Aus dem Alltag der Sozialen Arbeit

Die Arbeit in einer sozialpädagogischen Jugendwohngruppe

HLZ Mai 2023: Soziale Arbeit

Die sozialpädagogische Wohngruppe ist eine Form der Hilfen zur Erziehung (HzE), die vom Jugendamt dann gewährt werden kann, wenn für Jugendliche und ihre Erziehungsberechtigten ein Zusammenleben nicht mehr vorstellbar und nicht mehr förderlich für die Entwicklung des jungen Menschen ist, wenn Eltern eine konkrete Bedrohung für ihre Kinder darstellen, wenn die Eltern sich mit der Erziehung ihrer Kinder aufgrund eigener Probleme dauerhaft oder auch zeitweise überfordert sehen oder wenn eine besondere Lebenslage des Kindes die Erziehungsfähigkeiten der Eltern derart übersteigt, dass niedrigschwellige Hilfeformen wie die Familienhilfe oder die ambulante Einzelfallarbeit nicht in Frage kommen.

Sozialpädagogische Wohngruppen haben unterschiedliche Konzepte: In einigen muss das Handy abends abgegeben werden, in manchen ist Übernachtungsbesuch erlaubt, in einigen wird für die Jugendlichen gekocht, in anderen versorgen sie sich teilweise oder vollständig selbst. In einigen sind Betreuerinnen an Wochentagen bis abends anwesend, in anderen – und das ist die Mehrzahl – ist durchgängig zumindest eine Betreuerin vor Ort. Es gibt geschlechtlich gemischte und reine Jungen- oder Mädchenwohngruppen. Für Mädchen gibt es zudem das Angebot anonymer Wohngruppen, deren Adresse unbekannt bleibt.

Die sozialpädagogische Jugendwohngruppe schließt die Versorgungslücke für Jugendliche, die aus ihren Herkunftsfamilien herausgenommen sind und anderen Hilfen wie der Pflegefamilie oder dem klassischen „Kinderheim“ entwachsen sind, aber noch nicht in der Lage sind, sich selbst zu versorgen. Die Verselbstständigung ist deshalb ein Langzeitziel vieler Wohngruppenkonzepte.

Der Alltag in der Jugendwohngruppe ist geprägt von einem Miteinander der Jugendlichen untereinander und mit ihren Betreuerinnen und Betreuern. Auch deshalb ist der Wunsch des Jugendlichen, in die Wohngruppe einzuziehen, von zentraler Bedeutung. Nur wenn der Jugendliche Interesse daran hat, in einer Wohngruppe zu leben, kann die Maßnahme erfolgreich sein. Trotzdem ist es mit der Freiwilligkeit, die von Wohngruppen vorausgesetzt werden muss, oftmals nicht so weit her. Viele Jugendliche empfinden die Unterbringung in der Wohngruppe als Zwangsmaßnahme oder Strafe von Seiten des Jugendamtes oder der Eltern.

Das erste Ziel von Wohngruppen ist es, den Jugendlichen einen Ort zu geben, an dem sie zuhause sein können. Sie sollen eine ruhige, angenehme Umgebung bieten, in der sich Jugendliche wohlfühlen können. Daraus sollen sie die Kraft schöpfen, ihr Leben selbstbestimmt zu bewältigen und zu gestalten. Auch deshalb bieten die meisten Wohngruppen jedem jungen Menschen ein eigenes Zimmer als einen Ort höchster Privatsphäre, den Betreuerinnen und Betreuer in der Regel nicht anlasslos und ohne Ankündigung betreten dürfen und der individuell gestaltet werden kann.

Die allermeisten Jugendwohngruppen nutzen das System der Bezugsbetreuung: Obwohl die Teams in Wohngruppen mindestens ein Dutzend Kolleginnen und Kollegen umfassen, gibt es in jedem Team im Idealfall eine Person, manchmal aber auch mehrere Personen, die sich intensiv mit dem jungen Menschen befassen. Sie halten Kontakt zur Schule oder dem Ausbildungsbetrieb der Jugendlichen, unterstützen bei Arzt- und Therapeutensuche und sprechen mit dem Jugendlichen gemeinsam über dessen Belange. Bezugsbetreuerinnen und –betreuer bauen eine intensive Beziehung zu den jungen Menschen auf, die es ihnen erlaubt, auch in Krisenzeiten auf den Jugendlichen einzuwirken. Sie sollen eine besondere Vertrauensperson für „ihre“ Jugendlichen sein und treten nach außen als deren Fürsprecher auf.

Hilfeplangespräche und Zielvereinbarung
Grundlage für die Arbeit der Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen ist das Hilfeplangespräch, das halbjährlich stattfinden soll und in dem ein expliziter Vertrag, der Hilfeplan, erstellt wird. Im Hilfeplangespräch verhandeln Fachkräfte aus dem Jugendamt, Betreuerinnen der Wohngruppe sowie die Eltern bei Minderjährigen gemeinsam mit den Jugendlichen die Ziele der nächsten sechs Monate. Alle Beteiligten verpflichten sich zu konkreten Schritten, die zum nächsten Hilfeplangespräch dann überprüft werden: Was konnte erreicht werden und welche Schritte wurden gegebenenfalls weshalb verworfen?

An der Erfüllung der im Hilfeplan festgelegten Ziele müssen sich alle am Hilfeverfahren beteiligten Personen orientieren. Die Jugendlichen haben hier die Möglichkeit, ein gewisses Maß an Mitsprache geltend zu machen und sich zum Beispiel sportliche oder kulturelle Angebote zu sichern. Außerdem werden die jungen Menschen verpflichtet, an dem zu arbeiten, was als „ihre Themen“ gesehen werden kann: Schulvermeidung, Konsum von Alkohol, Cannabis und anderen Drogen, Schulden und Umgang mit Geld, Körperhygiene, Aggression gegen sich oder andere gesundheitliche und seelische Belange. Dabei unterstützen die Bezugsbetreuerinnen und Bezugsbetreuer die Jugendlichen in einem situationell angebrachten Maß.

Die Arbeit in der sozialpädagogischen Wohngruppe richtet sich maßgeblich nach der Abdeckung des Schichtplans und der Idee der Bezugsbetreuung, dazu kommen Zeiten für Supervision und Teamsitzungen. Anders als in anderen Arbeitsfeldern mit Schichtsystem ist die Schichtarbeit in Wohngruppen oft eine unregelmäßige Schicht ohne feste Rotation in der Arbeitszeit. Dadurch können die Jugendlichen in ihrem Alltag begleitet und Termine außerhalb der Einrichtung wahrgenommen werden.

Zwischen Schichtdienst und Flexibilität
Diese hohe Anforderung an die Flexibilität belastet die Pädagoginnen und Pädagogen. Fallen Fachkräfte aufgrund der belastenden Arbeitsanforderungen aus, werden Lücken im Dienstplan vorrangig durch die Kolleginnen und Kollegen in derselben Wohngruppe gefüllt. „Springer“ und kurzfristige Vertretungskräfte sind „Gift“ für die Jugendlichen, die ihnen fremde Personen in ihrem privaten Wohnumfeld schwer ertragen können. Zudem verursacht der Einsatz solcher „Springer“ für den Arbeitgeber zusätzliche Kosten. Vertreten sich Kolleginnen und Kollegen gegenseitig, sind sie angehalten, ihre Arbeitszeit eigenständig zu „normalisieren“ bzw. auszugleichen. Weniger in freier Verfügung zu arbeiten und damit weniger Bezugsbetreuung zu erbringen, ist jedoch kein Beitrag zur Arbeitszufriedenheit.

Es ist die Herausforderung der Arbeit in der sozialpädagogischen Wohngruppe, eine Balance zwischen den strukturgebenden Regeln und den individuellen Bedürfnissen der einzelnen Jugendlichen zu finden: Individuum und Gruppe stehen mit ihren Bedürfnissen auf Augenhöhe. Das heißt auch, dass der Alltag in der Wohngruppe immer wieder durch die Bedürfnisse der Jugendlichen nach Nähe, Aufmerksamkeit und Anerkennung gestaltet wird. Wie sie diese Bedürfnisse einfordern, ist sehr unterschiedlich und herausfordernd: So kann das Bedürfnis nach Konfliktvermeidung etwa durch Abwesenheit, überangepasste Freundlichkeit oder selbstverletzendes Verhalten eingefordert werden. Die medizinische und emotionale Versorgung verdrängt dann den Streit über andere Themen. Manchmal beobachten wir auch verschiedene Ausdrucksformen bei ein- und denselben Jugendlichen.

Die Pädagoginnen und Pädagogen der Wohngruppe übernehmen nicht die Vormundschaft für die Minderjährigen in ihrer Obhut. Die liegt weiter bei den Eltern, soweit keine Amtsvormundschaft oder eine ehrenamtliche Vormundschaft besteht. Somit sind die Pädagogen der Wohngruppe nicht zu allen Angelegenheiten, die von ihnen betreute Jugendliche betreffen, entscheidungsbefugt: Klassenfahrten, Zeugnisse, aber auch ärztliche Versorgung bedürfen der Zustimmung eines Vormunds und sind deshalb immer wieder mit Wartezeiten verbunden.

Anstrengend, herausfordernd und erfüllend
Wohngruppenarbeit ist eine ständige Koproduktion zwischen den Jugendlichen und ihren Betreuerinnen und Betreuern. Nur wenn beide Parteien sich darauf einlassen, gemeinsam auf ein Ziel hinzuarbeiten, kann dieses Ziel erreicht werden. Jedes neue Kind, jeder neue Jugendliche, der in die Wohngruppe einzieht, ist mit der Verpflichtung verbunden, sich für die individuelle Person zu interessieren, Kontakt aufzunehmen und einen wertschätzenden Umgang zu gewährleisten. Und das auch und gerade dann, wenn wir als „Noch so 'ne Wohngruppe, wo ich bald rausfliege“ gesehen werden.

Die Arbeit belohnt mich dann oft damit, kleine und große Erfolge mitzuerleben: Vom bestandenen Schulabschluss bis zur ersten Rasur, von der ersten Drei minus im Angstfach bis zum ersten Monat frei von Selbstverletzung gibt es wöchentlich kleine und große Erfolge zu feiern.

Gleichzeitig trage ich auch Lasten mit und für die Jugendlichen. Zukunftsängste, Trennungen und Streit in der Familie belasten auch uns Pädagoginnen und Pädagogen. Die Anzahl der vorzeitig beendeten Maßnahmen übersteigt die Zahl der erfolgreich in eine Selbstständigkeit entlassenen jungen Menschen um ein Vielfaches und so ganz lässt sich das Gefühl des Scheiterns nicht stumm stellen.

Pascal Zimmer


Pascal Zimmer ist Sozialpädagoge und arbeitet in einer sozialpädagogischen Jugendwohngruppe, die vom Verein Arbeits- und Erziehungshilfen Frankfurt getragen wird. Im HLZ-Gespräch (Seite 7-9) diskutierte er mit GEW-Kolleginnen und GEW-Kollegen aus anderen Berufen im Sozial- und Erziehungsdienst.