„Selbstwirksamkeit erfahren“

Kinder und Jugendliche benötigen Raum zur Partizipation | HLZ März 2024

 

Ein Interview mit Christa Kaletsch zum Projekt „Zusammenleben neu gestalten“


Helmolt Rademacher: Beschreibe bitte kurz, wie euer Projekt entstanden ist und welche Ziele ihr damit verfolgt.

Christa Kaletsch: Das Projekt ist im Jahr 2016 entstanden. Das Demokratiezentrum fragte unter dem Eindruck des Sommers der Migration an, ob wir ein Projekt entwickeln könnten, das Kommunen und Institutionen dabei unterstützt, ihre Teilhabekultur zu fördern und sich im Umgang mit Rassismus und Diskriminierung Strategien zu überlegen. Durch die erhöhte Aufnahme von Geflüchteten im Sommer 2015 standen Bürgermeisterinnen und Bürgermeister und andere Vertreter von Institutionen vor großen Herausforderungen.
 

Helmolt Rademacher: Wie hat sich euer Projekt seit 2016 entwickelt? Welche Themenfelder und Zielgruppen habt ihr erreicht?

Christa Kaletsch: Wir adressieren immer Schlüsselakteure in Institutionen, sowohl in schulischen als auch in außerschulischen Kontexten. Die Spannbreite unserer Zielgruppen reicht von Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern bis zu Bauhofmitarbeitenden. In der Anfangszeit haben wir vor allen Dingen haupt- und ehrenamtlich in der Flüchtlingshilfe tätige Menschen unterstützt, aber auch Schulen, Kitas, Vereine und Verbände.
 

Helmolt Rademacher: Vor welchen Herausforderungen steht ihr oder habt ihr besonders in Schulen und außerschulischen pädagogischen Projekten gestanden? Was konntet ihr bisher in diesen Projekten erreichen?

Christa Kaletsch: Die Zeit von 2016 bis jetzt im Januar 2024 würde ich in zwei Etappen unterteilen: Zu Beginn gab es vielerorts ein großes Interesse, sich mit der Förderung einer Teilhabekultur auseinanderzusetzen. Wir trafen auf Teilnehmende, die Lust hatten, über bereits gut entwickelte Konzepte nachzudenken und den Blick für rassismuskritische Auseinandersetzungen zu schärfen. In 2020 gab es dann zwei wichtige Einschnitte: die durch die Corona-Pandemie ausgelösten Herausforderungen sowie die Erschütterungen durch die rassistischen Morde in Hanau. Durch den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 entstanden weitere Herausforderungen, die sich insbesondere auch in Schulen bemerkbar machten.

Gesellschaftspolitische Probleme kommen erstens in Schule an und zweitens wird Schule gern von der Politik als der Ort adressiert, wo das alles geregelt und bearbeitet werden soll. Gleichzeitig werden Schulen aber mit viel zu wenig Ressourcen ausgestattet. In der Corona-Pandemie konnten Externe, die das Demokratielernen gefördert haben, nicht in die Schulen hinein und seitens des Kultusministeriums gab es hierzu keine Unterstützung, im Gegenteil hat es nur auf Stoffvermittlung fokussiert. In diese Melange kommt dann eine Krise nach der anderen. Das hat unsere Arbeit doch sehr stark verändert.
 

Helmolt Rademacher: Konntet ihr durch eure Arbeit feststellen, dass sich da etwas im Bewusstsein der Schlüsselakteure verändert hat? Wie habt ihr mit den Schlüsselakteuren gearbeitet?

Christa Kaletsch: Wenn die Arbeit in Institutionen erfolgreich sein soll, dann braucht es eine stabile Gruppe, die über einen kontinuierlichen Zeitraum zu solchen Themen arbeitet, und eine Schulleitung, die das mitträgt. Dann können diese Themen in der Schulkonferenz und in der Gesamtkonferenz regelmäßig behandelt werden. Außerdem sollten der Schulelternbeirat und die Schülervertretung gut eingebunden sein. Dies wäre eine idealtypische Form, die es nur an ganz, ganz wenigen Schulen gibt. Wenn eine Schule entsprechend aufgestellt ist und kontinuierlich arbeitet, dann kann sie bei neuen Herausforderungen sofort entsprechende Strategien entwickeln. Die Akteure in Schule nehmen dann selbstverständlich Kinder und Jugendliche mit und fragen sie nach ihren Vorschlägen und Expertisen. So lassen sich Wir-Lösungen für Wir-Probleme finden.

Es ist sehr gut, wenn Kindern und Jugendlichen Verantwortungsübernahme zugetraut wird und sie sich in ihrer Handlungsfähigkeit erleben können. Eine solche Herangehensweise macht alle Beteiligten krisenfester. Es gibt einige wenige Schulen, die es trotz der fehlenden Unterstützung durch das Kultusministerium geschafft haben, in der Häufung der Krisen einen konstruktiven Umgang damit zu entwickeln. Diejenigen, die nicht dieser einseitigen Fokussierung auf Stoffvermittlung gefolgt sind und weiter das soziale Lernen gefördert haben, die kommen – nach meiner Wahrnehmung – mit den wiederkehrenden Problemen und Herausforderungen besser klar.

Aber wir haben im Verlauf dieser Krisen auch Partner verloren, und zwar dann, wenn Schlüsselakteure des Kollegiums weggefallen sind und es einen Schulleitungswechsel gab, und in Folge Fortbildung und außerschulische Kooperation nicht mehr zugelassen wurde. Wir haben dann auch gesehen, was passiert, wenn sie sich nach zwei Jahren melden und sagen, dass sie ein großes Problem mit Antisemitismus oder Rassismus haben. Eine demokratische Kultur muss man pflegen. Es braucht lange Zeit, eine gute Kultur aufzubauen, und sie kann in relativ kurzer Zeit zerstört werden. Man merkt dann nach einer Weile, was das atmosphärisch bedeutet.

 

Helmolt Rademacher: Wie hat sich der Terroranschlag der Hamas am 7. Oktober 2023 auf eure Arbeit in den Schulen ausgewirkt?

Christa Kaletsch: Wir versuchen, Schulen und anderen pädagogischen Institutionen Mut zu machen, dass sie sich des Themas annehmen. Es ist allerdings eher selten, dass eine gesamte Schule sagt, wir brauchen jetzt Unterstützung, wir wollen eine antisemitismuskritische Schulkultur entwickeln. Nach meinem Eindruck fehlt vielen nichtjüdischen Lehrkräften ein grundlegendes Verständnis dafür, welche Zäsur der 7. Oktober und die anschließenden antisemitischen Wellen für Jüdinnen und Juden und ihr Gefühl selbstverständlicher Zugehörigkeit und Sicherheit bedeuten. Lehrkräfte, die das Thema einbringen, befinden sich eher in einer Minderheitsposition.
 

Helmolt Rademacher: Was sollten Schulen tun, um präventiv gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus vorzugehen?

Christa Kaletsch: Im Kontext der jüngsten Mitte-Studien hat die Politikdidaktikerin Sabine Achour deutlich auf die Folgewirkungen der Pandemie und der einseitigen Fokussierung auf Stoffvermittlung hingewiesen: Viele Jugendliche fühlen sich in der Schule oder auch in der Ausbildung nicht wahrgenommen. Sie leiden unter Einsamkeit, sie leiden unter dem Gefühl, dass sie nicht mitbestimmen können. Im Zuge der Landtagswahlen in Hessen und Bayern zeigte sich, dass viele junge Menschen das Vertrauen in demokratische Verhältnisse zu verlieren drohen.

Wir würden Schulen – und damit auch der Politik – sehr empfehlen, dass sie Partizipationsräume für Kinder und Jugendliche schaffen, damit diese sich als selbstwirksam erleben können. Für junge Menschen ist der Klimawandel eine ernsthafte Gefahr, eine Bedrohung. Junge Menschen erleben im Moment sehr, sehr viele Erschütterungen und haben teilweise wenig Vertrauen in die Zukunft. Deswegen glaube ich, dass es sehr, sehr wichtig ist, dass wir sie in ihren Bedenken und Sorgen ernst nehmen und ihnen Gelegenheitsräume eröffnen, wo sie sich mit ihrer Expertise, ihrer Kreativität und ihren Ideen einbringen können und darin unterstützt werden.

Das Interesse, sich mit Themen wie Rassismus, Antisemitismus und der Komplexität der Welt auseinanderzusetzen, ist bei jungen Menschen da. Ich glaube, dass es Räume braucht, um diese Themen besprechbar zu machen. Hilfreich ist es dabei, von Menschen begleitet zu werden, die entsprechend qualifiziert sind. Es ist katastrophal, dass momentan solche wichtigen Kompetenzen wie Politikverständnis, die Entwicklung einer demokratischen Haltung und ein Geschichtsverständnis oft durch fachfremde Lehrkräfte vermittelt werden. Damit wird diesem Schlüsselfachwissen wenig Wertschätzung entgegengebracht. Mathematikunterricht überträgt man auch keiner Kunstlehrkraft.
 

Helmolt Rademacher: Gibt es noch einen wichtigen Punkt, den du den Leserinnen und Lesern mitteilen möchtest?

Christa Kaletsch: Es wäre als Lehrkraft gut anzuerkennen, dass es Themen gibt, bei denen man sich nicht so gut auskennt. Man muss nicht alles wissen. Es wäre gut, sich dann an Expertinnen und Experten zu wenden, die sich mit dem Thema auskennen. Sie kennen Methoden, wie man die Expertise junger Menschen nutzen kann. Sehr zentral ist für mich auch die Entwicklung von Medienkompetenz, um jungen Menschen zu helfen, wie man feststellen kann, ob eine Quelle sicher ist und wie man mit überwältigenden Nachrichten umgehen kann. Dies wurde Lehrkräften im Studium nicht vermittelt. Und deswegen müssen sie sich auf keinen Fall schlecht fühlen, wenn sie dies nicht vermitteln können. Es bedarf einfach des Mutes, das anzuerkennen und sich bei Bedarf Hilfe zu holen. Das würde ich mir wünschen.

Helmolt Rademacher: Herzlichen Dank für dieses Interview.

 


Das Projekt „Zusammenleben neu gestalten“ ist Teil des Beratungsnetzwerks Hessen – gemeinsam für Demokratie und gegen Rechtsextremismus. Es bietet Schulen und anderen Institutionen Beratung und Fortbildungen bis hin zu längerfristigen Prozessbegleitungen für die (Weiter-)Entwicklung einer menschenrechtsorientierten, demokratischen und diskriminierungskritischen Institutionenkultur an. Das Projekt ist angesiedelt bei der Deutschen Gesellschaft für Demokratiepädagogik – DeGeDe. Christa Kaletsch ist Co-Vorsitzende der DeGeDe Hessen und Vorsitzende des Vereins Makista, der sich für die Verwirklichung der Kinderrechte in Bildungseinrichtungen engagiert. Das Interview führte Helmolt Rademacher.
Kontakt: zusammenlebenneugestalten@degede.de