Ungleichheit in der Pandemie

Das Corona-Virus verschärft die soziale Spaltung

HLZ 2022/6: Politische Bildung

Das Corona-Virus, die große Gleichmacherin? Mitnichten! Offenkundig sind ärmere Menschen stärker betroffen als wohlhabende, People of Color und von Rassismus betroffene stärker als weiße Menschen und Frauen stärker als Männer. Der gesellschaftliche Zusammenhalt hat in der Pandemie gelitten, so viel ist heute klar. Noch 2020 veröffentlichte die Bertelsmann Stiftung einen Bericht, wonach der gesellschaftliche Zusammenhalt gar gestärkt worden sei. Bei genauer Betrachtung verdeutlichte der Bericht jedoch schon damals die relevanten Bruchstellen. So bewerteten gerade Menschen in Ostdeutschland, Menschen mit einem niedrigeren formalen Bildungsstatus, weniger Wohlhabende, Alleinerziehende, Migrant:innen sowie Menschen mit einer körperlichen Behinderung den Zusammenhalt wesentlich schlechter als die ,Mehrheitsgesellschaft'. Dass diese verstärkende Polarisierung zu einem Bumerang werden könnte, davor warnte die Hans-Böckler-Stiftung schon im Dezember 2020.

Schlechte Datenlage...

Im Januar 2022 veröffentlichte die Caritas einen Bericht, wonach 72 % der Befragten angaben, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt auf Grund der Pandemie gelitten hätte. Wenige Wochen später legte auch die Bertelsmann Stiftung nach und musste eingestehen, dass sich die Situation deutlich gewandelt hat. Abgenommen hätten insbesondere die Lebenszufriedenheit sowie das Vertrauen in staatliche Institutionen sowie die Zufriedenheit mit der Demokratie.

Umgekehrt erstarkten Zukunftssorgen und Einsamkeit, aber auch das Gefühl, sich „auf niemanden verlassen“ zu können. Die Datenlage zur sozialen Ungleichheit und zur unterschiedlichen Betroffenheit in der Pandemie ist für Deutschland nicht gut. Inzwischen liegen aber auch erste Studien des Robert Koch-Instituts vor. Danach gilt auch für Deutschland, was Biglieri, De Vidovich und Keil mit Blick auf Italien und Kanada schon sehr früh in der Pandemie betonten: „Wo das Virus konzentriert auftritt, da findet man die Peripherie, in der Stadt und in der Gesellschaft.“

Aus meiner Sicht lassen sich im Wesentlichen drei Muster der sozialen Polarisierung ausmachen, die ineinandergreifen, sich verstärken und überlagern, aber nach je unterschiedlichen Mechanismen funktionieren. In der Wissenschaft wird von Intersektionalität gesprochen, wobei klassischerweise das Zusammenwirken von Ausschlüssen entlang von class, race, gender – also entlang von Ausschlüssen in Bezug auf Klassenlage, rassistische Ressentiments und Geschlecht – gesprochen wird.

... und dennoch ein klares Bild

Mit Bezug auf die Klassenlagen ist zunächst festzustellen, dass Wohlhabende insgesamt besser durch die Krise gekommen sind als ärmere Menschen. Auch an der Börse herrschte bis zum Überfall Russlands auf die Ukraine ohnehin Hochstimmung: So ist der DAX nach einem massiven Einbruch im Frühjahr 2020 aus dem Tiefststand von 8.441,71 Punkten (März) im Januar 2022 auf den historischen Höchststand von 16.271,75 geklettert.

Der DGB kommt im Verteilungsbericht 2021 zum Schluss, dass im Zuge der Pandemie vor allem in den unteren Einkommensschichten finanzielle Einbußen hingenommen werden mussten, während Besserverdienende kaum Einbrüche verzeichneten und Superreiche ihre Vermögen steigern konnten. Sozialräumliche Betrachtungen verdeutlichen, dass es insbesondere weniger privilegierte Regionen waren, wo auch die Folgen von Infektionen besonders drastisch waren. Das Robert Koch-Institut untersuchte 2021 die Corona-Sterblichkeit in Relation zur sozioökonomischen Marginalisierung auf der Ebene von Landkreisen. Demnach lag im Winter 2020/21 „die Covid-19-Sterblichkeit in sozial stark benachteiligten Regionen um rund 50 bis 70 % höher“ als in Regionen mit „geringer sozialer Benachteiligung“.

Dies deckt sich mit Befunden aus deutschen Großstädten, wonach Menschen stärker von Corona betroffen sind, die in Stadtteilen mit hoher Bevölkerungsdichte und höherer Armutsquote leben. Personenbezogene Daten gibt es hingegen kaum und die räumlichen Daten geben nur Hinweise: Wenn ärmere Regionen stärker betroffen sind, ist zwar anzunehmen, dass auch mehr arme Menschen stärker betroffen sind, es ist aber nicht zwingend. Belegt ist, dass zumindest vor der Möglichkeit zur Impfung und der Omikron-Welle Menschen im Hartz-IV-Bezug aufgrund einer Corona-Infektion nahezu doppelt so oft ins Krankenhaus eingewiesen wurden wie Erwerbstätige.

Die räumlichen Daten deuten zudem darauf hin, dass die Pandemie zunächst in den wohlhabenden Gegenden von Baden-Württemberg, Bayern und Hamburg ihren Ausgangspunkt nahm, sukzessive jedoch sozialräumlich marginalisierte Regionen zu den Hotspots avancierten. Dies ist auch global der Fall: Fast überall waren zunächst hochvernetzte und mobile gesellschaftliche Schichten betroffen, bevor die Pandemie in ärmeren Regionen zu wüten begann,

Rassismus wirkt negativ

Auch über den Zusammenhang von rassistischer Exklusion und Corona ist in Deutschland ebenfalls wenig bekannt. Wenn überhaupt, gibt es Daten zu Menschen mit Migrationshintergrund. Eine Studie der OECD belegt 2021, dass Menschen mit Migrationshintergrund etwa doppelt so oft wie Menschen ohne Migrationshintergrund an Corona erkrankten. Der Mediendienst Integration kam 2022 zum Schluss, dass in Deutschland und der Schweiz, die Zunahme der Sterblichkeit unter Ausländer:innen im ersten Pandemiejahr höher ausfiel als unter Deutschen bzw. Schweizern. Dass die Befunde methodisch nicht besonders solide und in Einwanderungsgesellschaften nur eine eingeschränkte Aussagekraft haben, darauf verweisen die Autor:innen selbst, betonen aber die ansonsten fehlenden Daten.

Die stärkere Betroffenheit von Menschen mit Migrationshintergrund liegt nicht zuletzt daran, dass ihr Anteil an den ärmeren Bevölkerungsschichten überproportional hoch ist. Insbesondere für Köln wurde in einer Recherche der Neuen Zürcher Zeitung nachgewiesen, dass „zwischen dem Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund und den Fallzahlen“ auch dann noch „ein statistisch signifikanter Zusammenhang“ besteht, wenn andere gewichtige Faktoren, wie „dass Einwanderer oft in Gebieten mit hoher Arbeitslosigkeit, niedrigem Bildungsniveau, großen Haushalten und vielen AfD-Wählern wohnen“, berücksichtigt werden.

Das erhöhte Risiko von Migrant:innen an Corona zu erkranken, wird mit ihrem eingeschränkten Zugang zum Gesundheitssystem und zu Testzentren, der verbreiteten Nutzung des ÖPNV, mit bestehenden Kommunikationsbarrieren und dem Unwillen von Behörden erklärt. Zentral ist aber auch, dass der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund, die im (systemrelevanten) Niedriglohnsektor arbeiten, überproportional hoch ist. Zahlen von 2018 zufolge haben 28,5 % der abhängig Beschäftigten im Niedriglohnsektor einen Migrationshintergrund, während der Anteil bei jenen ohne Migrationsgeschichte bei 19,5 % liegt.

In der Debatte um die tiefe Impfquote wurde zudem immer wieder suggeriert, dass Menschen mit Migrationshintergrund sich nicht impfen lassen wollten. Das Robert Koch-Institut entkräftet dies und belegt, dass die Bereitschaft von Nichtgeimpften, sich künftig impfen zu lassen, unter Menschen mit Migrationshintergrund sogar höher ist als unter Menschen ohne Migrationsgeschichte. Menschen ohne Migrationsgeschichte hätten zwar „eine etwas höhere Impfquote als Personen mit Migrationsgeschichte“, dies relativiere sich aber, wenn die soziale Lage und die jüngere Altersstruktur mitberücksichtigt werden. Der Vorwurf mangelnder Impfbereitschaft basiere somit eher auf rassistischen Vorurteilen als auf soliden Befunden.

Höhere Belastung durch Sorgearbeit

Auch Frauen sind stärker von der Pandemie betroffen als Männer, nicht zuletzt aufgrund ihrer beruflichen Exponiertheit. Aus Zahlen der Techniker Krankenkasse für das Jahr 2020 geht hervor, dass im Schnitt knapp 500 Erwerbstätige pro 100.000 auf Grund einer Corona-Infektion krankgeschrieben wurden. Mit rund 1.200 Fällen waren Pflegekräfte und Kitaangestellte mehr als doppelt so oft betroffen, in Wissenschaft und Forschung Tätige mit 200 Fällen hingegen weniger als halb so oft. Gemäß dem Statistischen Bundesamt ist das Personal in Krankenhäusern über 75 % weiblich, in der ambulanten Pflege über 80 %. In den am wenigsten betroffenen Berufsgruppen liegt der Anteil an Männern hingegen bei bis zu 86 %. Aber auch zu Hause bei der Betreuung von Kindern und im Homeschooling wurde die Last vor allem von Müttern geschultert, auch wenn sich Väter zumindest zeitweise mehr engagierten.
Die Einschränkungen der Bewegungsfreiheit, das Übertragen der pandemischen Lasten ins Private und damit ins Familienleben beförderte auch die häusliche Gewalt. Opferberatungsstellen sprechen für 2020 im Vergleich zum Vorjahr von einer Zunahme der Meldungen von acht bis zehn Prozent. Auch hier waren Frauen und Kinder besonders betroffen.

Auf der Suche nach solidarischen Antworten

Die Pandemie macht soziale und ökonomische Ungleichheiten in der Gesellschaft sichtbar und verschärft diese. In Anbetracht der anstehenden Herausforderungen einer sozial-ökologischen Transformation unter den Bedingungen verschärfter Unsicherheiten eines Krieges mitten in Europa sowie der erstarkenden autoritären und extrem rechten Tendenzen sind dies keine guten Nachrichten.
Soll es darum gehen, künftig auch solidarische und linke Antworten zu finden, gilt es nach den Jahren der Vereinzelung wieder ein gemeinsames Wir zu finden. Auf einer alltagsweltlichen Ebene stehen linke Bewegungen vor der großen Herausforderung, soziale Nähe, auch im politischen Sinne, wieder herzustellen. Anknüpfungspunkte hierfür gibt es. Die aufgebrochenen Polarisierungen können auch Zugang für eine gemeinsame soziale, gerechte und demokratische Politik sein.

Daniel Mullis


Daniel Mullis ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung in Frankfurt (HSFK) im Programmbereich „Glokale Verflechtungen“. Er arbeitet zu Krisenprotesten, zum aktuellen Rechtsrutsch in Europa, zu Neoliberalisierungsprozessen und Stadtentwicklung.

Der Beitrag ist ein überarbeiteter Auszug aus: Daniel Mullis (2021), Gesellschaftliche Transformation in Zeiten von Corona. Eine Aktualisierung der Analyse aus dem Corona-Monitor von April 2020. In: Corona-Monitor (Hg.) (2021): Corona und Gesellschaft. Soziale Kämpfe in der Pandemie. Wien: Mandelbaum, 30–53