Die Angst vor dem Briefkasten

Migrationserfahrungen aus 70 Jahren

HLZ 7-8/2017: Beiträge zur Zeitgeschichte

„Ja, wir waren ‚Einwanderer‘ oder auch ‚Neuankömmlinge‘, die eines schönen Tages ihr Land verlassen hatten. (…) Wir wollten uns eine neue Existenz schaffen, das war alles. Man muss ein Optimist und sehr stark sein, wenn man eine neue Existenz aufbauen möchte. (…) Wir haben unser Zuhause und damit die Vertrautheit des Alltags verloren. Wir haben unseren Beruf verloren und damit das Vertrauen eingebüßt, in dieser Welt irgendwie von Nutzen zu sein. Wir haben unsere Sprache verloren und mit ihr die Natürlichkeit unserer Reaktionen, die Einfachheit unserer Gebärden und den ungezwungenen Ausdruck unserer Gefühle. Wir haben unsere Verwandten in den polnischen Ghettos zurückgelassen, unsere besten Freunde sind in den Konzentrationslagern umgebracht worden, und das bedeutete den Zusammenbruch unserer privaten Welt.“ (Hannah Arendt, USA, 1943)

Hannah Arendt war von 1937 bis 1951 „staatenlos“, nachdem sie von ihrem „Heimatland“ Deutschland „ausgebürgert“ worden war. 1941 konnte sie über Lissabon in die USA entfliehen. Ihr Aufsatz „We Refugees“ entstand, nachdem sie von der Existenz der Vernichtungslager erfahren hatte. Natürlich hatte die vor den Nazis in die USA geflüchtete Jüdin einen anderen Fluchthintergrund als heute nach Europa Flüchtende. Dennoch gibt ihr Text aus dem Jahr 1943 den Blick frei auf die materiellen und vor allem seelischen Nöte, mit denen es auch Flüchtlinge zu tun haben, die heute aus dem Nahen Osten und Nordafrika zu uns kommen.

Auf Initiative der Regionalen Arbeitsgruppe Südhessen des Vereins „Gegen Vergessen - Für Demokratie“ und unter  Schirmherrschaft von Oberbürgermeister Jochen Partsch fand im Frühjahr 2017 in Darmstadt die Veranstaltungsreihe „Flucht und Hoffnung - Kulturelle Identitäten und Migration“ statt, die gemeinsam mit der Erwachsenenbildung des evangelischen Dekanats Darmstadt-Stadt und der Evangelischen Hochschule Darmstadt durchgeführt wurde. Ausstellungen, Vorträge, Musik, Filme und Lesungen - u.a. mit der Schriftstellerin Jenny Erpenbeck („Gehen, ging, gegangen“) - sollten informieren, sensibilisieren und zeigen, mit welchen Hoffnungen und Erwartungen die oft traumatisierten Flüchtlinge zu uns kommen. Abgeschlossen wurde die Reihe mit einer Gesprächsrunde über „Migrationserfahrungen aus 70 Jahren in Deutschland“ mit fünf Personen, die zu unterschiedlichen Zeiten nach Deutschland geflüchtet sind, in einem Fall innerhalb Deutschlands als Vertriebener.

1945 - 1972 - 1991 - 2014: Flucht durch Europa

  • Dietmar Ueberschär, 1941 in Breslau (Schlesien) geboren, musste am 20. Januar 1945 mit seiner Mutter und seinen beiden Schwestern die zur Festung erklärte Stadt Breslau verlassen. Tausende Frauen und Kinder machten sich bei minus 20 Grad zu Fuß auf den „Todesmarsch der Frauen und Kinder“ nach Westen. Die Familie hatte „Glück“ und wurde mit einem Lastwagen nach Schweidnitz gebracht. Von dort schlug sie sich nach Karlsbad im Sudetenland durch. Hier schloss sie sich einem Treck nach Dresden an. In der Nähe der zerbombten Stadt wurde die Familie im April 1945 von der Roten Armee überrollt und erlebte dort das Ende des Krieges. Die ältere Schwester konnte über beängstigende Erlebnisse in dieser Zeit sprechen. Die Mutter sprach grundsätzlich wenig über die Flucht,  über diesen Zeitabschnitt sprach sie nie. Im Juli 1945 kam die Familie nach Ausleben in Sachsen-Anhalt. Kindheit und Jugend verbrachte Dietmar Ueberschär in der DDR, wo sie als „Umsiedler“ galten. „Flüchtlinge“ oder „Vertriebene“ gab es im offiziellen Sprachgebrauch der DDR nicht. Allerdings kann er sich auch nicht daran erinnern, dass er als „Flüchtlingskind“ in der DDR Probleme hatte. Zum „anerkannten Flüchtling“ wurde Dietmar Ueberschär erst 1957 mit seiner Flucht aus der DDR in die BRD. Als solcher wurde er angesehen und als solcher fühlte er sich jetzt. Nach einer Handwerkslehre studierte er Maschinenbau und schloss das Studium mit der Promotion ab. Von 1988 bis zu seiner Pensionierung 2007 war er Professor an der Hochschule Darmstadt.
  • Manuel Campos wurde 1948 in Lever bei Porto geboren. 1972, eineinhalb Jahre vor der „Nelkenrevolution“, die die Diktatur in Portugal endgültig beendete, floh er aus seinem Heimatland, nachdem er vor einer drohenden Verhaftung durch die Geheimpolizei gewarnt worden war. Die große Angst bei der Fahrt durch Portugal bis zur spanischen Grenze hat er noch heute vor Augen. Sein Fluchtziel war zunächst Paris, weil er Französisch gelernt hatte. Durch kirchliche Kontakte kam der ehemalige Student der Theologie und Philosophie, der mal Priester werden wollte, doch nach Deutschland. In Kaiserslautern fühlte er sich erst  einmal sicher, aber auch, dass viele Deutsche Angst vor ihm hatten. Verstehen kann er das bis heute nicht. Manuel Campos fand eine Anstellung bei Opel in Rüsselsheim und wurde Gewerkschaftssekretär der IG Metall.  Als Leiter der Abteilung für ausländische Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer war er auch Mitglied der Vorstandsverwaltung der IG Metall. Von 2003 bis 2007 war Manuel Campos Sozialattaché an der Deutschen Botschaft in Brasilia, danach bis 2010 Gewerkschaftssekretär internationaler Arbeitnehmerorganisationen in Sao Paulo.
  • Sultana Moshref wurde 1971 in Kabul geboren. 1991 floh die zu diesem Zeitpunkt schwangere Frau mit ihrem Mann, ihrem jüngeren Bruder und ihrer jüngeren Schwester vor den Mudjahedin zunächst nach Moskau. 1993 gelang es ihr und der ganzen Familie nach Deutschland zu kommen, dem eigentlichen Ziel ihrer Flucht aus Afghanistan. Acht Jahre lang war sie nur „geduldet“ und durfte nicht in ihrem gelernten Beruf als Erzieherin arbeiten. Erst 2001 wurde ihr Asylantrag genehmigt. Seit 2003 hat sie die deutsche Staatsbürgerschaft. Seit 2016 ist sie nach Jahren als Haushalts- und Küchenhilfe als Erzieherin in einem städtischen Kindergarten in Gernsheim beschäftigt.
  • Maria wurde wie ihr Mann Hamid in Teheran geboren. Ihr Nachname kann aus Sicherheitsgründen nicht genannt werden. Maria, 1984 geboren, studierte im Iran Informatik und absolvierte eine Ausbildung in Taekwondo. Hamid wurde 1987 geboren, studierte Sport und war  Basketball-Profi. Als die Probleme Marias mit den Verantwortlichen im Iran unerträglich wurden, entschlossen sie sich im März 2014, über die sogenannte Balkanroute nach Deutschland zu fliehen. Schlepper brachten sie von Istanbul mit einem Containerzug nach Sofia, wo sie von der bulgarischen Polizei verhaftet und für zwei Wochen ins Gefängnis gesteckt wurden. Anschließend wurden sie für fünf Monate in einem Flüchtlingscamp interniert, bis sie erneut mit der Hilfe von Schleppern nach Serbien und später nach Ungarn gebracht wurden. In Ungarn kamen sie in getrennte Gefängnisse und erstmals auf der langen Flucht war Maria „allein ohne meinen Hamid“ und durchlebte „fürchterliche Ängste“. 

Den glücklichsten Tag der Flucht erlebten Maria und Hamid, als sie endlich München erreicht hatten und ein Polizist sie freundlich begrüßte. Nach einigen Zwischenstationen endete die Flucht nach neun Monaten vorerst in Mörfelden-Walldorf in Hessen. Erst zwei Jahre später, im April 2017, teilte ihnen das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge endlich den Termin für das „Interview“ mit. Jetzt hoffen sie, dass sie bald Asyl bekommen und sich in Deutschland eine neue Zukunft aufbauen können.

Keine andere der insgesamt zwölf Veranstaltungen unserer Reihe hat die Anwesenden so berührt wie diese. Hier wurden persönliche, existenzielle Lebensgeschichten erzählt. Alle fünf Geflüchteten waren vor dem Krieg oder politischer Verfolgung geflohen. Im Falle von Maria und Hamid dauert sie an, denn sie haben große Angst, wenn sie in den Iran zurück müssten. Wie sehr auch die „Duldung“ die Geflüchteten in Angst und Schrecken versetzt, erzählte Sultana Moshref: In den acht Jahren der Duldung hatte sie nahezu täglich Angst vor dem Gang zum Briefkasten und den Nachrichten, die die Briefe im amtlichen Kuvert für sie bereit hielten. Heute sagt sie, sie und ihre Kinder seien glücklich, doch die Flucht­erfahrungen prägen auch die nachfolgenden Generationen.

Flucht und Hoffnung – ganz nah

Diese intensive Beschäftigung mit Flüchtlingsschicksalen führt zu einem anderen Blick. Man lernt viel über individuelle Beweggründe, die oft abenteuerlichen Fluchtwege, die Ängste und Hoffnungen der Geflüchteten und ihr „seelisches“ Gepäck, das ihr ganzes weiteres Leben prägt. „Der“ Flüchtling tritt heraus aus der Anonymität, wird zur  Person, die man verstehen und schätzen lernt. Es ist diese Empathie, die in unserem Land – neben allem Positiven – doch oft fehlt.

Der Umgang mit den aus den aktuellen Krisengebieten kommenden Flüchtlingen ist zu einem Prüfstein unseres gesellschaftlichen Selbstverständnisses geworden. Über die Medien erfahren wir täglich, wie dünn das Eis manchmal ist, auf dem wir wandeln, und dass unter der Oberfläche eines friedlichen Alltages oft Abwehr, Ablehnung und Aggressionen lauern. Dagegen sind eine klare Haltung und eine eindeutige Position gefordert, aus der das Herz und der Verstand sprechen: ein offenes Herz für die Gefühle der Geflüchteten und ein klarer Verstand für die Einsicht, dass weltweite Migrationsbewegungen eine Tatsache sind und dass Europa die Pflicht und Schuldigkeit hat, Flüchtlinge, die vor Krieg und Terror flüchten, aufzunehmen und für sie eine sichere Heimstätte zu bieten. Das ist - nicht zuletzt - eine „Wiedergutmachung“ für eine Jahrhunderte währende Kolonialgeschichte. 


Klaus Müller war von 1983 bis 1993 Landesvorsitzender der GEW Hessen und ist seit 2011 Sprecher der Regionalen Arbeitsgruppe (RAG) Südhessen des Vereins Gegen Vergessen - Für Demokratie e.V.