Koalitionsvertrag: Förderschulen und Inklusion

Koalition im Rückwärtsgang | HLZ Februar 2024

Das Thema Bildung nimmt als erstes Kapitel einen prominenten Platz im Koalitionsvertrag ein. Wie beste Bildung auszusehen hat, scheint allerdings von nostalgischer Erinnerung an eine Schule vergangener Tage geprägt zu sein. Anders kann man nicht erklären, dass Bildungsgerechtigkeit und das segregierende Schulsystem, verklausuliert als „Vielfalt unseres Schulsystems“, in einem Atemzug genannt werden. Auch beim Thema Förderschulen und Inklusion werden unvereinbare Aussagen hintereinander gereiht. Lippenbekenntnisse zur UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) sind unglaubwürdig, wenn gleichzeitig Einigkeit über die „Grenzen der gemeinsamen Beschulbarkeit“ herausgestellt wird.


Die UN-BRK, deren Ratifizierung bald ihren 15. Geburtstag feiert, stemmt sich gerade gegen die Grenzen eines integrativen Bildungssystems und somit gegen Aussonderung. Die Landesregierung hat deshalb die Pflicht, „das Recht von Menschen mit Behinderungen auf Bildung ohne Diskriminierung und auf der Grundlage der Chancengleichheit zu verwirklichen und ein integratives Bildungssystem auf allen Ebenen zu gewährleisten“ (Artikel 24). Man fragt sich beim Lesen, ob die Koalitionsparteien sich überhaupt je mit der Umsetzung der UN-BRK, die in Deutschland Gesetz ist, beschäftigt haben. Jedes Kind, nicht nur an der Förderschule, braucht in der Schule einen geschützten Raum, kleine Klassen und bestens ausgebildete Lehrkräfte. Diese „optimalen Lernbedingungen“ scheinen laut Koalitionsvertrag nur in der Förderschule möglich zu sein.


Die unzureichende Ausstattung der Inklusion und ein enormer Fachkräftemangel an Grundschulen und zunehmend auch in der Sekundarstufe I stellen die tatsächlichen Grenzen der gemeinsamen Beschulung dar. Diese liegen nicht in der Eigenart von Kindern, sondern im fehlenden politischen Willen, die allgemeine Schule personell und sachlich so auszustatten, dass sie in der Lage ist, alle Kinder unabhängig von Art und Schweregrad einer etwaigen Behinderung inklusiv zu beschulen. Es müssen „angemessene Vorkehrungen für die Bedürfnisse des Einzelnen“ getroffen und für alle „die notwendige Unterstützung“ geleistet werden, wie es die UN-BRK vorschreibt.


Die vermeintlichen Vorteile der Förderschulen werden wortreich erklärt. Für die Inklusion hingegen gibt es lediglich unkonkrete Absichtserklärungen. Es ist also keine Verbesserung in Sicht, kein Bestreben, weitere Schritte zu einem inklusiven Schulsystem zu gehen. Hätte jede Schule die bedarfsgerechte sonder- und sozialpädagogische Grundausstattung, wie sie die GEW fordert, bräuchte es keine inklusiven Schulbündnisse mit dem Auftrag, die mangelnden sonderpädagogischen Ressourcen auf die Schulen zu verteilen.


Was man sich unter den angekündigten Unterstützungsagenturen vorstellen darf, bleibt im Vagen. Wir brauchen mehr pädagogisches Personal und multiprofessionelle Teams direkt in den Schulen, damit eine Zusammenarbeit aller Professionen vor Ort wirklich gelingen kann, keine externe Agentur. Es ist zu befürchten, dass die Formularflut und das Antragswesen durch diese noch weiter zunehmen werden. Insgesamt bleibt vieles unklar. Politischer Wille in Richtung der überfälligen Umsetzung der UN-BRK ist nicht zu erkennen. Die angekündigte „bedarfsgerechte Weiterentwicklung der Förderschulen“ ist vielmehr ein Schritt zurück!
 

Auszug aus dem Koalitionsvertrag:

Das Wohl des einzelnen Kindes ist für uns das Entscheidende. Die Umsetzung kann sowohl in der Förderschule als auch in wohnortnaher inklusiver Beschulung verwirklicht werden. Wir bekennen uns entsprechend der von Deutschland ratifizierten UN-Behindertenrechtskonvention zu dem Ziel der Inklusion. Barrieren, die diesem Ziel entgegenstehen, wollen wir so weit wie möglich reduzieren. Dabei erkennen wir an, dass es Grenzen der gemeinsamen Beschulbarkeit gibt. Deshalb machen wir uns stark für den Erhalt und die bedarfsgerechte Weiterentwicklung der Förderschulen in Hessen. Förderschulen sind ein wichtiger Bestandteil des Schulsystems und bieten Kindern mit Behinderungen geschützte Räume, kleine Klassen, optimale Förderung, gesicherte Übergänge in den Beruf und Lebensalltag sowie hohe Fachlichkeit durch qualitativ bestens ausgebildete Lehrkräfte. (S. 9-10) Die vorbeugenden Maßnahmen und die regionale Zusammenarbeit unserer Schulen in inklusiven Schulbündnissen haben sich bewährt; hier wird schulische Inklusion in Hessen weiterentwickelt. Beratungs- und Förderzentren werden wir zusammen mit dem schulpsychologischen Dienst zu Unterstützungsagenturen für die allgemeinbildenden Schulen weiterentwickeln. (S. 10)