Kinderarmut: Hessen vorn?

Armut als Kinderrechtsverletzung im Corona-Kapitalismus

HLZ 11/2021: GEW-Landesdelegiertenversammlung

Hessen, im Jahr der Kinderrechte 2021: Ein Landesaktionsplan gegen Kinderarmut wird von der Landesregierung weiterhin erfolgreich abgelehnt. Laut der aktuellsten Studie des Paritätischen Wohlfahrtsverbands sind in Hessen mehr Kinder arm als im deutschlandweiten Durchschnitt. Außerdem steigt die Armutsquote unter Minderjährigen in Hessen deutlich stärker als in anderen Bundesländern. Was in einem demokratischen Sozialstaat eigentlich die Alarmglocken über alle Kanäle in Politik, Medien und Wissenschaft läuten lassen müsste, wird hierzulande mit einem lockeren schwarz-grünen Schulterzucken zur Kenntnis genommen. Jedes fünfte Kind ist von Armut betroffen, die Quote lag in Hessen 2019 bei 21,9 Prozent, im Bundesmittel bei 20,5 Prozent und vor allem der Trend in Hessen ist besonders negativ:

„In keinem anderen westdeutschen Flächenland ist die Kinderarmut im vergangenen Jahrzehnt so sehr gewachsen wie in Hessen, nämlich um 6,6 Prozentpunkte seit 2010, deutschlandweit beträgt das Plus für diesen Zeitraum 2,3 Prozentpunkte. Die Studie warnt zudem vor einer aktuellen Verschärfung der Lage, die sich noch nicht aus den bisher vorliegenden Daten ablesen lässt: Die Corona-Pandemie belastet einkommensarme Familien besonders stark.“ (1)

Der Zuschuss über das Bildungs- und Teilhabepaket für Mitgliedsbeiträge für Sportvereine, Klassenfahrten oder Kosten für Nachhilfe kommt in Hessen nur bei jedem zehnten anspruchsberechtigten Kind an. Bundesweit kann jedes siebte Kind seinen berechtigten Anspruch geltend machen, was immer noch skandalös ist. Eric Gumlich, Referent für Kinder- und Jugendhilfe beim Paritätischen Hessen, fordert deshalb die Auszahlung der Mittel aus dem Bildungs- und Teilhabepaket zu verbessern, die Mittel aus dem Bundes-Aktionsprogramm „Aufholen nach Corona für Kinder und Jugendliche“ vom Land aufzustocken und besonders in die offene Jugendarbeit fließen zu lassen:

„Aufgrund der derzeitigen Krise spielen niedrigschwellige Angebote für benachteiligte Kinder und Jugendliche eine wichtige Rolle und müssen jetzt dringend gestärkt werden, da sie leider lange Zeit geschlossen oder auf sehr kleine Gruppen begrenzt waren.“ (1)

Bildungs- und Teilhabepaket

Besondere Aufmerksamkeit muss der Situation Alleinerziehender gelten. So wurde offenbar der im „Aufholpaket“ der Bundesregierung vorgesehene „Kinderfreizeitbonus“ von einmalig 100 Euro etwa 190.000 Kindern von Alleinerziehenden in Hartz IV nicht zugestanden, da die Kinder zwar in SGB- II-Haushalten lebten, aber selbst keinen eigenständigen Anspruch auf Hartz IV hätten. Diese offenkundige Ungerechtigkeit gegenüber einem Zehntel aller Kinder in Hartz-IV-Haushalten sollte aufgearbeitet und bereinigt werden.

Für Millionen Kinder und Jugendliche im Rechtskreis des Bildungs- und Teilhabepakets wurde in der reichen Bundesrepublik ab Mitte März und noch einmal ab Mitte Dezember 2020 von heute auf morgen das kostenlose Mittagessen in Kitas, Schulen und Jugendclubs eingestellt. Hunderttausende von Schülerinnen und Schülern waren mangels digitaler Mittel vom sogenannten Homeschooling ausgeschlossen, wie Anne Ratzki in der Zeitschrift „forum“ der GEW-Kreisverbände Köln/Rhein-Berg-Kreis schreibt:

„Besonders benachteiligt waren Kinder aus armen Familien und Migrant*innen, deren Eltern nicht helfen konnten, deren Wohnungen zu eng waren und denen Endgeräte fehlten. Bis zu 40 % der Schüler*innen waren für Lehrkräfte über Wochen nicht erreichbar.“

Anlässe und Ursachen

Bereits der 2. Hessische Sozialbericht von 2017 forderte bei der Frage nach den Ursachen von Kinderarmut die „Aufklärung der Ursachen von Verteilungsunterschieden“ (2). Konkret findet man dann aber als alleinige „Ursachen“ für die Arbeitslosigkeit von Menschen mit Migrationshintergrund nur fehlende Schulbildung oder fehlende berufliche Abschlüsse (S. 95). Nicht viel mehr zitieren die Verfasserinnen und Verfasser des Landessozialberichts aus dem IAB-Forschungsbericht von Silke Tophoven und anderen:

„Als häufige Ursachen der Armut von Kindern können das Aufwachsen bei nur einem Elternteil, eine geringe Arbeitsmarktintegration der erwerbsfähigen Haushaltsmitglieder, ein geringes Bildungsniveau der Eltern sowie ein Migrationshintergrund benannt werden (…) Besonders von Armut betroffen sind daneben auch Familien mit vielen Kindern.“ (S.178)

Wie in vielen anderen Äußerungen werden hier Ursachen und Anlässe von (Kinder-)Armut durcheinandergebracht bzw. miteinander verwechselt. Armuts­anlässe wie Scheidung, Alleinerziehenden-Status, Migrationshintergrund oder Arbeitslosigkeit erscheinen in Statements von Politik, Wissenschaft und Medien als Problemursachen. So bleiben die wirklichen Wurzeln, die im vorhandenen Wirtschafts- und Sozialsystem zu suchen sind, ausgeblendet. Nur wer diese Ursachen in den Blick nimmt, kann auch Kindern von arbeitslosen, alleinerziehenden oder migrantischen Eltern durch eine sozial gerechte Familien- und Sozialpolitik und eine gute Bildungs-, Betreuungs- und Arbeitsmarktpolitik ein armutsfreies Leben ermöglichen.

Mit Abstrichen könnte dies selbst für die Corona-Pandemie gelten. Auch sie ist weniger die Ursache als der Anlass von verschärften landes- und weltweiten Verarmungsprozessen und deshalb sollten die darunter liegenden sozioökonomischen sowie bildungs- und gesundheitssystemischen Ursachen beachtet werden. Allzu oft drohen sie in Medien, Politik und Wissenschaft von der Epidemie überstrahlt zu werden: Kinder sind weder einseitig ein „Armutsrisiko“ oder gar eine „Armutsursache“ noch - wie in der Pandemie immer wieder zu hören - „gefährliche Viren-Schleudern“.

Die Folgen der Corona-Pandemie

Der Kölner Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge unterscheidet im Verlauf der Pandemie drei Polarisierungsprozesse (3):

  • Im gesundheitlich oder pandemiebedingten Polarisierungsprozess unterscheiden sich „Infektions-, Morbiditäts- und Mortalitätsrisiken der einzelnen Bevölkerungsschichten“ zum Teil ganz erheblich, wobei die höchsten Risiken von armen Personen zu tragen sind, die niedrigsten von reichen Personen.
  • Auch auf der Ebene einer ökonomisch oder rezessionsbedingten Polarisierung verteilen sich die wirtschaftlichen Kollateralschäden der Pandemie und der Infektionsschutzmaßnahmen des Staates „nicht gleichmäßig über alle Bewohner:innen der Bundesrepublik. Vielmehr gibt es Gewinner:innen und Verlierer:innen, sowohl in der Wirtschaft (Differenzierung zwischen einzelnen Branchen) als auch in der Gesamtgesellschaft (Polarisierung zwischen Klassen und Schichten)“.
  • Drittens konstatiert Butterwegge einen verteilungspolitisch oder subventionsbedingten Polarisierungsprozess, denn die bisherigen Hilfsmaßnahmen, Finanzspritzen und Rettungsschirme des Staates weisen „eine verteilungspolitische Schieflage auf, wodurch die sozioökonomische Ungleichheit wächst, statt abgemildert zu werden.“

Ähnliche Polarisierungsprozesse lassen sich im Kindes- und Jugendalter beobachten, denn Corona und Coronamaßnahmen haben sehr unterschiedliche Auswirkungen auf die verschiedenen Gruppen von Kindern und Jugendlichen und werden von diesen auch unterschiedlich wahrgenommen. Wer ein großes Haus, einen großen Garten, einen Pool und Akademikereltern hat, die wegen Homeoffice zuhause helfen oder Nachhilfe finanzieren können, ist ganz anders betroffen als sozial benachteiligte Kinder in einer kleinen Großstadtwohnung, ohne Garten, mit wenig Möglichkeiten sich sonst zu beschäftigen und ohne passende digitale Ausstattung sowie Förderung.

Armut konsequent bekämpfen

Angemessene Gegenstrategien sollten Konzepte der Armutsbekämpfung, der Partizipation junger Menschen und der Förderung sozialer Infrastruktur vereinen, die den gesellschaftspolitischen Kontext einer der reichsten Gesellschaften der Erde nicht aus den Augen verlieren (4). Dazu gehören

  • Maßnahmen gegen Armut und zur sozialen Absicherung der Kinder und Familien,
  • Aufbau bzw. Wiederaufbau der kinderrechtlichen Prinzipien des Kindeswohlvorrangs, des Schutzes, der Förderung und der Beteiligung von Kindern, Jugendlichen und Jugendverbänden,
  • Maßnahmen für einen pandemiegerechten Ausbau der sozialen Infrastruktur im Wohnumfeld vor allem mittels Jugendhilfe und offener Arbeit,
  • eine existenzsichernde Kindergrundsicherung und damit gleichberechtigte Zugänge zu Bildung und sozialer Teilhabe und
  • eine Absenkung des Wahlalters auf mindestens 16 Jahre.

Wer Kinderrechte stärken und (Kinder-)Armut bekämpfen will, muss auch über den exorbitant gestiegenen Reichtum in unserer Gesellschaft sprechen. Wer die sozialräumliche Segregation in unseren Städten bemängelt, darf nicht vergessen, dass die armen Stadtteile oft so aussehen, wie sie aussehen, weil die reichen Stadtteile so aussehen, wie sie aussehen.

Wer den Sozialstaat stärken will, muss die Privatisierung von städtischen Wohnungen, Krankenhäusern und Pflegeheimen zurücknehmen und dem Profitprinzip entziehen sowie bessere Bedingungen in Schulen, Kitas und Jugendhilfe bzw. Jugendclubs schaffen. Warum dafür kein Geld da ist, zeigt auch ein aktueller Bericht des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, wonach sich das Nettovermögen der privaten Haushalte in Deutschland in den vergangenen 20 Jahren auf 13,8 Billionen Euro mehr als verdoppelt hat. Davon könnten jedes Jahr bis zu 400 Milliarden Euro vererbt oder verschenkt werden, was die absolute Ungleichheit weiter erhöhen wird (5).

Michael Klundt


Prof. Dr. Michael Klundt studierte Germanistik und Politikwissenschaften für das Lehramt an Gymnasien an der Philipps-Universität in Marburg. Seit 2010 hat er eine Professur für Kinderpolitik an der Hochschule Magdeburg-Stendal mit den Schwerpunkten Kinderrechte, Jugend-, Familien- und Sozialpolitik inne.

(1) Der Paritätische Hessen: Presseerklärung vom 15.7.2021 zur Expertise Kinderarmut des Paritätischen: Kein Kind zurücklassen. Berlin 2021; Download: https://bit.ly/3ko4Sj3
(2) Landessozialbericht. Wiesbaden 2017, S.16; Download: https://bit.ly/2XwGq5K
(3) Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft: Wirtschaftsdienst Nr. 101, 2021, S.13
(4) Michael Klundt, Gestohlenes Leben. Kinderarmut in Deutschland. Köln 2019, S.15
(5) DIW-Wochenbericht 5/2021, 3. 2. 2021