Armut trotz Arbeit

Wer sich mit verteilungspolitischen Fragen auseinander setzt, kommt in der Regel sehr schnell zu einem eindeutigen Befund:

Egal, womit man sich im Detail befasst, die Verteilung wird immer ungleicher. Während Deutschland noch Anfang der 1990er Jahre im internationalen Vergleich eine relativ egalitäre Einkommens- und Lohnstruktur aufwies, bestimmt mittlerweile die Auseinandersetzung um Armut und Working Poor (Armut trotz Arbeit) die verteilungspolitische Debatte.

Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass noch im letzten Bundestagswahlkampf von interessierter Seite, zum Beispiel vom heute geschäftsführenden hessischen Ministerpräsidenten Koch, der Eindruck erweckt wurde, als gäbe es in Deutschland keinen Niedriglohnsektor von ausreichender Größe. Vielmehr, so wurde vielfach gefordert, müsse die Beschäftigung im Niedriglohnsegment deutlich erhöht werden, um den hohen Stand an Arbeitslosigkeit abzubauen. Da der deutsche Niedriglohnsektor aber mit 22 Prozent fast die Größe des US-amerikanischen erreicht hat, sind zumindest jene Stimmen verstummt, die behaupten, Niedrig- und Armutslöhne seien in Deutschland bestenfalls ein Randphänomen.

Der DGB Hessen hat dies zum Anlass genommen, nach dem Ausmaß des hessischen Niedriglohnsektors zu fragen. Der Befund ist ernüchternd.

Genau wie in Westdeutschland ist der Niedriglohnsektor auch in Hessen seit Mitte der 1990er Jahre gewachsen, und zwar von 15,5 Prozent in den Jahren 1995 bis 1998 auf 18,6 Prozent in den Jahren 2003 bis 2006 (Tabelle). Damit ist der hessische Niedriglohnsektor kaum kleiner als der westdeutsche. Dabei ist zu bedenken, dass Hessen im Bundesländervergleich der wirtschaftsstärkste Flächenstaat ist und sich der hessische Durchschnittslohn ebenfalls in der Spitzengruppe befindet: Das Bruttoinlandsprodukt liegt je Erwerbstätigem bzw. je Einwohner um 15 beziehungsweise 21 Prozent über dem gesamtdeutschen Durchschnitt, und hessische Beschäftigte verdienen im Durchschnitt neun Prozent mehr pro Arbeitsstunde als der typische deutsche Durchschnittsverdiener. Vor diesem Hintergrund und angesichts der Tatsache, dass für Hessen die westdeutsche Niedriglohnschwelle zugrunde liegt, ist der Umfang des hessischen Niedriglohnsektors überraschend groß.

Von Niedriglohnbeschäftigung sind Frauen in deutlich stärkerem Umfang betroffen als Männer. Während 12,9 Prozent aller Männer in Hessen im Niedriglohnsektor beschäftigt werden, sind dies mit rund 25 Prozent ein Viertel aller Frauen. Werden die Niedriglohnanteile von verschiedenen Arbeitszeitformen betrachtet, dann fällt der hohe Niedriglohnanteil von fast 90 Prozent bei den Minijobs auf. Aber auch bei den Teilzeit- und bei den Vollzeitbeschäftigten arbeiten gut 20 beziehungsweise 10 Prozent zu Niedriglöhnen.

Die im hessischen Landtag vertretenen Parteien sind aufgefordert, auf die Daten zum hessischen Niedriglohnsektor zu reagieren. Das Ausmaß an Niedriglohnbeschäftigung in Hessen sollte gerade auch die geschäftsführende Landesregierung und die hessische CDU veranlassen, sich für wirksame Maßnahmen zur Bekämpfung von Niedrig- und Armutslöhnen einzusetzen. Denn die von ihnen in der Vergangenheit favorisierten Kombilöhne sind in Modellversuchen auf der ganzen Linie gescheitert – diese Erfahrung hat die hessische Landesregierung im Übrigen mit ihrem eigenen Modell, dem Kasseler Modell Kombilohn, gemacht. Nicht Kombilöhne oder betriebliche Bündnisse für Arbeit sind geeignet, Dumping- und Armutslöhne zu verhindern, sondern ein allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn in angemessener Höhe und eine Stärkung der Tarifautonomie.

Kai Eicker-Wolf und Stefan Körzell, DGB Hessen