Inklusion kann gelingen

Vor fast 40 Jahren: Die Anfänge schulischer Inklusion in Hessen

HLZ Mai 2023: Soziale Arbeit

Am 5. Mai vergab ein Bündnis zivilgesellschaftlicher Organisationen unter maßgeblicher Beteiligung der GEW Hessen den ersten Inklusionspreis in Hessen. Einen Bericht und Beispiele, wie Inklusion gelingen kann, findet man in der HLZ 6/2023. Aus Anlass der Preisvergabe blicken Birgid Oertel, Johannes Batton und Sigi Gundlach zurück auf die Anfänge schulischer Inklusion in Hessen.

An der Martin-Buber-Schule in Gießen wurde 1985 die Elternorganisation Gemeinsam Leben - Gemeinsam Lernen gegründet. GEW, elternbund hessen, Bündnis 90/Die Grünen und die SPD schlossen sich zu einem Bündnis für inklusive Bildung zusammen. Alle bekundeten ihren Willen, dass - wie in anderen Ländern auch - Kinder mit und ohne Behinderungen möglichst wohnortnah gemeinsam die Schule besuchen können.

Heidi Gattung, damals stellvertretende Vorsitzende der GEW Hessen und Lehrerin an der Grundschule Süd-West in Eschborn, setzte sich in der GEW und mit dem Kollegium ihrer Schule vehement für das gemeinsame Lernen ein. Die Grundschule Süd-West, die Integrative Schule der Französisch Reformierten Gemeinde in Frankfurt und die Grundschule Königstädten in Rüsselsheim markierten den Anfang einer neuen Pädagogik, die der Vielfalt der Kinder gerecht werden will. Lehrkräfte an Sonderschulen, wie sie damals hießen, zogen mit und ließen sich an allgemeine Schulen versetzen.

2009 ratifizierte die Bunderegierung die Behindertenrechtskonvention der UNO (UN-BRK). An vielen Schulen gehören Kinder mit Unterstützungsbedarf heute ganz selbstverständlich zur Schulgemeinde dazu, so wie es die Eltern und die Menschen um Heidi Gattung vor mehr als drei Jahrzehnten gefordert hatten. Die GEW unterstützte die politische Willensbildung politisch und mit zahlreichen Fachtagungen. Menschen wie die Journalistin Ulrike Holler oder der Sportjournalist Harry Valérien sorgten für öffentliche Aufmerksamkeit.

Der damalige Sozialminister Karl-Heinrich Trageser (CDU), der sich für sein Enkelkind mit Behinderung einen Platz in der Gemeinschaft aller Kinder wünschte, trug damals dazu bei, dass sich zunächst die vorschulischen Sondereinrichtungen für Kinder ohne Behinderungen öffneten. Was war passiert? Die Zahl der Geburten war zurückgegangen, so dass auch weniger Kinder mit Behinderungen das Licht der Welt erblickten. Es dauerte nicht lange und alle hessischen Vorschuleinrichtungen waren Einrichtungen der gemeinsamen, inklusiven Erziehung. Bereits Anfang der neunziger Jahre waren vorschulische Sondereinrichtungen in Hessen als erstem Bundesland Geschichte. Kinder mit Behinderungen, so die Ansicht, brauchen Kinder ohne Behinderung – und umgekehrt.

Helga Deppe-Wolfinger und andere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Goethe-Universität Frankfurt übernahmen die wissenschaftliche Begleitung von Integrationsprojekten und trugen dazu bei, Ängste von Eltern vor der Verschiedenheit der Kinder abzubauen. Eltern waren verunsichert: Könnten Kinder mit Behinderungen die Entwicklung der Kinder ohne Behinderungen beeinträchtigen? Und bekommen Kinder mit Beeinträchtigungen die notwendige Förderung? Keine der Befürchtungen bestätigte sich. Im Gegenteil! Kinder mit Behinderungen erhielten mehr Aufmerksamkeit und Ansprache: Die Kinder ohne Einschränkungen rasten durch die Gänge, machten Geräusche, erzählten Geschichten, „lasen“ Kindern mit schweren Behinderungen vor, auch wenn sie nicht wussten, was von ihren Erzählungen bei ihrem Gegenüber wirklich ankam. Und auch die Eltern der Kinder ohne Handicaps staunten nicht schlecht, wie gut es ihren Kindern in der Gemeinschaft aller Kinder ging, wie auch sie sozial und kognitiv wuchsen.

Schnell sprach sich das bei den Eltern herum, sie entwickelten Vertrauen in die innovativen Einrichtungen und zögerten nicht länger, ihre Kinder anzumelden. 1985 starteten die ersten integrativen Schulprojekte. Immer mehr Eltern wollten die positiven gemeinsamen Erfahrungen in der Schule fortgesetzt wissen. Insbesondere Eltern von Kindern mit Down-Syndrom wollten für ihre Kinder den Platz in der Gemeinschaft. Die „Schule für praktisch Bildbare“ – so die damalige Bezeichnung – bot nach ihrer Wahrnehmung zu wenig Raum für kognitive Bildung im Bereich Lesen, Schreiben und Rechnen.

All das begann im Rahmen von beantragten und genehmigten Schulversuchen: in Eschborn, in Frankfurt oder in Rüsselsheim. Die politische Sorge um das Fortbestehen der Sonderschulen führte zunächst zu einem Stopp für die Genehmigung weiterer Schulversuche oder eine Übertragung in die Fläche. In Bad Sooden-Allendorf wollte man allerdings von einem solchen Stopp nichts wissen...

Katharina und Tim
Am 11. Mai 1989 wurde im nordhessischen Bad Sooden-Allendorf (BSA) Staub aufgewirbelt. Am Morgen landete unweit der Grundschule ein Hubschrauber, an Bord der hessische Ministerpräsident Walter Wallmann (CDU). Er setzte sich für eine Stunde in den Unterricht einer ersten Klasse und führte anschließend ein Gespräch mit dem Rektor der Schule, den Lehrerinnen der Klasse und den Eltern der beiden Kinder Katharina und Tim. Sie galten nach gängigem Verständnis als „geistig behindert“ bzw. „lernbehindert“. Um ihre Einschulung hatte es eine monatelange Auseinandersetzung der Schulgemeinde mit der Kultusbürokratie gegeben, denn die Grundschule wollte die Kinder dem Wunsch ihrer Eltern entsprechend aufnehmen.
Kultusminister Dr. Christean Wagner (CDU) wollte sie in eine Sonderschule einweisen lassen. „Es geht nicht“, so lautete sinngemäß sein zentrales Argument. Dabei liefen gar nicht weit von der Landeshauptstadt in Rüsselsheim und Eschborn wissenschaftlich begleitete Schulversuche, die längst den Nachweis erbracht hatten, dass es bei zusätzlichen Personal- und Zeitressourcen „sehr gut geht“.

Eltern und Schulgemeinde gaben sich mit der Entscheidung des Ministeriums nicht zufrieden, sondern machten Druck für die integrative Beschulung der Kinder. Ende Juni 1988 fuhren rund 50 Unterstützerinnen und Unterstützer aus Bad Sooden-Allendorf, darunter das gesamte Kollegium, in einem Reisebus nach Wiesbaden, wo sie von der Landesarbeitsgemeinschaft Gemeinsam Leben - Gemeinsam Lernen und den bildungspolitischen Sprechern der Landtagsopposition Fritz Hertle (Grüne) und Hartmut Holzapfel (SPD) empfangen wurden. Der Minister spielte dagegen auf Zeit in der Hoffnung, die Sache sei mit dem Beginn des neuen Schuljahrs „erledigt“. Doch weit gefehlt: Die Lehrerinnen der ersten Klassen der Grundschule BSA weigerten sich in den ersten Wochen des neuen Schuljahrs konsequent, mit dem regulären Unterricht zu beginnen. Solidarisch unterstützt von der Schulelternschaft erklärten sie: „Wir warten auf Katharina und Tim.“ Schließlich wurde der öffentliche Druck auf das Ministerium so groß, dass es die Einschulung der beiden Kinder drei Wochen vor den Herbstferien endlich doch genehmigten musste.

Gut ein halbes Jahr später kam Ministerpräsident Wallmann zu dem ungewöhnlichen Unterrichtsbesuch und kehrte mit einem „absolut positiven Eindruck“ zurück (Frankfurter Rundschau vom 12.5.1988), die FAZ sprach am 1.6.1988 von einem „hymnischen Erfahrungsbericht“ Deutete sich hier gar „ein Umdenken in der Frage der schulischen Integration von Geistigbehinderten“ an, wie die FR meinte? Wer dies hoffte, wurde bitter enttäuscht. Wallmann schaffte das Paradox: Änderungen des Hessischen Schulpflichtgesetzes und des Schulverwaltungsgesetzes eröffneten zwar die Möglichkeit, dass behinderte Kinder unter äußerst eng definierten Bedingungen in Regelschulen eingeschult werden können, doch gleichzeitig boten die geänderten Rechtsvorschriften den Schulbehörden überhaupt erst die rechtssichere Möglichkeit, behinderte Kinder gegen den Willen der Eltern in Sonderschulen einzuweisen.

Katharina und Tim hätten unter diesen Bedingungen keine Chance auf Aufnahme in die Regelschule gehabt. Der kürzlich verstorbene spätere Kultusminister Hartmut Holzapfel höhnte denn auch, Wallmann sei wie „weiland Bagdads Kalif Harun al-Raschid überraschend zum Volk herabgestiegen“, habe vor Ort einen „Show-Auftritt“ inszeniert und dann als Abgeordneter einem Gesetzentwurf zugestimmt, der „den angeblichen Einsichten des Ministerpräsidenten“ diametral widersprach (SPD-Schulinfo 3/1989).
Zwei Jahr später, im Januar 1991, wurde die CDU-FDP-Koalition durch eine Koalition von SPD und Grünen abgelöst, die ihr Wahlkampfversprechen wahr machte und mit einem ihrer ersten Gesetzesvorhaben den „Gemeinsamen Unterricht“ (GU) behinderter und nicht behinderter Kinder begründete und hierfür in den ersten vier Jahren je 100 Stellen für Sonderschullehrkräfte in Grundschulen bereitstellte.

Und was ist daraus geworden?
Seitdem sind über 30 Jahre vergangen. Die weitere Entwicklung der sonderpädagogischen Förderung in Hessen können wir hier nicht differenziert nachzeichnen, doch schmerzt der Blick auf die heutige Situation gerade die Menschen, die die ersten Schulversuche und die Anfänge des GU erlebt haben. Fast 15 Jahre nach der Ratifizierung der UN-BRK fehlt es in Hessen an Förderschullehrkräften und Lehrkräften für Inklusion, an sozialpädagogischen Fachkräften für die Unterstützung der Regelschullehrkräfte im Unterricht und an Zeit für Kooperation und Teamteaching. Das Land Hessen missachtet sogar die eigenen - übrigens völlig unzureichenden - Vorgaben der „Verordnung über Unterricht, Erziehung und sonderpädagogische Förderung
von Schülerinnen und Schülern mit Beeinträchtigungen oder Behinderungen“ (VOSB). Durch die Entscheidung, ausgerechnet die an den Förderschulen angesiedelten Beratungs- und Förderzentren (BFZ) mit der Steuerung und Umsetzung der Inklusion zu betrauen, fließen zu viele Mittel in den Erhalt von Doppelstrukturen. Noch immer ist die Hälfte der Förderschullehrkräfte im Unterricht der Förderschulen eingesetzt. Weiterhin fließen Personalressourcen in die Verwaltung der Inklusiven Schulbündnisse (ISB), die Standorte festlegen und Ressourcen verteilen. Hätte jede Schule die sonderpädagogische Grundausstattung, wie sie die GEW für gelingende Inklusion fordert, bräuchte es die ISB nicht und auch nicht die vielen diagnostischen Maßnahmen, für die die Förderschullehrkräfte viel Zeit benötigen, die im Unterricht besser eingesetzt wäre.

Katharina und Tim, „unsere damaligen Kinder“, würden im Jahre 2023, so ist 15 Jahre nach Ratifizierung der UN-BRK zu vermuten, nicht an ihrer Grundschule unterrichtet, sondern an einer Förderschule.


Birgid Oertel (Teil 1), Johannes Batton und Sigi Gundlach (Teil 2)

Birgid Oertel war Gründungsmitglied der Elterninitiative Gemeinsam Leben - Gemeinsam Lernen und von 1991 bis 2017 im Hessischen Kultusministerium u.a. für den Gemeinsamen Unterricht zuständig. Sie ist ehrenamtliches Mitglied im Vorstand des elternbundes hessen.
Johannes Batton und Sigi Gundlach arbeiteten als Förderschullehrer bzw. als Grundschullehrerin mehr als 20 Jahre im Gemeinsamen Unterricht an der Grundschule Bad Sooden-Allendorf.

Zum Nachlesen: Johannes Batton und Sigi Gundlach: Katharina und Tim. Zwei behinderte Kinder, der Kampf um ihre schulische Integration und die Folgen. skript-Verlag 1990