Ziviler Ungehorsam

Wie Staat und Gesellschaft auf die „Letzte Generation" reagieren

| HLZ Juli/August 2023: 75 Jahre GEW & HLZ

Alles steht. Immer öfter wird der Verkehr in deutschen Innenstädten blockiert. Normalerweise schafft das eine fehlgeleitete Verkehrspolitik ohne weiteres Zutun, indem sie mehr Raum für Autos in den Innenstädten bereitstellt. Die Folge ist, dass noch mehr Autos in die Stadtzentren strömen und diese verstopfen. Doch heute ist alles anders. Eine Gruppe von Menschen hat sich auf die Fahrbahn begeben, hält Banner hoch und ruft irgendetwas von „Gesellschaftsrat“ und „Stoppt den fossilen Wahnsinn“. Einige kleben sich mit Sekundenkleber auf der Straße fest. Unruhe kommt im unfreiwillig entstandenen Autokorso auf. Manche der Betroffenen machen sich auf den Weg, den Klima-Klebern ihre Meinung zu sagen.

Was individuell beginnt, formt sich in der Gesellschaft zu einer Mehrheitsmeinung: Nach einer Umfrage des NDR vom 19. 1. 2023 lehnen zwischen 73 Prozent und 84 Prozent der Menschen in Deutschland die Protestform der „Letzten Generation“ ab, allerdings mit  starken altersbedingten Unterschieden: Während Menschen über 30 Jahren den Protest zu 72 Prozent ablehnen, halten 51 Prozent der Unter-29-Jährigen den Protest für eher angemessen. Gesamtgesellschaftlich heißt es häufig: Mehr Klimaschutz sei in Ordnung, aber bitte nicht mit Straßenblockaden! Sie werden als nicht zielgerichtet bewertet, weil die Politiker:innen nicht direkt vom Protest betroffen sind. Dabei zeichnet sich ziviler Ungehorsam genau dadurch aus: bewusst Regeln zu verletzen, um auf ein politisches Ziel aufmerksam zu machen. Wo eine Aktion durchgeführt wird, ist immer auch eine strategische Überlegung.

Die Letzte Generation will eine ambitionierte Klimapolitik erreichen und setzt mit ihren ständigen Störaktionen das Thema Klimaschutz fast jeden Tag auf die Agenda der großen Medienhäuser. Fridays For Future und andere klimapolitische Bewegungen sind darin ebenfalls erfolgreich, doch die Letzte Generation erzeugt mit den unangemeldeten Aktionen deutlich mehr Resonanz. Wird die Effektivität des Protests an der Öffentlichkeitswirksamkeit gemessen, sind Straßenblockaden, Protestmärsche und Beschmutzungen von Gemälden und Gebäuden die richtige Protestform.


In der Politischen Theorie herrscht eine rege Diskussion, wie ziviler Ungehorsam definiert werden soll, wann er legitim ist und welche Rolle er in einem demokratischen Staat spielt. Fest steht: Ziviler Ungehorsam unterscheidet sich auf der einen Seite von regulären Beteiligungsformen wie Demonstrationen, Petitionen oder dem parlamentarischen Wettbewerb, und ist auf der anderen Seite nicht mit extremistischen, terroristischen oder revolutionären Praktiken gleichzusetzen.
 

Analysen der Politischen Theorie

Fast alle Theorien stimmen überein, dass es ein absichtlicher Gesetzesbruch ist, der auf ein politisches Ziel aufmerksam machen will. Dabei geht es meist um die Änderung eines Gesetzes, von politisch vorherrschenden Meinungen oder einer Institution: Die Demokratie soll in den Augen der Protestierenden demokratisiert werden, denn auch eine Mehrheit kann sich irren. Jürgen Habermas beschreibt im Zuge der Proteste in den 80er-Jahren, dass der Rechtsstaat kein fertiges Gebilde ist, sondern ein „anfälliges, irritierbares Unternehmen“, das bei wechselnden Umständen erneuert oder erweitert werden muss (1).


Ziviler Ungehorsam ist ein Mittel, um bei politischen Auseinandersetzungen auf die Dringlichkeit des zu erreichenden Ziels hinzuweisen. Zivil bedeutet in diesem Zusammenhang, dass dem jeweiligen Gegenüber mit Selbstbeherrschung begegnet wird und direkte physische Gewalt gegen Menschen prinzipiell abgelehnt wird. Ob Selbstverteidigung oder Sachbeschädigung legitime Mittel von zivilem Ungehorsam sind, muss im Einzelfall geprüft werden und wird in der Politischen Theorie intensiv diskutiert. In der deutschen Rechtsprechung wird eine Straßenblockade nach § 240 Abs. 2 StGB als Nötigung und damit als Gewalttat bewertet. Bei Straßenblockaden der Letzten Generation sind weder die Betroffenen noch die Polizei direkter physischer Gewalt ausgesetzt. Der Vorwurf, es handele sich bei dem Protest um Extremismus und Terrorismus, ist so falsch wie gefährlich, da er rechte militante Netzwerke relativiert.


Nein zu dieser Klimapolitik

Das symbolische Blockieren des Verkehrs drückt ein „Nein“ zur bestehenden Klimapolitik der Bundesregierung, aber auch ein „Nein“ zur gesellschaftlichen Praxis aus. Die Politikwissenschaftler Markus Wissen und Ulrich Brandt bewerten die westliche Lebensweise als „imperial“ (2). Was bei einigen Menschen Unverständnis auslöst, versuchen die Autoren folgendermaßen zu erklären: Das alltägliche Leben in den globalen kapitalistischen Zentren wird nur durch die Verfügung von Arbeitskraft und Naturausbeutung andernorts ermöglicht. Um diese Praxis zu beenden, braucht es eine schnelle sozial-ökologische Transformation (HLZ S. 28f.).


Ziviler Ungehorsam ist in der Klima­bewegung keine Neuheit. Die Proteste der 80er-Jahre waren von Anti-Atomkraft-, Umwelt- und Frauenbewegungen geprägt, die mit Menschenketten, Straßen- oder Schienenblockaden gegen die Regierung protestierten. In der heutigen Diskussion wird häufig das Argument vorgebracht, dass Straßenblockaden dem Ansehen von Klimaschutzmaßnahmen schaden würden. Das mag auf den ersten Blick zutreffen, da viele Menschen den Protest ablehnen. Betrachtet man dagegen die zentralen Forderungen der Letzten Generation, werden diese durchaus in der Bevölkerung unterstützt:
Zum 9-Euro-Ticket sagen 69 Prozent der Befragten  „ja“ oder „eher ja“.


Der Einführung eines bundesweiten „Bürgerrats Klima“ stimmen 53,9 Prozent der Menschen in Deutschland zu (3).
42 Prozent der Befragten sind der Meinung, dass ein Tempolimit von 130 km/h auf deutschen Autobahnen auf jeden Fall eingeführt werden sollte, weitere 22 Prozent waren eher dafür. (4)
Betrachtet man die gesamte Klimaschutzbewegung von NABU über Fridays For Future bis Ende Gelände, bedarf es beider Strategien: regulärer Beteiligungsformen, die um Mehrheiten werben, und zivilem Ungehorsam, der Klimaschutz in seinen vielfaltigen Facetten mit Nachdruck fordert.


Was die Klimapolitik angeht, wurden Jahrzehnte für mögliche Anpassungen in den wichtigsten Sektoren vergeudet. Dänemark hat die Wärmewende bereits nach der Ölkrise 1973 und der folgenden Rezension vollzogen und das Fernwärmenetz so ausgebaut, dass heute über zwei Drittel der Haushalte an das Netz angeschlossen sind. Aktuell werden die verbleibenden fossilen Kraftwerke durch Kraftwerke mit erneuerbaren Energieträgern ersetzt. Die Versäumnisse der falschen Energiepolitik in Deutschland müssen nun in Kürze aufgeholt werden.

 

Unverhältnismäßige Razzien

Die Ereignisse vom 24. Mai 2023 sind beunruhigend. Im Auftrag des bayrischen Landeskriminalamts und der Generalstaatsanwaltschaft München wurden 15 Hausdurchsuchungen in sieben Bundesländern durchgeführt, zwei Konten beschlagnahmt und Vermögenswerte der Letzten Generation sichergestellt. Außerdem wurden die Webseite und mehrere E-Mail-Adressen gesperrt. Die Generalstaatsanwaltschaft begründete ihr Vorgehen mit der Aussage, die Letzte Generation stelle „eine kriminelle Vereinigung gemäß §129 StGb dar“. Zum Zeitpunkt der Razzien lagen keine Beweise für diese Anschuldigung vor und es bleibt gerichtlich zu klären, ob dem tatsächlich so ist.


taz-Redakteurin Carolina Schwarz hat leider recht, wenn sie auf die deutsche Tradition staatlicher Repression „als Antwort auf linken Widerstand“ hinweist, denn das Vorgehen der staatlichen Behörden war nichts anderes als eine Vorverurteilung der klimapolitischen Aktivist:innen. Der Frankfurter Rechtswissenschaftler Professor  Matthias Jahn bewertete die Razzien als „unverhältnismäßig“, weil die Ermittlungen noch nicht abgeschlossen waren und das gesendete Signal den Umständen nicht entspreche (5).


Die UNO forderte mehr Schutz für Klima-Aktivist:innen und auch viele andere klimapolitische Organisationen solidarisierten sich mit der Letzten Generation, aber die breite Welle der Solidarität blieb aus. Immerhin erhielt sie am Tag nach der Beschlagnahme ihrer Finanzmittel Spenden von etwa 216.000 Euro. Zum Vergleich: Im gesamten Jahr 2022 erhielten sie insgesamt nur 900.000 Euro.


Spätestens nach den Razzien ist klar, dass Klima-Aktivismus die Solidarität der Zivilgesellschaft und damit auch der Gewerkschaften braucht. Bei den Forderungen gibt es bereits Schnittmengen. Auch der DGB hält das 49-Euro-Ticket zur Umsetzung der Verkehrswende für nicht ausreichend:
„Umweltfreundliche Verkehrsmittel machen uns zudem langfristig unabhängiger von fossilen Energieträgern wie Gas und Öl. Der DGB fordert bezahlbare Mobilität, weitere Investitionen in die Infrastruktur von Bus und Bahn, Rad- und Fußverkehr und eine umfassende Personalstrategie, die die Beschäftigten im öffentlichen Nahverkehr entlastet.“ (6)


Ja, Straßenblockaden sind unbequem, und wenn Menschen aufgehalten werden, sorgt das berechtigterweise für wenig Begeisterung. Das Problem sind aber nicht die Protestierenden auf der Straße, die mittlerweile zunehmend der Gewalt von Autofahrer:innen ausgesetzt sind, sondern eine völlig unzureichende Klimapolitik.


Dennis Kahlenberg

Dennis Kahlenberg ist Referent der GEW Hessen für Web und Grafik und schreibt seine Master-Arbeit über Fragen des zivilen Widerstands.


(1) Jürgen Habermas (1985): Die neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt: Suhrkamp Verlag, S. 87 f.
(2) Ulrich Brand und Markus Wissen (2017): Imperiale Lebensweise – Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Kapitalismus, München: oekom Verlag.
(3) www.buergerrat.de
(4) de.statista.com (Veröffentlichung vom 12.4.2023)
(5) www.hessenschau.de vom 30.5.2023
(6) www.dgb.de/echt-gerecht-solidarisch-durch-die-krise