Von der Bildungsgewerkschaft zur Tarifgewerkschaft

HLZ Juli/August 2023: 75 Jahre GEW & HLZ

Hajo Dröll beschreibt in dieser HLZ und ausführlicher in der Festschrift den Weg der GEW Hessen vom Lehrerverein zur Bildungsgewerkschaft (HLZ S. 9) und weiter zur Tarifgewerkschaft.


Der Bundes-Angestelltentarifvertrag (BAT) regelte bis 2006 die Bedingungen aller im öffentlichen Dienst (öD) beschäftigten tariffähigen Angestellten bei Bund, Ländern und Gemeinden. Er galt als „Leitwährung“, weil er auch das Niveau für vergleichbare Tätigkeiten außerhalb des öD vorgab. Der BAT wurde systematisch schlechtgeredet, um – in Zeiten der Agenda 2010 - zwei ersetzende Absenkungstarifverträge abzuschließen: den TVöD für die Beschäftigten von Bund und Kommunen und den TV-L für die Beschäftigten der Länder.


Durch die umfassende Geltung des BAT wurden die Tarifverhandlungen zentral geführt, weit weg von den GEW-Landesverbänden, die für die Mobilisierung zuständig waren und darin auch nicht gefordert wurden. Durch die neue Trennung der Tarifverträge in Bund/Kommune und Länder und das neue Säulenmodell wurden plötzlich alle tariffähigen Bereiche der GEW einbezogen, und es entstand eine relativ breite Beteiligung von Mitgliedern in den Tarif- und Verhandlungskommissionen.
Hessen trat 2004 unter der Koch-CDU und heftiger Kritik der GEW aus der TdL aus, um die Bedingungen weiter zu verschlechtern. Anfang 2010 gelang es dann, den Tarifvertrag-Hessen (TV-H) zu schließen, der sich eng an den TV-L anlehnte und damit den Sonderweg Hessens gehörig verbaute.


Es gibt in Hessen zwar etwa 10.000 angestellte Lehrerinnen und Lehrer (2020), aber an den Schulen, wo die beamteten Lehrkräfte vorherrschen, arbeiten sie vereinzelt und machen meist nicht einmal eine Handvoll Beschäftigter aus. Zudem haben etwa zwei Drittel nur einen Fristvertrag, was enorm auf die Kampfbereitschaft drückt. Einzige Ausnahme von dieser Konstellation sind die angestellten Sozialpädagogischen Fachkräfte an den Förderschulen.


Die Erzieherinnen kommen...


Der TVöD von 2005 betraf in der GEW hauptsächlich die Erzieherinnen. Diese spielten traditionell in Hessen eine noch untergeordnetere Rolle als die anderen randständigen Bereiche. Die Fachgruppe Sozialpädagogische Berufe der GEW Hessen umfasste 1998 gerade einmal 2,8 % der Mitgliedschaft, und  Erzieherinnen in innergewerkschaftlichen Funktionen gab es schon gar nicht. Die hessische GEW hat bei den Erzieherinnen klein angefangen. Die ersten Streikerfassungen erfolgten im Schlepptau von ver.di an nicht immer gut zugänglichen Orten, z. B. im Kleinbus auf dem Parkplatz. Seit 2004 steigen die Mitgliederzahlen, die beiden Streikwellen 2008 und der 12-wöchige Erzwingungsstreik 2009 belegen: Streik ist in aller Regel die beste Mitgliederwerbung.


Vier Wochen Erzwingungsstreik 2015 brachten nicht den erhofften Durchbruch bei der Aufwertung des Sozial- und Erziehungsdienstes und führten zu Enttäuschung in der Mitgliedschaft. Dennoch hatten sich bis 2020 die Mitgliederzahlen bei den sozialpädagogischen Berufen gegenüber 1998 auf über 2.100 mehr als verdreifacht. Seither steigen sie weiter leicht an und sind inzwischen (2023) etwa viermal so hoch. Hier wirkt sich auch die Möglichkeit aus, dass sich die Beschäftigten Freier Träger an Tarifauseinandersetzungen beteiligen können, deren Haustarifverträge durch eine „dynamische Verweisung“ an den TVöD gebunden sind. In Hessen gilt das für die AWO und die asb-Lehrerkooperative.    


Eine Reise von 10.000 Meilen beginnt mit dem ersten Schritt: Das chinesische Sprichwort gilt auch für die GEW. Der Weg zur Tarifgewerkschaft ist lang und bei weitem noch nicht abgeschlossen. Die sozialpädagogischen Berufe,  insbesondere die Erzieherinnen, sind schon recht weit voran gekommen. Die angestellten Lehrkräfte und Uni-Beschäftigten im TV-H haben noch mit vielen Anfangsschwierigkeiten zu kämpfen. An den Unis sind es vor allem die Befristungen, bei den angestellten Lehrkräften auch die Vereinzelung am Arbeitsplatz. Die verbeamteten Lehrkräfte haben das Loslaufen schon geübt, aber sich noch nicht entschließen können, die Reise auch anzutreten.


Zum Schluss noch ein Blick auf das Verhältnis zu ver.di: In vielen Tarifkommissionen sitzen ver.di und GEW gleichberechtigt nebeneinander und arbeiten gut zusammen: bei vielen privaten Trägern, bei den Verhandlungen über den  TV-H oder an den Universitäten. Bei den Kita-Beschäftigten, für die der TVöD gilt, hingegen knirscht es mitunter hörbar. Gewerkschaftspolitik im Sinn der Mitglieder muss darauf achten, dass die Solidarität nicht auf der Strecke bleibt, wenn sie die Interessen der Beschäftigten gegen die Arbeitgeber durchzusetzen will.

Hajo Dröll