75 Jahre GEW Hessen

Vom Lehrerverein zur Bildungsgewerkschaft | HLZ Juli/August 2023: 75 Jahre GEW & HLZ

Gelegentlich lässt sich ein Geburtstermin gar nicht mehr so genau bestimmen, insbesondere wenn der Blick zurück ganz unterschiedliche Ergebnisse zeitigt. Die Geschichte der GEW Hessen führt zurück ins Jahr 1947, als sich in Frankfurt der Allgemeine Deutsche Lehrerinnen- und Lehrerverein (ADLLV) für den Regierungsbezirk Darmstadt konstituierte, dem im September der Bezirksverband Kurhessen folgte. Die erste Ausgabe einer „Hessischen Lehrer-Zeitung“ als „Zeitschrift für alle Lehrer des Landes Hessen“ erschien mit Genehmigung der amerikanischen Militärbehörde am 1. Juli 1948 (HLZ S. 18).  Im Oktober 1948 wurde der Landesverband des ADLLV gegründet. Der Beitritt des ADLLV Hessen zu der zunächst in der britischen Zone bestehenden Gewerkschaft Erziehung und Wissenschschaft (GEW) erfolgt im Juni 1949, der endgültige Beitritt der GEW in den Westzonen zum DGB wird im Oktober 1949 beschlossen.


Über die Themen, die die GEW in den Jahren des Aufbaus bewegten, geben die vier Forderungen der GEW auf dem Münchner Gründungskongress des DGB Auskunft:

  • Vollbeschulung aller Kinder und Jugendlichen
  • Reduzierung der Klassenstärke auf zunächst 40 Schüler
  • eine vordringliche Berücksichtigung der Schulaus- und -neubauten im öffentlichen Haushalt
  • Unterstützung bedürftiger Kinder und Jugendlicher, damit diese eine ihren Anlagen entsprechende Ausbildung machen konnten.

Ging es also vordringlich in den ersten Jahren um Fragen der Organisation und um den Aufbau des Schulwesens nach dem Krieg, so kreisten die inhaltlichen Diskussionen um die Frage der Entnazifizierung und um Schulreformen in Hessen. 97 Prozent der Lehrkräfte waren Mitglied im Nationalsozialistischen Lehrerbund gewesen, sehr viele waren auch aktiv tätig. In der ersten strengen Phase der Entnazifizierung wurden sehr viele Lehrkräfte entlassen, später aber wiedereingestellt. Die Lehrerverbände wehrten sich gegen die Entnazifizierung, traten für die Wiedereinstellung der Entlassenen ein und verharmlosten die Betätigung der Lehrkräfte während des Nationalsozialismus.


Bildungspolitisch unterstützte die GEW, wenn auch nicht sehr kämpferisch, die Ansätze von Kultusminister Erwin Stein (CDU) für eine „differenzierte Einheitsschule“ und die Verlängerung der gemeinsamen Grundschulzeit auf sechs Jahre. Diese Schulreform scheiterte am Widerstand konservativer Vertreter aus Philologenverband, katholischer Kirche und Unternehmerverbänden.


Erst Anfang der 1960er Jahre wird die GEW zu einem Motor der Bildungsreform: Die Beschlüsse zur Landschulreform und zur universitären Ausbildung der Lehrkräfte an Volksschulen aus dem Jahre 1956 werden in der Darmstädter Erklärung 1965 aufgegriffen. Dabei gehen die Vorschläge zur Schulreform Hand in Hand mit den ersten großen Kampagnen für eine bessere Ausbildung und Bezahlung der Volksschullehrkräfte im Vergleich zu den Kolleginnen und Kollegen an den Gymnasien. Wer darüber mehr wissen will, sei auf die Festschrift der GEW zum 40-jährigen Bestehen verwiesen (HLZ S.21) und die vollständige Chronik in der Festschrift zum 75. Geburtstag.
Die Beiträge in dieser HLZ konzentrieren sich auf die Veränderungen der GEW in den letzten 30 Jahren: vom Lehrerverband zur Bildungsgewerkschaft und zur Tarifgeschwerkschaft.

Obwohl im Namen ausdrücklich die Wörter „Erziehung“ und „Wissenschaft“ vorkommen, spielten alle außerschulischen Bereiche in der frühen GEW kaum eine Rolle. Tariffragen standen nicht auf der Tagesordnung und das Streikrecht für Beamte blieb ein Lippenbekenntnis: „Wir werden einfach nicht streiken – aus Verantwortungsgefühl gegenüber unseren Kindern und deren Eltern, aus unserem Berufsethos heraus! Nicht, weil wir nicht streiken dürfen, sondern weil wir nicht streiken wollen.“ (HLZ 19/1954)


Erste konkrete Erfahrungen in Arbeitskämpfen machte die GEW Hessen erst in den 1980er Jahren (HLZ S. 12f.), als vielen ausgebildeten Lehrkräften der Zugang zum staatlichen Schuldienst durch die Nichteinstellungspolitik verwehrt wurde, die sich dann bei privaten Bildungsfirmen verdingen mussten.


Tarifkämpfe bei Bildungsfirmen


Dieser private Sektor blühte in den 80er und 90er Jahren auf. Entrechtete Honorararbeit war das Regelbeschäftigungsverhältnis, was jeden Streik fast unmöglich machte. Aber es gab doch Ausnahmen, in denen das Normalarbeitsverhältnis – und damit Arbeitskampffähigkeit – galt. Erste Erfolge verzeichnete die GEW mit dem Streik bei der GfbA 1982 in Arolsen und Wolfhagen, vor allem aber 1989/90 bei den bundesweiten Streiks bei den weltweit tätigen Berlitz-Sprachschulen. Die Streikaktionen, die sich über ein halbes Jahr hinzogen und mit dem Abschluss eines Tarifvertrags endeten, wurden formell vom Bundesvorstand geleitet, wären aber ohne die hessischen GEW-Kollegen Wilfried Metsch (später Mitglied des Landesvorstands) und Nikolaus Tomiuk (Angestelltenausschuss Franfurt) in der Frankfurter Niederlassung nicht denkbar gewesen. Die Auseinandersetzungen mit der Betriebsleitung und ihrem „European Division Commander“, so die Sprachregelung im amerikanischen Konzern, waren heftig. Auch bei anderen bundesweiten Tarifkämpfen, u. a. beim Internationalen Bund oder der DEKRA Akademie, waren Kollegen aus Hessen eine treibende Kraft.


Streikende bei Bildungsfirmen ernteten in der Regel innerhalb der GEW viel Zuspruch, doch blieben diese Arbeitskämpfe ohne Einfluss auf die Organisationspolitik und -kultur. Eine weitreichende Änderung trat erst nach der Jahrhundertwende ein.

 

Erste Streiks der Beamtinnen und Beamten


Die hessische GEW hat die verbeamteten Lehrkräfte bisher siebenmal zum Streik aufgerufen (HLZ S. 12f.). Es ging dabei wesentlich um die Arbeitszeit und bei den letzten Streiks um die Übertragung des Tarifergebnisses auf die Beamten. Die Abkehr von den oben zitierten Positionen zum Beamtenstreikrecht wird darin deutlich, aber auch der Unterschied zu den Arbeitskämpfen bei den Bildungsfirmen. Diese waren durch herrschendes Arbeitsrecht gedeckt. Der damals größte Bildungsunternehmer Deutschlands Pierre Semidei hatte nach den Streiks bei den Frankfurter Euro-Schulen 1995 versucht, die hessische GEW zu einer sechsstelligen Schadensersatzsumme wegen illegaler Streiks verurteilen zu lassen. Er scheiterte in zwei Instanzen und zog danach seine Klage vor dem Bundesarbeitsgericht wegen mangelnder Aussicht auf Erfolg zurück.


Die Beamtenstreiks - offiziell illegal - waren jeweils mit einem enormen Aufwand an Überzeugungsarbeit und anschließender Auseinandersetzung um die dienstrechtlichen Folgen belastet. Die juristischen Rahmenbedingungen haben jeweils die Möglichkeit eines Erzwingungsstreiks verhindert, wie es bei den Arbeitskämpfen gegeben war, die vom herrschenden Streikrecht gedeckt wurden.


Auf dem Weg der GEW zur Tarifgewerkschaft spielten nicht diese Beamtenstreiks, sondern drei andere Entwicklungen eine zentrale Rolle: die Organisationsreform nach der Wiedervereinigung, die geänderte Tariflandschaft und eine Eintrittswelle von Erzieherinnen.


Durch die Vereinigung mit der ehemaligen DDR-Gewerkschaft Unterricht und Erziehung kamen 1991 viele Mitglieder aus Kindergärten, Horten und Hochschulen zur GEW, die organisatorisch darauf nicht vorbereitet war. Hessen hatte schon 1990 eine Strukturkommission eingerichtet, die die Satzung erfolgreich auf vier Säulen ausrichtete:

  1. Vorschulische Einrichtungen, Kindertagesstätten, Horte und sozialpädagogische Berufe
  2. Schule
  3. Hochschule und Wissenschaft
  4. Weiterbildung

Zentral mahlten die Mühlen langsamer. 1997 begann überraschend eine Diskussion über den Zusammenschluss der bisher selbstständigen Gewerkschaften ÖTV, DAG, HBV, DPG und IG Medien zu einer neuen großen Dienstleistungsgewerkschaft. Die Einladung an die GEW, sich an den Gesprächen zu beteiligen. löste in der Mitgliedschaft eine heftige Debatte aus. Mit großer Mehrheit entschieden sich die Delegierten 1999 auf einem Sondergewerkschaftstag, die Eigenständigkeit der GEW zu wahren.


Dies befeuerte die GEW-eigenen Initiativen zur Organisationsentwicklung. Die GEW Hessen beteiligte sich an vier Pilotprojekten des Bundes und schuf im Jahr 2000 unter der Landesvorsitzenden Gonhild Gerecht (1993 – 2002) erstmals drei halbe Stellen für die Bereiche Weiterbildung/Bildungsmarkt und Hochschule, die 2003 entfristet wurden. Bereits seit 1990 existierte eine halbe Stelle für den Bereich Sozialpädagogik. 2007 wurde auf Initiative des Vorsitzenden Jochen Nagel (2002-2017) ein Tarifsekretariat geschaffen, dessen Arbeit zuvor von der Rechtsstelle, vom Landesangestelltenausschuss und den Büros für Weiterbildung getragen wurde. Seitdem vertritt Rüdiger Bröhling diesen Bereich äußerst kenntnisreich und verhandlungsgeschickt.


Mit dem Vier-Säulen-Prinzip der Bildungsgewerkschaft war der erste Schritt zur Tarifgewerkschaft getan. Weitere Entwicklungen folgten... (HLZ S. 14).


Hajo Dröll