Die GEW Hessen steht für das längere gemeinsame Lernen

HLZ Juli/August 2023: 75 Jahre GEW & HLZ

Seit rund 60 Jahren hat sich die GEW das längere gemeinsame Lernen und die Überwindung des gegliederten, selektiven Schulsystems auf die Fahnen geschrieben. Die integrierte, schulformübergreifende Gesamtschule ist in ihrer Programmatik „die“ Schulform für die Sekundarstufe. Die „Eine Schule für alle“ soll das System der Grundschule mit zunehmender Fachdifferenzierung fortführen und das gegliederte Schulwesen ersetzen. Haupt-, Real- und Sonderschule und das Gymnasium sollen komplett in der Integrierten Gesamtschule (IGS) ohne äußere Schulformdifferenzierung aufgehen. In einer angegliederten Oberstufe kann die allgemeine Hochschulreife erreicht werden. In der „Festschrift“ der GEW Hessen zu ihrem 75-jährigen Bestehen zeichnet Christoph Baumann den schwierigen Weg zu einem längeren gemeinsamen Lernen, die Debatten um Förderstufe, sechsjährige Grundschulen, um additive oder kooperative Gesamtschulen und Zweigliedrigkeit nach. Die HLZ veröffentlicht seine Überlegungen zu möglichen Geburtsfehlern der IGS in Hessen.


In einer Phase, in der die hessische Bildungspolitik unter Kultusminister Ludwig von Friedeburg Reformbereitschaft signalisierte, konnte die GEW in Verhandlungen mit dem Kultusministerium 1969 die Zusage erreichen, dass in Hessen mindestens zehn Schulversuche mit Integrierten Gesamtschulen begannen. Bis dahin gab es lediglich vier schulformbezogene Gesamtschulen. Die Gesamtschulen in Bruchköbel-Nord und Wiesbaden-Kastel, die 1968 ihre Arbeit aufgenommen hatten, wurden 1969 bzw. 1970 in integrierte Schulen umgewandelt; weitere integrierte Versuche begannen 1969 in Babenhausen, Baunatal und Frankfurt- Nordweststadt, 1970 kamen elf weitere integrierte Schulen hinzu, außerdem sieben neue schulformbezogene Gesamtschulen.


Die Novellierung des Hessischen Schulgesetzes, die am 26. März 1969 mit den Stimmen von SPD und FDP gegen die Stimmen von CDU und NPD verabschiedet wurde, war ein erster Rückschlag für die Befürworter der IGS: Die Regelform der Gesamtschule war die additive Gesamtschule, die IGS war nur als „Schulversuch“ bzw. als „Versuchs- oder Modellschule“ vorgesehen.


Die Förderstufe, die vielen als Einstieg in die Gesamtschule galt, wurde von vielen Schulträgern abgelehnt und mit dem Etikett der „Zwangsförderstufe“ versehen. In diese Zeit fällt die Gründung der „Aktionsgemeinschaft zur Wahrung der Elternrechte“, aus der 1972 der Hessische Elternverein entstand. Im Gleichklang mit dem Hessischen Philologenverband kritisierte der spätere Frankfurter Oberbürgermeister und Ministerpräsident Walter Wallmann (CDU), dass die – im Gesetz gar nicht vorgesehene – „obligatorische Förderstufe“ das „Wahlrecht der Eltern auf Auswahl der Schulart“ zur „Fiktion“ werden lasse. Die Debatte über das Förderstufenabschlussgesetz von 1985 war bereits hier angelegt.


So konzentrierte sich die Gesamtschulentwicklung der 1970er Jahre auf die Neugründung vor allem additiver Gesamtschulen, oft als Zusammenlegung bestehender Haupt- und Realschulen mit dem Feigenblatt einer Gymnasialklasse. Da nur wenige Gesamtschulen eine Oberstufe erhielten, waren sie für am traditionellen Gymnasium orientierte Eltern unattraktiv. Auch in den ersten Integrierten Gesamtschulen hinterließ der Fahrt aufnehmende „Kulturkampf“ um die Rahmenrichtlinien (HLZ S. 16f.) seine Spuren.


Die meisten Förderstufen begannen oft schon nach den ersten Unterrichtswochen mit einer Einteilung der Schülerinnen und Schüler in den Hauptfächern in A-, B- und C-Kurse und drückten so den Schülerinnen und Schülern die Stempel des dreigliedrigen Schulsystems auf.


Die unzureichende Versorgung mit Lehrkräften, das Festhalten am hergebrachten Fächerkanon und zu wenig Förderstunden, mehr Auslese als Förderung verschafften den Förderstufen einen schweren Start. Der Aufstieg in das nächsthöhere Kursniveau war viel seltener als die Abstufung. Die auf die Förderstufe folgende additive Gesamtschule setzte das gegliederte System fort und viele Schülerinnen und Schüler erfuhren die Schule weiter als Ort bloßer Instruktion, von Wettbewerb und Konkurrenz.


Auch die IGS musste das dreigliedrige System durch die Vergabe der traditionellen Abschlüsse reproduzieren: Bis heute kann man dort entweder den Hauptschulabschluss nach Jahrgang 9, den Realschulabschluss in Klasse 10, den Übergang in die gymnasiale Oberstufe mit der Aussicht auf das Abitur erwerben – oder ohne jeden Abschluss abgehen.


1985 habe ich an einer additiven Gesamtschule, die aus der Zusammenlegung einer Realschule und einer Hauptschule entstanden war, eine siebte Hauptschulklasse übernommen. Die Schülerinnen und Schüler waren gerade der Förderstufe entronnen, wo sie schon in der 5. Klasse in C-Kurse ausgesondert und auch räumlich von ihren Klassenkameradinnen und Klassenkameraden getrennt als „Hauptschüler“ abgestempelt worden waren. Die Äußerung einer Schülerin werde ich nicht vergessen: „Machen Sie sich doch nicht so viel Mühe, Herr Baumann, wir haben doch eh keine Chance!“


Weitere Frustfaktoren für die Lehrkräfte waren die fortbestehende Konkurrenz zwischen Integrierter und Kooperativer Gesamtschule und mit den Gymnasien, die unterschiedliche Bezahlung und Pflichtstundenregelungen für Lehrkräfte mit unterschiedlichen Lehrämtern, unzureichende räumliche Bedingungen, schlechte Lehrerzuweisung, Lehrkräftemangel, unbesetzte Leitungsstellen und Bildungspläne, die die Ziele und Strukturen einer IGS in keiner Weise abbildeten.


Ein Hinweis zum Schluss: Der sehr viel ausführlichere Artikel in der „Festschrift“ beschränkt sich nicht auf die Beschreibung der Probleme der Gesamtschule, sondern schildert auch die bis heute aktuellen inhaltlichen Begründungen für das gemeinsame Lernen, die die GEW bereits 1965 in ihrer „Darmstädter Erklärung“ formulierte. Die Darstellung macht deutlich, dass viele Gesamtschulen trotz vieler negativer Voraussetzungen nach wie vor ein Motor fortschrittlicher pädagogischer Entwicklungen sind: mit dem Abbau der äußeren Differenzierung, mit neuen Modellen der Förderung durch selbständiges Lernen, mit der Rhythmisierung des Schultags oder Schritten hin zur Inklusion. Die Gesamtschulen zeigen, dass sie als Alternative zum traditionellen Gymnasium in der Sekundarstufe I gebraucht werden.


Christoph Baumann