Zwischen Bildungsreform und Interessenvertretung

HLZ Juli/August 2023: 75 Jahre GEW & HLZ

Die GEW Hessen engagiert sich seit 75 Jahren für eine Bildung, die auf Selbstbestimmung, Selbstentfaltung, Vernunftgebrauch, Kritikfähigkeit, Analyse der Herrschaftsverhältnisse, Einsatz für die eigenen Interessen und Mitwirkung für eine demokratische und inklusive Gesellschaft zielt. „Mündigkeit“ und „Emanzipation“ von oktroyierten Vorstellungen sollen im Bildungsprozess angestrebt werden.


Für Emanzipation und Selbstbestimmung


Dieser Bildungsbegriff hatte seine Wurzeln zum einen in der Aufklärung: Kants Leitsatz, dass Aufklärung der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit sei, stand Pate. Aber auch die Forderung der Arbeiterbewegung nach gleicher Bildung für alle Kinder und die These des amerikanischen Philosophen John Dewey, dass Bildung den Menschen zu einem gemeinschaftsbefähigten Wesen macht, prägten den Bildungsbegriff der GEW. Außer diesen Ideengebern hatte der Marburger Pädagoge Wolfgang Klafki großen Einfluss auf die Diskussion über Bildung und Schule in Hessen und in Deutschland. Er stieß die ersten Projekte zur Curriculumreform an, arbeitete an der Revision der Hessischen Rahmenrichtlinien mit und setzte sich für das neue Fach Arbeitslehre ein. Auch bildungspolitisch nahm er seit 1970 durch die kritisch-konstruktive Begleitung der Gesamtschulentwicklung Einfluss. Klafki prägte die didaktischen Überlegungen ganzer Lehrergenerationen, indem er forderte, dass Bildung im Medium des Allgemeinen anhand von epochaltypischen Schlüsselproblemen stattfinden müsse. Zu ihnen zählt er Frieden, Umwelt, Interkulturalität und Leben in der einen Welt, Technikfolgen, Demokratisierung, Verteilungsgerechtigkeit und gesellschaftlich produzierte Ungleichheit, Gleichberechtigung und Menschenrechte, personale Beziehungen und Glücksfähigkeit. Dieses Bildungskonzept setzte sich in der hessischen GEW in den 1960er und 1970er Jahren durch, als eine neue Generation von Lehrkräften in Gewerkschaft und Schule aktiv wurde, die nicht unter dem Nationalsozialismus unterrichtet hatte, sondern sich mit diesem kritisch auseinandersetzte.


Exemplarisch sei hier an den „Kulturkampf“ um die Hessischen Rahmenrichtlinien in den 1970er Jahren erinnert. Die Vertreterversammlung der GEW begrüßte 1973 die Rahmenrichtlinien „als Grundlage der inneren Schulreform“ und lobte insbesondere „die tendenzielle Integration bisher isolierter Fächer und damit die Aufhebung der Tabus, über gesellschaftliche Zusammenhänge nachzudenken“, die „Erziehung zur rationalen Austragung von Konflikten an Stelle von Verschleierung und falscher Harmonisierung“ und das „konsequent demokratische Engagement gemäß den Postulaten des Grundgesetzes“. Als die Landesregierung 1978 eine für alle Lehrkräfte verbindliche „Allgemeine Grundlegung der hessischen Rahmenrichtlinien“ vorlegte, die den Konflikt beilegen sollte, betonte der damalige GEW-Landesvorsitzende Alfred Harnischfeger die Umsetzung des Sozialstaatsgebots als „Teilhaberecht“, das „individuelle und kollektive Interessenswahrnehmung, Chancengleichheit, Selbst- und Mitbestimmung, materielle Grundausstattung, Erziehung zur Solidarität“ einschließe. Und auch Ingrid Haller, Mitautorin der Rahmenrichtlinien und Mitglied des GEW-Landesvorstands, kritisierte die der „Allgemeinen Grundlegung“ zugrunde liegende „Ideologie der pluralistischen Gesellschaft“, die „die Thematisierung gesellschaftlicher Macht- und Herrschaftsstrukturen und antagonistischer Interessensgegensätze“ verhindere.


Auch in den folgenden Jahrzehnten mischte sich die GEW bildungspolitisch ein: in die Debatten über das längere gemeinsame Lernen und das Förderstufenabschlussgesetz von 1985, die ersten Schritte zur Integration behinderter Kinder in die allgemeine Schule (HLZ 5/2023), das Roll-back der Bildungspolitik unter den CDU-geführten Landesregierungen 1987 bis 1991 und seit 1999 und die „Outputsteuerung“ nach dem „PISA-Schock“ von 2000. Sie engagierte sich für die Friedenserziehung im Kontext des NATO-Nachrüstungsbeschlusses von 1979, für die Reform der Grundschulen genauso wie für die Hochschulreform, für frühe Bildung statt „Aufbewahrung“, für die Stärkung der Gesamtschulen, für Inklusion und für bessere Arbeitsbedingungen in Kitas, Schulen und Hochschulen. In allen Diskussionsprozessen ging es immer um die Frage, wie eine zeitgemäße Bildung aussehen müsste, die die Kinder und Jugendlichen darauf vorbereitet, Gesellschaft, Politik und Wirtschaft kritisch zu analysieren, den eigenen Standpunkt zu finden und sich für Demokratie, Gerechtigkeit, den Abbau von Ungleichheit, den Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen und für Frieden einzusetzen.


Die GEW übt den Spagat


Gleichzeitig ist die GEW aber auch die Interessenvertretung der Beschäftigten gegenüber der Landesregierung und allen Arbeitgebern. In dieser doppelten Aufgabe lag und liegt Spannungspotenzial; manche Kolleginnen und Kollegen vertreten den Standpunkt, ohne materielle Ausstattung der Schulen und ohne Angehen der Probleme wie der hohen Stundenverpflichtung und der mangelnden Ausstattung der Schulen mit Lehrkräften sei die Mitarbeit an Bildungsreformen unpolitischer Idealismus. Andere nehmen leidenschaftlich teil an der Weiterentwicklung von Kitas, Schulen und Hochschulen und sind wegen der fortschrittlichen bildungspolitischen Positionen in der GEW aktiv.


Das innergewerkschaftliche Konfliktpotenzial sei an einem historischen Beispiel verdeutlicht, dem Rücktritt der stellvertretenden Landesvorsitzenden Heidi Gattung nach der Landtagswahl 1991, bei der eine rot-grüne Landesregierung unter dem neuen Ministerpräsidenten Hans Eichel (SPD) die Regierung von Walter Wallmann (CDU) ablösen konnte. Heidi Gattung warf der GEW vor, die Chancen im rot-grünen Koalitionsvertrag zu missachten:
„Ich habe in den letzten vier Jahren sehr hart innerhalb der GEW mit Unterstützung vieler Eltern […] gegen die konservative Bildungspolitik der CDU/FDP, für eine demokratische Schule gekämpft. Nun, da es einige Chancen gibt, Teilziele zu verwirklichen, versteckt sich die Mehrheit der GEW-Funktionäre und -Funktionärinnen hinter traditionellen Arbeitsplatzanforderungen.“


Mit dieser „Bürokratenmentalität“ werde „jede vernünftige Diskussion im Landesvorstand abgeblockt.“ (HLZ 6/1991)
Der damalige Landesvorsitzende Klaus Müller hielt dagegen: Die Reformmöglichkeiten im Bildungsbereich müssten genutzt werden, aber die GEW müsse darauf achten, „daß diese Reformen materiell so ausgestattet werden, daß sie von allen Beteiligten als befriedigend angesehen und als beispielhaft in der Öffentlichkeit bezeichnet werden können“ (ebenda).


Inklusion zwischen Wunsch und Wirklichkeit


Der Konflikt zwischen den pädagogischen Zielen der Bildungsgewerkschaft und den materiellen Zielen der Interessenvertretung der Beschäftigen beherrscht bis heute auch die Debatten über die Haltung der GEW zur Inklusion. Da die inklusive Schule und der inklusive Unterricht vielen GEW-Mitgliedern bildungspolitisch aus der Seele sprechen, sind sie bereit, an deren Umsetzung zu arbeiten, auch wenn die materiellen Bedingungen der Umsetzung, z.B. der Ressourcenvorbehalt und die mangelhafte personelle Ausstattung der inklusiven Schulen, ungenügend sind. Andere Kolleginnen und Kollegen wiederum beharren darauf, dass Inklusion nur gelingen kann, wenn die Rahmenbedingungen stimmten. Kolleginnen und Kollegen, die an Förderschulen arbeiten, empfinden die Forderung nach Abschaffung der Förderschulen als mangelnde Wertschätzung ihrer pädagogischen Arbeit. Im Zuge dieser innergewerkschaftlich heftig geführten Debatten lehnte die GEW die Abschaffung des Förderschullehramts ab, das auch als ein auf Separierung zielendes Lehramt kritisiert wird und z.B. in Berlin nicht mehr als separates Lehramt existiert. Die früheren GEW-Vorsitzenden Birgit Koch und Maike Wiedwald forderten die GEW-Mitglieder auf, diesen Streit kollegial, solidarisch und wertschätzend zu führen:
„Die GEW fordert die Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, die die Bundesrepublik Deutschland vor zehn Jahren ratifiziert hat. Die GEW macht – wie kaum eine andere Organisation oder Interessenvertretung – konsequent deutlich, dass für die inklusive Bildung nach dem Wortlaut der Konvention ‚angemessene Vorkehrungen‘ getroffen werden müssen, damit alle Beteiligten gute Lern- und Arbeitsbedingungen haben. Förderschulen werden überflüssig, wenn Inklusion gelingt und die Bedingungen geschaffen worden sind, die eine gute individuelle Förderung sicherstellen. Und genau hierfür setzt sich die GEW aktiv ein. Damit Inklusion gelingt, müssen im Rahmen des von der GEW geforderten Maßnahmen- und Zeitplans die notwendigen Ressourcen bereitgestellt werden.“ (HLZ 12/2019, S.20f.)


Mit dieser Position ihrer Gewerkschaft bleibt den Lehrkräften vor Ort nicht erspart, sich in den Widersprüchen der Umsetzung von Inklusion zu positionieren und sich zu entscheiden, ob sie in multiprofessionellen Teams an den allgemeinen Schulen oder an der Förderschule arbeiten. Aber die Diskussion in der GEW über die Umsetzung der für das segregierende deutsche Schulwesen „revolutionären“ UN-Behindertenrechtskonvention und über die Forderungen nach guten Rahmenbedingungen bietet die Chance, die eigene Entscheidung im Diskurs mit den Kolleginnen und Kollegen in der GEW zu schärfen.


Der Überblick über 75 Jahre Diskurse und Kämpfe zeigt, dass die GEW sich immer engagiert hat für eine qualitativ hochwertige Bildung für alle, die der Emanzipation der Kinder und Jugendlichen, der vertieften Einsicht in die Schlüsselprobleme der Gegenwart im Sinne Wolfgang Klafkis und der Ermutigung, sich für die Lösung dieser Probleme zu engagieren, verpflichtet ist. Sie kämpft für eine inklusive und demokratische Bildung und für gleiche Chancen. Das hat sie in ihren Gliederungen, in den Personalräten, in der HLZ getan, aber auch in ihrer Arbeit in Lehrplankommissionen und bei der Gestaltung der einzelnen Einrichtung. Und unbedingt zu erwähnen ist, dass die GEW mit der Gründung der lea-Bildungsgesellschaft seit 2005 Fortbildungen anbietet, die auf die Bedürfnisse der Lehrkräfte zugeschnitten sind, die gesellschaftliche Entwicklung zum Thema machen und positive gemeinsame Handlungsmöglichkeiten erarbeiten. Die Fortbildungen von lea sind unentbehrlich, da die staatliche Fortbildung seit der Zerschlagung des HILF im Jahre 1997 inhaltlich, besonders fachdidaktisch, ausgedünnt wurde.
Die GEW Hessen kann stolz darauf sein, 75 Jahre konsequent für Gleichheit der Bildungschancen und eine auf Emanzipation und kritischen Vernunftgebrauch ausgerichtete Bildung eingetreten zu sein. Ad multos annos!

Franziska Conrad