshaushalt 2016 umgesetzt werden. Sonst haben die Schulen die Schülerinnen und Schüler, aber keine Ressourcen. Lehrkräfte müssen aus- und fortgebildet werden. Sie müssen auf festen zusätzlichen Stellen eingestellt werden und nicht die Sorge haben, sich monatlich eine andere Stelle suchen zu müssen. Bewerberinnen und Bewerber mit der Qualifikation Deutsch als Fremdsprache (DaF) oder Deutsch als Zweitsprache (DaFZ) müssen sofort eingestellt werden, ebenso Lehrkräfte, die sich bereit erklären, DaF oder DaZ zu unterrichten und dafür an entsprechenden Fortbildungen teilzunehmen. Dafür müssen zusätzliche Planstellen geschaffen werden, da die Deutschförderung sonst auf Kosten der übrigen Schülerinnen und Schüler geht, die Klassen größer werden und andere Fördermaßnahmen gekürzt werden müssen.

Aufgrund der mittlerweile jahrzehntelangen Erfahrung mit den Intensivkursen und Intensivklassen ergeben sich folgende Forderungen:

  • mindestens 500 zusätzliche Stellen für Lehrerinnen und Lehrer sofort und weitere 500 im Lauf des Schuljahres
  • unbefristete Einstellung ausgebildeter DaZ-Fachkräfte auf festen Stellen
  • Ausbau der Fort- und Weiterbildung für DaZ und DaF auch für Lehrkräfte, die noch nicht oder nur befristet beschäftigt sind
  • Gruppen mit maximal 12 Kindern und Jugendlichen (keinesfalls mehr als 16), um Kinder mit sehr unterschiedlichen Voraussetzungen individuell fördern zu können
  • Rücknahme der Stundenkürzungen für Intensivklassen; mindestens 20 Stunden in der Grundschule und 28 Stunden in der Sekundarstufe I
  • Seiteneinsteigerinnen und Seiteneinsteiger müssen sowohl in der Intensivklasse als auch in der Regelklasse angerechnet werden, da sie beide Klassen besuchen und die Eingliederung in die Regelklasse vorbereitet werden muss.
  • maximal drei Intensivklassen pro Schule und nicht mehr als 25 % Flüchtlingskinder in einer Bestandsklasse
  • keine reinen Seiteneinsteigerklassen nach der Intensivklasse und keine „Ghetto“-Schulen
  • Intensivklassen und -kurse sind an allen Schulen und in allen Schulformen zu bilden und zwar unabhängig von dem erwarteten oder gewünschten Schulabschluss. Ein Zuweisung nach dem Motto „Die bildungsfernen Kinder auf die Förderschulen, Haupt- und Realschulen und Gesamtschulen, die am besten qualifizierten ans Gymnasium“ darf es nicht geben.
  • Die Aufnahme- und Beratungszentren müssen so ausgestattet sein, dass sie den Kindern und Jugendlichen ohne lange Wartezeiten einen Schulplatz vermitteln können. Die zehn zusätzlich bereitgestellten Stellen für ganz Hessen reichen bei weitem nicht aus.
  • ausreichend Lehrmittel und Fördermaterialien
  • Einrichtung eines Dolmetscherpools beim Staatlichen Schulamt
  • zusätzliche Raumkapazitäten an den Schulen
  • Sozialarbeiterinnen und Schulsozialarbeiter und Psychologinnen und Psychologen, die den schulischen Alltag von Flüchtlingskindern begleiten und sie und ihre Familien unterstützen
  • Anspruch auf Deutschunterricht bereits in den Erstaufnahmeeinrichtungen
  • Ausweitung des Rechts auf Schubesuch auch über die Schulpflicht hinaus

Maike Wiedwald, stellvertretende GEW-Vorsitzende
Christoph Baumann, Referat Schule und Bildung

(1) https://www.bmbf.de/de/bildung-ist-der-schluessel-1596.html


lea-Fachtagung

Flucht, Migration, humanitäre Katastrophen | Europäische Migrationspolitik auf dem Prüfstand

Frankfurt: Montag, 15. Februar 2016, 9.30-17 Uhr

9.30 Uhr
Begrüßung durch Nargess Eskandari-Grünberg, Dezernentin für Integration der Stadt Frankfurt (angefragt), und Birgit Koch, Vorsitzende der GEW Hessen

10 Uhr
Perspektiven europäischer Migrationspolitik zwischen repressiver Grenzüberwachung und humanitärem Anspruch: Dr. Vassilis S. Tsianos, Institut für Soziologie der Universität Hamburg

11.30
Flüchtlingsalltag in Hessen: Mostafa Farman, Vorsitzender des Gießener Ausländerbeirats

12.30 Uhr: Mittagspause

13.30 Uhr
Kartographie des Migrationsmanagements – Instrument der Migrationskontrolle und des Widerstands dagegen: Stephan Liebscher, Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien, Universität Osnabrück

14.30 Uhr
Zentrale Deutungsmuster und Konzepte der aktuellen Migrationsdebatte: Prof. Dr. Sabine Hess, Institut für Kulturanthropologie, Universität Göttingen

16 Uhr
Med Alarmphone – Hotline für Flüchtlinge in Seenot: Newroz Duman, Jugendliche ohne Grenzen e.V. Hanau

Die Teilnahme ist kostenfrei. Die Veranstaltung ist für Lehrkräfte bei der Lehrkräfteakademie akkreditiert. Informationen und Anmeldung: www.lea-bildung.de, Tel. 069-97 12 93-27, anmeldung@lea-bildung.de