Demokratische Schulentwicklung

Wie Schulen die Partizipation von jungen Menschen ermöglichen | HLZ März 2024

Schulen stehen vor immer mehr Herausforderungen. Da sind nicht nur die Nachwirkungen von Covid-19, die chronische Überlastung der Kolleginnen und Kollegen sowie der Lehrkräftemangel zu nennen, sondern auch die (welt-)politischen Ereignisse, die auf die Schulen einwirken. Hierzu zählt der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine ebenso wie Rassismus und Antisemitismus. Zuletzt haben der Terroranschlag der Hamas in Israel und die Folgen des Krieges im Gaza-Streifen zu teilweise heftigen Debatten in den Schulen geführt. Die aktuellen Demonstrationen gegen Rechtsextremismus und die „Remigrationspläne“ der AfD wirken ebenso in die Schule hinein. Wie können sich Schulen auf solche teils unvorhergesehenen Ereignisse vorbereiten? Wie können sie ein Klima möglichst ohne Gewalt und Diskriminierung schaffen? Und wie können sie einen Beitrag gegen Rechtsextremismus leisten?
 

Schulen sollten nicht nur Orte des Fachlernens sein, sondern immer stärker auch solche, die sich neuen Herausforderungen stellen. Der Risikoforscher Gerd Gigerenzer fordert daher von der Schule Folgendes: „Statt Schülern jeweils die ‚richtige‘ Antwort auf bekannte Probleme vorzugeben, muss man ihnen stärker beibringen, mit unsicheren Situationen umzugehen und kreative Lösungen für offene Zukunftsfragen zu finden“ (nach Rademacher 2021, S. 16). Um dies zu ermöglichen, ist es wichtig, eine Schulkultur zu entwickeln, die Raum für die Behandlung von aktuellen Themen zulässt und sozialen Prozessen eine entsprechend große Bedeutung beimisst.
 

Eine gute Schulkultur ist eine demokratische. Das heißt, alle Beteiligten (Schülerinnen und Schüler, Lehrkräfte, Schulleitung, Eltern, Schulsozialarbeiterinnen und -arbeiter sowie das weitere Personal) sind in einen stetig voranschreitenden Schulentwicklungsprozess einzubinden. Schulentwicklung „lässt sich definieren als systematischer, zielgerichteter, reflexiver und für die Bildungsprozesse der Schüler funktionaler Entwicklungsprozess der Schule, der von der Einzelschule als pädagogische Handlungseinheit (…) ausgeht und das Ziel der Professionalisierung schulischer Prozesse und die Verbesserung der Schul- und Unterrichtsqualität verfolgt“ (Wawretschek-Wedemann 2013, nach Rademacher 2021, S. 83).
 

Als Grundlage dieses Prozesses dienen dabei die Kinderrechte, die seit 2010 in Deutschland für alle Kinder und Jugendlichen bis 18 Jahren gelten. Im Kern geht es bei den Kinderrechten um das Recht auf Schutz vor Gewalt und Diskriminierung, um das Recht auf Bildung und um das Recht auf Beteiligung. Letzteres wird meist nicht in seinem Kerngehalt umgesetzt, denn es bedeutet, Kinder und Jugendliche in alle sie betreffenden Maßnahmen einzubinden. Im Alltag wird das oft nicht so gelebt, wie es der Rechtsanspruch vorgibt. Das hat sich insbesondere in der Pandemiezeit gezeigt, als Kinder und Jugendliche nicht gehört und eingebunden wurden.
 

Beteiligungsinstrumente

Es gibt eine Reihe von Möglichkeiten, um Schülerinnen und Schüler regelmäßig einzubinden und zu beteiligen. Zum einen ist das der Klassenrat, eine regelmäßige wöchentliche Stunde, die unter der Regie der Schülerinnen und Schüler steht und in der alle wesentlichen und insofern auch aktuellen Themen behandelt werden können. Dabei geht es nicht nur um die Organisation von Ausflügen oder die Lösung von Gruppenkonflikten, sondern auch um aktuelle politische Fragen oder die Planung und Vorbereitung von Unterrichtseinheiten. Der Klassenrat ist an vielen Schulen, insbesondere an Grundschulen, etabliert. Leider ist in der Praxis der Sekundarstufe die Regelmäßigkeit durch eine fest eingeplante wöchentliche Stunde häufig nicht gegeben, und damit hat Partizipation keinen festen Platz und keine entsprechende Wertschätzung. Aufgabe ist es insofern, in jeder Schule den Klassenrat einzuführen, die Lehrkräfte entsprechend durch Fortbildungen darauf vorzubereiten und dafür zu sorgen, dass er mit der entsprechenden Qualität in jeder Klasse der Stufen 1 bis 10 und gegebenenfalls darüber hinaus in der gymnasialen Oberstufe (in Tutorien) und in beruflichen Schulen stattfindet.
 

Zum anderen gibt es die Schülervertretung, die in Schulen sehr unterschiedlich ausgeprägt ist, aber grundsätzlich Beteiligungsmöglichkeiten bietet, beispielsweise durch die Mitwirkung in Gesamt- und Schulkonferenzen. Dabei ist darauf zu achten, dass Themen, die Schülerinnen und Schüler betreffen, am Anfang der Sitzungen thematisiert werden. In einzelnen Schulen gibt es auch ein Schulparlament, das weiterreichende Kompetenzen als die Schülervertretung hat.
 

Gewährleistung von Kontinuität

Demokratische Schulentwicklungsprozesse benötigen einen langen Atem und ein hohes Maß an Kontinuität. Wo stehen wir? Was sind die aktuellen Herausforderungen an unserer Schule? Was konnten wir bisher gut umsetzen? Wo gibt es Entwicklungsbedarf? Das sind Fragen, die sich eine Schule regelmäßig stellen muss. Es geht darum, verlässliche Strukturen zu schaffen, die immer wieder in dem Sinne überprüft werden, ob sie den eigenen Zielen noch genügen. Eventuell müssen Strukturen revidiert werden und man muss Ballast loswerden, zum Beispiel nicht mehr funktionierende Gruppen beenden. All dies bedarf einer ständigen Überprüfung. Hierzu ist es gut, eine schulische Steuergruppe mit maximal zwölf Teilnehmenden, an der alle relevanten Akteure einer Schule beteiligt sind, einzurichten. In dieser sollten neben der Schulleitung auch Schülerinnen und Schüler und gegebenenfalls Eltern vertreten sein. Sinnvoll ist es, dass an dieser Gruppe Vertreterinnen oder Vertreter verschiedener Projektgruppen (beispielsweise soziales Lernen, Demokratielernen, Inklusion) beteiligt sind. So hat die Steuergruppe immer einen Überblick über alle Aktivitäten an der Schule und kann entsprechend, je nach Bedarf, einzelne Gruppen einmal mehr oder einmal weniger unterstützen.
 

Ideal ist es, wenn eine Schule – zumindest in der Startphase – von externen Schulentwicklungsberaterinnen oder -beratern unterstützt wird. Die Staatlichen Schulämter haben in der Regel Teams, die diese Aufgabe übernehmen. In der Regel werden diese eine Schule aus Kapazitätsgründen nicht über viele Jahre begleiten können. Solche besonderen Bedingungen gab es bislang nur in Modellprojekten wie „Demokratie lernen und leben“ (2002 – 2007), in welchem ausgewählte Schulen dreieinhalb Jahre lang intensiv begleitet wurden.
 

Instrumente demokratischer Schulentwicklung

Einen niedrigschwelligen Ansatz verfolgt das Projekt „Gewaltprävention und Demokratielernen“ mit den Prozessentwicklungsgruppen. Diese Gruppen bieten fünf bis zehn Schulen die Möglichkeit, sich im halbjährigen Rhythmus auszutauschen und den Stand der eigenen Arbeit zu reflektieren. Jeweils zwei Personen aus einer Schule – häufig eine Lehrkraft und eine Schulsozialarbeiterin – treffen sich einen ganzen Tag mit Tandems anderer Schulen, um neue Impulse zu erhalten, sich kollegial zu beraten, den Stand der eigenen Arbeit zu reflektieren und neue Schritte zu planen.
 

In Hessen gibt es 19 regionale Gruppen. Sie arbeiten in der Regel schulformübergreifend. Sie werden jeweils von einem Team für Schulentwicklungsberatung angeleitet. Zusätzlich werden für die Schulleitungen dieser Schulen spezielle Seminare angeboten. Neue Schulen können jederzeit aufgenommen werden. Entweder werden regionale Gruppen durch eine neue Schule aufgefüllt oder es wird eine neue Gruppe gegründet.

Die Deutsche Gesellschaft für Demokratiepädagogik hat einen Merkmalskatalog demokratiepädagogischer Schulentwicklung erstellt. Dieser umfasst sechs Qualitätsbereiche:
1.    Umgang mit Rahmenbedingungen
2.    Schulkultur
3.    Führung und Management
4.    Professionalität der Pädagoginnen und Pädagogen sowie Kooperationspartner*innen
5.    Lernkultur
6.    Ergebnisse


Dieser Merkmalskatalog bietet eine gute Richtschnur, an der sich demokratische Schulentwicklungsprozesse orientieren können. Demokratische Schulentwicklung kann nicht alle Herausforderungen bewältigen, aber sie bietet einen guten Rahmen, um schnell auf aktuelle Entwicklungen zu reagieren. Eine solche Struktur bietet Entlastung und hat eine präventive Funktion.


Literatur und Hinweise

Rademacher, Helmolt (2021), Konfliktkultur in der Schule entwickeln. Wie Demokratiebildung gelingt, Stuttgart.

Schulinterne Fortbildungen zum Klassenrat werden regelmäßig vom Hessischen Ministerium für Kultus, Bildung und Chancen im Rahmen des Projekts „Gewaltprävention und Demokratielernen – GuD“ angeboten.
Weitere Informationen: www.gud.bildung.hessen.de
Kontakt: Andrea.Schmidt@kultus.hessen.de

* Der Autor ist Co-Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Demokratiepädagogik – DeGeDe, Landesverband Hessen.