Das Schuljahr beginnt

Unterschiedliche Sichtweisen von Ministerium und GEW

HLZ 9-10/2019: Die Schule beginnt

Kultusminister Lorz hält die Schulen im neuen Schuljahr – so der Tenor seiner Pressekonferenz – für „hervorragend aufgestellt“. Vergleicht man den letzten Stand des Zuweisungserlasses vom 26. Juni 2019 mit dem vom 20. Juni 2018 dürfte die von Lorz genannte Gesamtschülerzahl zu niedrig angesetzt sein. Während Lorz von einem Rückgang der Gesamtschülerzahl um 1.000 sprach, errechnet die GEW einen Anstieg um rund 2.500 Schülerinnen und Schüler (+ 0,33 Prozent). Unstrittig ist die weiter ansteigende Zahl von Erstklässlerinnen und Erstklässlern, die sich auf rund 54.900 erhöht. Regional verzeichnen die Ballungsregionen weiter einen Anstieg, die ländlichen Regionen eher gleichbleibende oder leicht rückläufige Schülerzahlen. Allein in Frankfurt steigt die Zahl der Kinder an Grundschulen um rund 1.000 (+ 4,0 Prozent). Nicht nur in den Kollegien vor Ort, sondern auch bei Presse stieß die Behauptung, alle Stellen seien „besetzt“, eher auf Verwunderung. Die Fragen der Presse nach dem Umfang des Unterrichtsausfalls blieben einmal mehr unbeantwortet.

Die GEW hält die Vereinbarungen mit den Universitäten in Gießen, Frankfurt und Kassel, zum Wintersemester 2019/20 135 zusätzliche Studienplätze im Grundschullehramt bereitzustellen, für richtig, aber nicht für ausreichend. Die Verhandlungen mit der Universität Kassel, auch dort die Ausbildung für das Lehramt Förderschule – das dringend umbenannt werden sollte – aufzunehmen, müssen aus Sicht der GEW durch entsprechende finanziellen Zusagen beschleunigt werden. Maike Wiedwald, Landesvorsitzende der GEW, weist in ihrem Artikel in der vorliegenden HLZ (S. 8-9) darauf hin, dass auch für die Zwischenzeit konsequente Maßnahmen erforderlich sind, um Qualität zu sichern und die Belastung der Kolleginnen und Kollegen nicht noch weiter zu steigern. Da die Zunahme der Schülerzahlen an den Grundschulen sehr schnell in der Sekundarstufe I ankommen wird, muss auch dort schnell gehandelt werden. Dabei ist es besorgniserregend, dass der Anteil der Studierenden für die Lehrämter an Grundschulen, Förderschulen und Haupt- und Realschulen gegenüber dem der Studierenden für das Lehramt an Gymnasien in den letzten zehn Jahren von rund drei Viertel auf die Hälfte massiv zurückgegangen ist.

Auch im Bereich der Inklusion können viele Stellen nicht mehr von Fachkräften besetzt werden. Der Stellenzuwachs um 60 Stellen geht zu einem Viertel in die Förderschulen, die wieder steigende Schülerzahlen verzeichnen. Da auch die Zahl der inklusiv beschulten Kinder steigt, rechnet die GEW auch dort mit Verschlechterungen. Besonders bedenklich ist die Tatsache, dass ein nennenswerter Anteil der zugewiesenen Stellen überhaupt nicht bei den Kindern ankommt, sondern für die „Implementierung“ und „Steuerung“ der inklusiven Schulbündnisse (iSB) verwendet wird. Mehr als 18 Monate nach Vorlage des Entwurfs der „Verordnung über die Aufgaben und die Organisation der inklusiven Schulbündnisse“ (VOiSB) trat diese jetzt – ohne nennenswerte Änderungen – im Kraft (Amtsblatt 7/2019). Gleichzeitig fehlt es an allen Ecken und Enden: in der inklusiven Beschulung, bei den vorbeugenden Maßnahmen und auch an den Förderschulen. Nur wenn die Stunden für die gemeinsame Arbeit mit Kindern, wie dies in der VOiSB vorgesehen ist, wirklich vorhanden sind und gelebt werden, hat Inklusion in Hessen eine Chance.

Ausführlich lobte der Minister das Landesprogramm „Digitale Schule Hessen“, mit dem das Land auf die Mittel des Bundes aus dem „Digitalpakt Schule“ „noch eine ordentliche Schippe drauflegt“. Vergleicht man die in Aussicht gestellten (und noch lange nicht zugewiesenen) Mittel mit der Zahl der hessischen Schülerinnen und Schüler, kommt man für die Laufzeit von fünf Jahren auf einen Betrag von rund 540 Euro pro Schülerin und Schüler. Dies deckt an der Grundschule etwa 40 Prozent des geschätzten Bedarfs, an den weiterführenden Schulen gerade mal ein Viertel. Die GEW verweist nicht nur zum Schuljahresanfang auf die Notwendigkeit, zunächst an der Schule mit der entsprechenden Unterstützung durch das Land die erforderlichen pädagogischen Konzepte zu entwickeln und auch in Fortbildung zu investieren. Ein Fortbildungsbudget von 40 Euro im Jahr pro Lehrerstelle ist absolut lächerlich und treibt die Schulen in die Arme der privaten Anbieter, die über kostenlose Fortbildungsangebote zugleich ihre Soft- und Hardwareprodukte promoten, wie Kollege René Scheppler in einer konkreten Fallstudie in dieser HLZ dokumentiert (S.24-25).
Als „Etikettenschwindel“ kritisiert die GEW die Behauptung des Ministers, dass inzwischen „61 Prozent der Grundschulen ganztägig arbeiten“. Die Aufnahme neuer Grundschulen in den „Pakt für den Nachmittag“ dokumentiert zwar den hohen Bedarf an einer Ganztagsbetreuung, hat aber mit einer pädagogischen Verschränkung von Unterricht, Wahlangeboten und Betreuung im Sinne einer Ganztagsschule nichts zu tun. Die Vorstöße des CDU-Politikers Linnemann, Kinder mit mangelnden Deutschkenntnissen nicht einzuschulen (HLZ S.15), hält Lorz in Hessen mit der Einrichtung der Vorlaufkurse für „längst umgesetzt“.

Außerdem kündigte der Minister an, weitere „Familienklassen“ einzurichten und einen von Religionsgemeinschaften unabhängigen Islamunterricht zu erproben. Bezüglich der Kooperation mit dem Moscheeverband DITIB will Lorz „bis Jahresende“ eine Entscheidung treffen. Im Schuljahr 2019/2020 sollen auch die Beratungen über eine Novellierung des Hessischen Lehrerbildungsgesetzes (HLbG) aufgenommen werden.

Keine Aussagen gab es zu den Ankündigungen in der Koalitionsvereinbarung von CDU und Grünen, die Stundentafel für das Fach Deutsch in der Grundschule auszuweiten und das Fach Politik und Wirtschaft in allen Klassen der Sekundarstufen I und II verbindlich zu machen. Auch von Gesprächen „mit unseren Nachbarländern“ über eine einheitliche Eingangsbesoldung für alle Lehrämter hat man bisher noch nichts gehört. Die – bereits zur Hälfte verstrichene – Amtszeit des hessischen Kultusministers als Präsident der KMK wäre dazu eine gute Gelegenheit, denn der Abstand Hessens zu den Bundesländern mit einer Besoldung der Grundschullehrkräfte nach A13 wächst immer weiter (HLZ S.14-15).

Harald Freiling, HLZ-Redakteur