Im September 2021 haben Bundestag und Bundesrat den Rechtsanspruch auf einen Ganztagsplatz für Kinder im Grundschulalter beschlossen, der in den Bundesländern sowohl durch offene und gebundene Ganztagsschulen als auch in Horten erfüllt werden kann. Der Rechtsanspruch wird ab dem Schuljahr 2026/2027 jahrgangsweise umgesetzt, der vollständige Anspruch für alle vier Grundschulklassen soll im Schuljahr 2029/30 erreicht werden.
Der Bund unterstützt den Ganztagsausbau durch Finanzhilfen von bis zu 3,5 Milliarden Euro für Investitionen in die Infrastruktur, seit Ende 2020 wurden 750 Millionen Euro bereitgestellt. Das Land Hessen hat seit April 2021 80 Millionen Euro zur Verfügung gestellt, damit Schulträger, Jugendhilfeträger und Ersatzschulträger in die hessische Infrastruktur der Ganztagsbetreuung investieren können. Auch an den laufenden Kosten des Ganztags wird sich der Bund beteiligen. Diese Mittel sollen ab 2026 bis auf 1,3 Milliarden Euro bis 2030 anwachsen.
DJI-Studie zum Ganztagsausbau
Für den Platz-, Personal- und Finanzbedarf des anstehenden Ganztagsausbaus hat das Deutsche Jugendinstitut (DJI) modellhafte Vorausberechnungen für Deutschland insgesamt und für die einzelnen Bundesländer bis zum Jahr 2030 unternommen (1). Bei den Berechnungen standen die Autorinnen und Autoren der DJI-Studie vor dem Problem, mit lückenhaften und zum Teil fehlenden Informationen arbeiten zu müssen, etwa zu den bestehenden zeitlichen Angebotsstrukturen. Weder für die Betreuungsumfänge der Kinder noch für die Beschäftigungsumfänge des Personals gibt es vollständige, vergleichbare Zahlen. Grundlage der DJI-Kalkulationen ist die aktuelle Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes aus dem Jahr 2019. Danach steigt die Zahl der hessischen Kinder im Grundschulalter bis zum Jahr 2026 auf 252.000 an, um danach leicht auf 250.500 zu fallen (Abbildung 1). Für die Zahl der zukünftig benötigten Ganztagsplätze ist neben der Zahl der Kinder entscheidend, wie viele Eltern überhaupt einen solchen Ganztagsplatz nachfragen. Laut DJI-Studie nehmen im Ausgangsjahr 51 Prozent aller Grundschulkinder ein Ganztagsangebot wahr, während 68 Prozent der Eltern gerne einen entsprechenden Platz hätten. In einem ersten Szenario werden diese 68 Prozent als Zielwert unterstellt. In einem zweiten Szenario wird hingegen ein weiter steigender Elternbedarf auf 75 Prozent im Jahr 2029 angenommen. In Abbildung 2 wird der für die beiden Szenarien ermittelte Bedarf an zusätzlichen Ganztagsplätzen bis zum Schuljahr 2029/2030 dargestellt. Berechnungsgrundlagen sind die Zahl der Kinder im Grundschulalter und die Nachfrage der Eltern nach Ganztagsplätzen.
Im folgenden Schritt wird ermittelt, wie viele Erzieherinnen und Erzieher erforderlich sind, um die nachgefragten Ganztagsplätze tatsächlich anbieten zu können. Auch hier legt das DJI zwei Szenarien zu Grunde: Für das Szenario 1 wird ein Personalschlüssel von einer Vollzeitstelle für 10 Kinder (1:10) unterstellt, für das Szenario 2 von 1:15. Da nicht jede Erzieherin und jeder Erzieher als Vollzeitkraft arbeitet, sind mehr Fachkräfte erforderlich. Der Hochrechnung liegt die im Mikrozensus für den Bereich „Kinderbetreuung und -erziehung in Grundschulen“ erhobene durchschnittliche Arbeitszeit von 23 Stunden pro Woche zugrunde.
In der Tabelle werden die für das Schuljahr 2029/30 ermittelten Personalbedarfe und die entsprechenden Personalkosten in zwei Varianten dargestellt:
- Im Fachkräftemodell werden nur Erzieherinnen und Erzieher beschäftigt, die Bezahlung erfolgt nach TVöD SuE 8a Stufe 3.
- Im Mischmodell wird der Personalbedarf zu 70 Prozent durch Fachkräfte und zu 30 Prozent durch Personen mit einer einschlägigen Ausbildung ohne Abschluss mit einer Bezahlung gemäß TVöD VKA 2, Stufe 2 abgedeckt.
Bei den Personalkosten sind der Arbeitgeberanteil und eine Sachkostenpauschale berücksichtigt. Außerdem wird – ausgehend vom Jahr 2020 – eine Tarifsteigerung von zwei Prozent pro Jahr unterstellt.
Ganztagsangebote: Betreuung und Förderung
In seiner jüngsten Studie „Entwicklung von Lehrkräftebedarf und -angebot in Deutschland bis 2030“ setzt sich der Bildungsforscher Klaus Klemm dafür ein, für den Ausbau der Ganztagsangebote auch Lehrkräfte einzustellen. Für den Erfolg von Ganztagsschulen komme „der Zusammenarbeit von Erzieherinnen und Erziehern mit Lehrkräften im außerunterrichtlichen Bereich des Ganztags eine hohe Bedeutung“ zu. Dies gelte insbesondere, wenn diese Angebote neben der Betreuung von Kindern auch „deren Förderung im Bereich schulischer Kompetenzen zum Ziel haben.“ (2) Klemm hält einen Lehrkräfteanteil von einem Viertel für gerechtfertigt. Aufgrund der deutlich besseren Bezahlung der Grundschullehrkräfte steigen die Personalkosten in dieser Struktur deutlich an. Dabei ist zu beachten, dass die Lehrkräfte im Gegensatz zu den Erzieherinnen und Erziehern - anders als in Thüringen (HLZ S.16) - nicht bei den Kommunen als Schulträgern, sondern beim Land angestellt wären. Tabelle 2 enthält eine durch die GEW ergänzte Hochrechnung der Kosten auf der Grundlage der ausschließlichen Beschäftigung von qualifizierten Fachkräften.
Scheitern vorprogrammiert?
Ob die in der Modellrechnung ermittelten Erzieherinnen, Erzieher und Lehrkräfte zur Verfügung stehen werden, muss allerdings unter den gegenwärtigen Bedingungen bezweifelt werden, denn schon für die bestehenden Kindertageseinrichtungen fehlt das Personal. Die gravierende Fachkräftelücke in hessischen Kitas wird sich nach Berechnungen der Bertelsmann-Stiftung bis 2030 noch ausweiten, insbesondere wenn pädagogisch sinnvolle Personalschlüssel angestrebt werden (3). Dasselbe Problem stellt sich, wenn für den Ganztag zusätzliche Lehrkräfte eingestellt werden sollen.
Bis 2029 – so die Prognose der Kultusministerkonferenz für das Land Hessen – übersteigt der Bedarf für die Abdeckung des Unterrichts das Angebot um 830 Lehrkräfte. Das heißt, dass der schon jetzt bestehende Lehrkräftemangel im Jahr 2029 größer ausfallen wird - und das ohne Berücksichtigung des Ganztagsausbaus, der zu einem Zusatzbedarf von 950 bis 1.900 zusätzlichen Lehrkräften führt. (4)
Ohne bessere Bezahlung, bessere Arbeitsbedingungen und einen Ausbau der Ausbildungskapazitäten dürfte der Ganztagsausbau kaum gelingen. Außerdem stellt sich die Frage nach den erforderlichen Raumkapazitäten. Die vom Land auf Basis der Bundesmittel bereitgestellten Gelder dürften angesichts eines sowieso bestehenden Investitionsstaus an den Schulen in Hessen kaum mehr als der oft bemühte Tropfen auf den heißen Stein sein.
Kai Eicker-Wolf
(1) Thomas Rauschenbach, Christiane Meiner-Teubner, Melanie Böwing-Schmalenbrock, Ninja Olszenka: Plätze. Personal. Finanzen. Bedarfsorientierte Vorausberechnungen für die Kindertages- und Grundschulbetreuung bis 2030. Teil 2: Ganztägige Angebote für Kinder im Grundschulalter, Dortmund 2021.
(2) Klaus Klemm, Entwicklung von Lehrkräftebedarf und -angebot in Deutschland bis 2030, Berlin 2022, S.17.
(3) Kathrin Bock-Famulla u.a., Fachkräfteradar für Kita und Grundschule, Paderborn 2021.
(4) Kultusministerkonferenz, Lehrkräfteeinstellungsbedarf und -angebot in der Bundesrepublik Deutschland 2021 – 2035. Statistische Veröffentlichungen der Kultusministerkonferenz, Dokumentation Nr. 233, Berlin 2022.