Streit und Streik für bessere Arbeitsbedingungen

HLZ Juli/August 2023: 75 Jahre GEW & HLZ

Die Empfehlungen der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission (SWK) der Kultusministerkonferenz zur Behebung des Lehrkräftemangels stießen Ende Januar 2023 auf ein großes Medienecho und sorgten für Empörung und erhebliche Gegenwehr. Wirklich Neues enthalten sie allerdings nicht: Reduktion der Unterrichtsermäßigung aus Altersgründen, Erhöhung der Unterrichtsverpflichtung in Anlehnung an das Konzept der Vorgriffsstunden, Flexibilisierung des Einsatzes von Lehrkräften durch Erhöhung der Klassenfrequenzen sind nicht nur in Hessen alte Hüte. Alles wurde in den letzten 30 Jahren in Hessen ausprobiert, ohne dass es jedoch irgendwann gelang, die Unterrichtssituation oder die Lehrerversorgung dadurch nachhaltig zu verbessern. Im Gegenteil: Frust und Verärgerung bei den Lehrkräften erreichten Höchstmarken, die Bereitschaft zu Protestmaßnahmen bis hin zum Streik bei den schulischen Beschäftigten wuchs jeweils und war wie 1999 mit wahlentscheidend für die Ergebnisse von Landtagswahlen.


Der Kampf für bessere Arbeitsbedingungen war in der Geschichte der GEW Hessen vor allem auch ein Abwehrkampf gegen geplante oder realisierte Verschlechterungen. In diesen Kämpfen hat sich die Haltung der Beschäftigten und der GEW zum Streikrecht als dem wirkungsvollsten Kampfmittel einer Gewerkschaft geändert. Aus der apodiktischen Aussage, dass Lehrkräfte zwar „streiken dürfen“, aber „aus dem Verantwortungsgefühl gegenüber unseren Kindern und deren Eltern, aus unserem Berufsethos heraus nicht streiken wollen“ (HLZ 1954), ist das uneingeschränkte Bekenntnis zum Streikrecht für alle, auch für Beamtinnen und Beamte, geworden, das jetzt auch vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) gelandet ist.


Im Folgenden einige Stichworte und Blitzlichter über erfolgreiche, erfolglose, gescheiterte und verhinderte Arbeitskampfmaßnahmen an hessischen Schulen:

 

1973: Ein Kompromiss und sein Scheitern

 

Im Februar 1969 kam es erstmals zu spontanen Protestdemonstrationen und Arbeitsniederlegungen der hessischen Lehrerschaft gegen die Absicht der Bundesregierung, mit einem Besoldungsneuregelungsgesetz Sperrvorschriften in der Lehrerbesoldung zu erlassen. Die Aktivitäten, die vor allem von jungen Lehrkräften einer neuen Generation im Zuge einer allgemeinen Politisierung getragen wurden, zwangen den GEW-Landesvorstand dazu, einen Streik vorzubereiten. Die Landesregierung versuchte, den Streik gerichtlich zu unterbinden, scheiterte aber vor dem Frankfurter Verwaltungsgericht, das eine einstweilige Verfügung ablehnte. Daraufhin bot die Landesregierung Verhandlungen an und zog einen Erlass zur Streichung von Entlastungsstunden zurück. Im Sommer 1973 wurde ein Kompromiss erreicht mit einem Gesamtanrechnungsdeputat von 100.000 Stunden und einem transparenteren Verteilungsverfahren. Im Dezember 1975 wurde diese Vereinbarung von der Landesregierung ohne die Beteiligung von Gewerkschaften und Personalräten in einer Nacht-und-Nebel-Aktion gekippt. Wirksame Gegenmaßnahmen der GEW blieben aus.

 

1974: Fast ein Streik der GEW in Hessen


Die Absicht der Bundesregierung, die Lehrerbesoldung bundesweit zu vereinheitlichen, war für die Lehrkräfte an hessischen Grundschulen, Hauptschulen und Gesamtschulen mit einer Absenkung von A 13 auf A 12 verbunden. Bei der Urabstimmung für einen Streik wurde mit 73,4 % der Stimmen das Quorum von 75 Prozent knapp verfehlt. Der Streik wurde vom Landesvorsitzenden Gustav Ludwig abgeblasen. Der Ausschuss Junger Lehrer und Erzieher (AJLE), der sich danach immer lauter zu Wort meldete, machte „die zwiespältige Taktik“ des Landesvorstands, „das ständige Hin und Her bis zur letzten Minute“ für das Scheitern verantwortlich. Die Absenkung der Besoldung der Lehrkräfte ohne universitäre Ausbildung von A13 nach A12 blieb für die Lehrkräfte an Grundschulen bis 2023 wirksam und landete erst nach langen Kämpfen 50 Jahre später im Papierkorb der Geschichte.

 

1979: Gegen Lehrerarbeitslosigkeit!


Zu Beginn der 1980er Jahre waren in der alten Bundesrepublik rund 100.000 Lehrerinnen und Lehrer arbeitslos. Zahlreiche Lehrkräfte wurden mit befristeten BAT-Verträgen in Zwangsteilzeit eingestellt und auch Honorarverträge hielten Einzug in hessische Schulen. Für die GEW und die von ihr dominierten Personalräte, die mit dem Problem der Massenarbeitslosigkeit – anders als andere Gewerkschaften – nie zu tun hatten, ergaben sich neue Schwerpunkte der Arbeit. Die hessische GEW unterstützte die Initiativen arbeitsloser Lehrkräfte 1985 mit der Gründung des Trägervereins „Lehrer organisieren Selbsthilfe“ (LOS). Auftrieb für die Forderungen der GEW zur Arbeitszeitverkürzung brachte Mitte der 1980er Jahre der Kampf von IG Metall und IG Druck und Papier um die 35-Stundenwoche, der von vielen GEW-Mitgliedern ideell und mit konkreten Solidaritätsaktionen unterstützt wurde.

 

1989: Der bisher größte Streik


1987 kam es durch den Wahlsieg von CDU und FDP zu einer politischen Wende. Mit Walter Wallmann zog erstmals in Hessen kein SPD-Politiker in die Staatskanzlei ein. Mit der Weigerung der Landesregierung, die Reduzierung der Arbeitszeit im öffentlichen Dienst auf 38,5 Stunden auf die Lehrerinnen und Lehrer zu übertragen, erreichte die Empörung an den Schulen neue Höhepunkte und mündete 1989 in die größte Streikaktion der GEW seit ihrer Gründung: Nach einer erfolgreichen Urabstimmung traten am 2. März 1989 rund 8.000 hessische Lehrkräfte in den Streik. Nach einem machtvollen Auftakt auf dem Römerberg zogen rund 15.000 Menschen zur Frankfurter Festhalle.


Auf den Erfolg des Streiks musste die GEW bis 1991 warten, als die Pflichtstundenzahl aller Lehrkräfte um eine Stunde reduziert und an die Arbeitszeit im öffentlichen Dienst angepasst wurde. Für die 7.777 Streikteilnehmer gab es einen Verweis in der Personalakte und Gehaltsabzüge, gegen Schulleitungsmitglieder wurden Geldbußen verhängt.

 

1994: Das Nikolauspapier


Die Hoffnungen auf die neue rot-grüne Regierung unter Hans Eichel (SPD) wurden schnell enttäuscht. In seinem am Nikolaustag 1994 vorgelegten „Nikolauspapier“ kündigte Kultusminister Holzapfel (SPD) kurz vor der Landtagswahl massive Verschlechterungen an: Stellenstopp, Kürzung von Deputatsstunden und Erhöhung der Pflichtstundenzahl unter anderem in Abhängigkeit von den Klassengrößen. Der für Tariffragen im GEW-Hauptvorstand zuständige Heinz Putzhammer sprach von einem „Horror-Katalog“. Die damalige GEW-Landesvorsitzende Gonhild Gerecht konstatierte, dass „es für die hessische GEW bei den politischen Parteien derzeit keinen Bündnispartner“ gebe. Trotz Verbots, der Androhung von dienstrechtlichen Konsequenzen und der Verhängung eines Zwangsgeldes gegen die hessische GEW von 20.000 Euro durch den – im Amt bestätigten - Kultusminister Holzapfel nahmen an dem zweistündigen Warnstreik im März 1995 mehr als 4.000 Kolleginnen und Kollegen teil.

 

1997: Das Tischtuch ist zerschnitten


Mit der Umsetzung wesentlicher Eckpunkte des Nikolauspapiers und der Einführung einer Vorarbeitsstunde war das Tischtuch zwischen der GEW Hessen und der rot-grünen Landesregierung endgültig zerschnitten. Am 1. Juli 1997 traten mehr als 7.000 Lehrkräfte in den Streik, 10.000 versammelten sich auf dem Frankfurter Römerberg.

 

1999: Rot-Grün verliert die Landtagswahl


Die Landtagswahl 1999 gewann gegen allen Prognosen die CDU. In der ersten Amtszeit konnten sich Ministerpräsident Roland Koch und Kultusministerin Karin Wolff auf die ideologische Wende in der Bildungspolitik konzentrieren, die von der Vorgängerregierung eingeführten Arbeitszeitverlängerungen blieben bestehen.

 

2003: Operation „Düstere Zukunft“


2003 konnte die CDU die absolute Mehrheit erringen und wähnte sich ohne Rücksicht auf einen Koalitionspartner und am Beginn einer fünfjährigen Legislaturperiode unangreifbar.


Die „Operation sichere Zukunft“ mit Gehaltskürzungen und einer Arbeitszeiterhöhung für die Landesbeschäftigten von 38,5 auf 40 bis 42 Stunden sowie der Kürzung von Landesmitteln im sozialen Bereich um ein Drittel führte am 18. 11. 2003 zu einer der größten Demonstrationen in der hessischen Geschichte: 45.000 Menschen versammelten sich vor dem Landtag in Wiesbaden und am selben Tag streikten 10.000 Lehrerinnen und Lehrer gegen die Erhöhung der Pflichtstundenzahl für alle Lehrkräfte bis 50 Jahre um eine ganze bzw. bis 60 Jahre um eine halbe Pflichtstunde. Diese Arbeitszeiterhöhung gilt in Teilen bis heute.
2008 unternahm die Regierung den Versuch einer „Abfederung“ durch ein Lebensarbeitskonto, 2018 erfolgte eine teilweise Rücknahme.

 

2009: Erneut Streik und ein positives Gerichtsurteil


Eine der ersten Handlungen der neuen schwarz-gelben Landesregierung war die Weigerung, die im Juni 2009 im Tarifvertrag (TV-H) vereinbarte Arbeitszeit von 40 Stunden auf die Beamtinnen und Beamten des Landes und damit auch auf den Schulbereich zu übertragen. Dem Aufruf der GEW zu einem eintägigen Streik am 17. November folgten rund 6.000 Kolleginnen und Kollegen. Lautstarke Unterstützung erhielten sie von Schülerinnen und Schülern sowie Studierenden, die sich im Rahmen des bundesweiten Bildungsstreiks für bessere Lern- und Studienbedingungen einsetzten.


Nachdem Kultusministerin Henzler (FDP) gegen 5.267 Lehrkräfte Disziplinarmaßnahmen eingeleitet hatte, zog die GEW 2011 vor das Verwaltungsgericht in Kassel. Das Urteil, das beamteten Lehrkräften ohne Wenn und Aber das Streikrecht zuerkannte, wurde nach gegensätzlichen Urteilen des Bundesverfassungsgerichts nicht rechtskräftig. Die Entscheidung liegt jetzt beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.

 

2015: Disziplinarverfahren ausgesetzt

 

Die GEW rief ihre verbeamteten Mitglieder am 16. Juni 2015 erneut zum Streik auf. Grund war die Absicht der ersten schwarz-grünen Koalition unter Ministerpräsident Bouffier (CDU), die Beamtenbesoldung dauerhaft von den Tariferhöhungen abzukoppeln und auf 1 Prozent zu deckeln. 6.000 Lehrkräfte nahmen an dem Streik am 16. Juni 2015 teil und demonstrierten gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen aus den anderen Bereichen der Landesverwaltung bei einer großen Kundgebung in Wiesbaden.


Auch dieser Kampf führte nicht zum unmittelbaren Erfolg, aber mittelfristig blieb er nicht ohne Wirkung: Die schwarz-grüne Koalition unternahm in den folgenden Tarifrunden 2017, 2019 und 2021 keine erneuten Versuche, die Beamtenbesoldung abzukoppeln. Die Tarifergebnisse wurden seitdem zeit- und inhaltsgleich übertragen. Und auch die Nullrunde fiel ihr vor dem Hessischen Verwaltungsgericht auf die Füße, das die hessische Beamtenbesoldung schlicht für „verfassungswidrig“ erklärte.


Die Disziplinarverfahren mit dem Ziel eines Verweises wurden zunächst bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts und später bis zur noch ausstehenden Entscheidung des EGMR ausgesetzt.

Christoph Baumann