Ein Einschnitt im Leben

Die Pandemie wird die Schulen noch lange beschäftigen

HLZ 4/2022: Berufsausbildung

Die Corona-Pandemie ist für unsere jetzt lebenden Generationen etwas bisher nie Dagewesenes. Sie stellt einen zum Teil extremen Einschnitt in unser Leben dar  und wird uns noch eine ganz Weile beschäftigen. Die Pandemie stellt die Schule vor enorme Herausforderungen. In der Schule hat der erste Lockdown im März/April 2020 zu großen Anstrengungen geführt, mittels virtueller Kanäle ein Minimum an Lernen aufrechtzuerhalten. Dabei wurden kreative Ideen entwickelt, und das virtuelle Lernen hat teilweise einen großen Schub erfahren. Es hat sich dabei aber auch gezeigt, dass sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche in sehr große Schwierigkeiten gekommen sind, weil sie in der Regel, zu Hause meist in beengten Wohnverhältnissen lebend und technisch nur schlecht ausgestattet, nicht die Unterstützung hatten, die sie gebraucht hätten. Die soziale Kluft ist durch die Pandemie noch größer geworden. Leider hat das in der Lockdown-Zeit nur ein Teil der Schulen in der Form aufgefangen, dass sie diesen Schülerinnen und Schülern wie denen von Eltern aus „systemrelevanten“ Berufen auch den Präsenzunterricht ermöglichten.

Gewalt hat unter diesen Umständen in einigen Familien zugenommen, und die psychischen Folgen für eine ganze Generation von Kindern und Jugendlichen sind noch nicht absehbar. Nicht nur die Schule als guter Lernort oder Schutzraum hat gefehlt, sondern der Verlust an sozialen Beziehungen war für etliche Kinder und Jugendliche schmerzlich. Zudem beschränkte sich das digitale Lernen meist nur auf die Fächer Deutsch, Mathe und Englisch und Prozesse sozialen Lernens fanden so gut wie nicht mehr statt.

Folgen für Kinder und Jugendliche

Auch das Thema Beteiligung wurde mehr oder weniger nicht beachtet:

„In einer bundesweiten Studie der Stiftungsuniversität Hildesheim und der Universität Frankfurt zu Erfahrungen und Perspektiven von jungen Menschen während der Corona-Maßnahmen beklagen sich viele befragte Kinder und Jugendliche, dass es in dieser Zeit nur darum gegangen sei, Stoff zu lernen. Ihre Expertise und Lösungskompetenz sei nicht wahrgenommen (...) und ihre Sorgen und Nöte wurden einfach nicht gesehen.“ (1)

Dies hatte zur Folge, dass die bei den Kindern und Jugendlichen aufgetretenen psychischen Belastungen und Traumata nicht gleich thematisiert wurden und zu einer entsprechenden Resilienz­förderung führten. Es wird deutlich, „dass die zur Verlangsamung der Pandemie getroffenen Maßnahmen eine Herausforderung für die Förderung eines demokratischen (Selbst-)Bewusstseins von Kindern und Jugendlichen darstellen“:

„Einzelne Lehrkräfte haben das erkannt und auch schon während des Lockdowns begonnen, in digitalen und analogen Settings Gelegenheitsräume zu entwickeln, die die Schüler:innen aktiv einbinden und ihnen ermöglichen, Selbstvertrauen in die eigene Handlungsfähigkeit (wieder) zu erlangen beziehungsweise sich als handlungskompetent und fähig zu erleben.“ (1)

Leider sind diese Lehrkräfte in einer deutlichen Minderheit. Auch wurde in und nach den Sommerferien 2020 meist die Gelegenheit verpasst, um aus der Corona-Pandemie zu lernen und neue Lernarrangements mit digitalen Elementen und mittels Peer-Education zu kreieren. Das führte und führt in der Regel dazu, dass versucht wurde, an die Situation vor Corona anzuknüpfen und nicht bedacht wurde, dass die Infektionszahlen wieder ansteigen könnten. Zudem führten und führen die verschiedenen teils wöchentlich neuen Richtlinien der Kultusministerien zu Unsicherheiten und damit zu einer deutlichen Überlastung und Müdigkeit der Lehrkräfte. Anstatt im Lehrplan wie gewohnt fortzufahren, wäre es sinnvoll gewesen), wenn sch die Lehrerkollegien „Auszeiträume“ in gemeinsamen Konferenzen genommen hätten, um grundsätzlich zu überlegen, wie man das Lernen neu ausrichten könnte:

„Der Risikoforscher Gerd Gigerenzer plädiert für ein grundlegendes Umdenken. So sollten wir uns vom Glauben verabschieden, dass sich die Zukunft stets aus den Trends der Vergangenheit ableiten lasse, und das schon in der Schule üben: Statt Schülern jeweils die ‚richtige‘ Antwort auf bekannte Probleme vorzugeben, müsse man ihnen stärker beibringen, ‚mit unsicheren Situationen umzugehen und kreative Lösungen für offene Zukunftsfragen zu finden‘. Die Corona-Pandemie sieht der Risikoforscher geradezu als ‚Lehrstück, um das Leben mit der Ungewissheit zu üben‘“. (2)

Eine Frankfurter Schulleiterin äußerte sich zu Konsequenzen für die Schule:

„Für die Gestaltung von Schule als ein Ort der Sozialisation und Kultur brauchen Lehrerinnen und Lehrer mehr Zeit, um sich der Schulentwicklung zu widmen. Inklusion, Vielfalt, Differenzierung, sprachliche und politische Bildung, Digitalisierung – all dies braucht die Aufmerksamkeit von Kolleginnen und Kollegen, die gemeinsam diskutieren, verhandeln, besprechen und ausprobieren müssen.“ (3)

Ziel müsste es insofern sein, die Krise als Chance für neue Formen des Lernens im Sinne von Kompetenzerwerb im fachlichen und sozialen Sinne und nicht der Wissensanhäufung zu nehmen. Es gilt nachdrücklich, sich um die Schüler:innen aus sozial benachteiligten Familien zu kümmern und Strategien zu entwickeln, wie die Defizite, die in der Corona-Zeit entstanden sind, ausgeglichen werden können. Einhergehen sollte das mit der Verstärkung der Vermittlung sozialer Kompetenzen.

Es gibt gute Materialien, wie man als Lehrkraft mit der Corona-Pandemie umgehen kann. Auch wenn beim Erscheinen dieses Buches die Pandemie vermutlich abgeebbt sein wird, hat diese Erfahrung unser Leben nachhaltig beeinflusst. Auszuschließen ist außerdem nicht, dass es zukünftig ähnliche Krisensituationen geben wird, die wiederum die Schule herausfordern werden. Daher sind grundsätzliche Überlegungen hilfreich, wie sie das Projekt „Zusammenleben neu gestalten“ der Deutschen Gesellschaft für Demokratiepädagogik (DeGeDe), Landesverband Hessen, angestellt hat. (...)

Verschwörungsideologien

Corona hat Verschwörungsideologien mobilisiert, die sich u. a. im digitalen Netz und in den Querdenken-Demonstrationen manifestieren.

„Sie lassen sich von Erkenntnissen über die Wirklichkeit, die nicht in ihr Bild passen, nicht beirren, sondern nehmen die Wirklichkeit nur entlang ihrer eigenen Voraussetzungen, also sehr selektiv, wahr. Was nicht ins Bild passt, wird passend gemacht, ausgeblendet oder als ‚Lüge‘ abqualifiziert.“ (4)

Mit Falschbehauptungen und verkürzten Informationen wird die Pandemie geleugnet, und es finden sich Menschen unterschiedlicher politischer Richtungen zusammen. Die Schule wird von solchen Meinungen und Gedanken nicht verschont. Es gibt Eltern und andere Erwachsene, die die Pandemie leugnen und Konstrukte bedienen, dass hinter der Pandemie einzelne Menschen wie Bill Gates stünden, oder es gibt Zuschreibungen wie das „China-Virus“ (vom ehemaligen US-Präsidenten Trump erfunden). Auch auf einem Titelbild des Magazins Spiegel wurde diese verzerrte Zuschreibung übernommen, indem ein gelb gekleideter Mensch mit Hygiene-Ausrüstung und dem Titel „Corona-Virus – Made in China“ dargestellt wurde.

Die genannten Phänomene werden in der einen oder anderen Form auch in der Schule sichtbar. Sie gehen oft einher mit Hass und Hetze im digitalen Netz. Insofern ist insbesondere der Erwerb von Medienkompetenz erforderlich. Darauf zu reagieren betrifft nicht nur Lehrkräfte aus den Fächern Informatik und politische Bildung, sondern alle Lehrkräfte sind hier gefragt (vgl. auch Politische Bildung, Heft 4/17).Das Deutsche Kinderhilfswerk hat am 5. 11. 2020 darauf mit einem Aufruf „Instrumentalisierung von Kindern durch ‚Querdenken 711‘ verhindern“ reagiert, weil diese mit deutschlandweiten Aktionen gegen das Tragen einer Mund-Nase-Bedeckung in Schulen agitieren wollte bzw. es tat. Grundsätzlich ist es notwendig, sich in der Schule mit diesen Verschwörungstheorien auseinanderzusetzen, das Thema nicht zu übergehen, sondern diese Herausforderung zum Anlass zu nehmen, sich kritisch mit Themen wie der Bedeutung von wissenschaftlichen Erkenntnissen und dem Wahrheitsgehalt von Informationen im Netz, aber auch in anderen Medien zu beschäftigen.


Helmolt Rademacher

mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag aus: Helmolt Rademacher (2021), Konfliktkultur in der Schule entwickeln – Wie Demokratiebildung gelingt, Kohlhammer Stuttgart 2021. 178 Seiten 34 Euro

(1) Christa Kaletsch, Helmolt Rademacher: Schule der Demokratie, Frankfurter Rundschau vom 25./26.7.2020
(2) Die Zeit vom 17.9.2020
(3) zitiert nach: Susanne Gölitzer, Relevanz und Beziehung, Frankfurter Rundschau vom 8.7.2020
(4) Deutsche Gesellschaft für Demokratiepädagogik: Zusammenleben neu gestalten. 2021 (Download)