Bewusst fahrlässig?

Die Corona-Politik des Hessischen Kultusministeriums

HLZ 3/2021: Mitbestimmung

Für die Erkennung, Verhütung und Bekämpfung von übertragbaren und nicht übertragbaren Krankheiten ist in Deutschland das Robert-Koch-Institut (RKI) zuständig. Zu den Aufgaben des RKI gehört auch die wissenschaftliche Begründung von Maßnahmen, die dem Schutz der Bevölkerung dienen. Für die Schulen hat das RKI angesichts der Corona-Pandemie klare Empfehlungen formuliert: Ab einem 7-Tage-Inzidenzwert von 50 – also dann, wenn in sieben Tagen auf 100.000 Personen 50 neu Infizierte entfallen – soll im Unterricht eine generelle Maskenpflicht gelten. Außerdem fordert das RKI die Verkleinerung der Lerngruppen, um den Mindestabstand von 1,5 Metern einhalten zu können. Letzteres kann durch Wechselunterricht erfolgen. (1) 

Diesen Empfehlungen des RKI sind die Bundesländer trotz steigender Infektionszahlen und massiver Proteste der GEW und anderer Verbände im Herbst nicht gefolgt. Die Landesregierungen hielten der Forderung nach Wechselunterricht immer wieder entgegen, dass an Schulen kein nennenswertes Infektionsgeschehen zu beobachten wäre. Deshalb, so die Behauptung, könnten Schulen auch keine Infektionstreiber für das Pandemiegeschehen sein. Das Hessische Kultusministerium (HKM) bildete hier keine Ausnahme – ganz im Gegenteil: Kultusminister Lorz stellte am 10. Juni 2020 in der Landespressekonferenz sogar die Behauptung auf, Kinder wirkten im Pandemiegeschehen als „Infektionsbremse“. Würde diese absurde These stimmen, dann wären Lehrkräfte so gut wie keine andere Berufsgruppe durch ihre Tätigkeit in der Schule gegen eine Ansteckung mit dem Corona-Virus geschützt. 

Hinter dem Wunsch, die Schulen so weit wie möglich offen zu halten, stecken ganz verschiedene, zum Teil durchaus nachvollziehbare Motive. So würden die Bildungschancen insbesondere von sozial sowieso schon benachteiligten Kindern verschlechtert, und den Kindern fehlten die sozialen Kontakte. Verwiesen wird auch auf den schlechteren Schutz vor Misshandlungen, wenn der Schulbesuch ausgesetzt oder eingeschränkt ist. Der zentrale Grund für das Verweigern von Wechselunterricht dürfte aber ein anderer sein: Das Betreuungsproblem der Kinder sollte nicht wie im ersten Lockdown im Frühjahr 2020 wieder zur Belastung für die Eltern werden, die dann auch nicht im üblichen Umfang hätten arbeiten können. 

Keine aussagefähigen Zahlen 

Das Problem beginnt aber dann, wenn Zahlenspiele zur Steigerung der Akzeptanz von Maßnahmen eingesetzt werden. So hat das HKM immer wieder die Zahl der infizierten Kinder und Jugendlichen in Relation zur Gesamtzahl der Schülerinnen und Schülern gesetzt. Eine solche Darstellung ist aber nicht aussagekräftig. Sinnvoller sind die schon erwähnten Werte für die 7-Tage-Inzidenz, das heißt die Zahl der Neuinfektionen je 100.000 Personen innerhalb von sieben Tagen. 

Ende November 2020 legte das Gesundheitsamt Frankfurt Infektionszahlen für Schülerinnen und Schüler aus sechs Wochen im Oktober und November vor. Auf dieser Grundlage konnte die GEW Hessen zumindest für Frankfurt solche 7-Tage-Inzidenzwerte für die 11- bis 17-Jährigen berechnen. Die entsprechende wöchentliche Inzidenz-Zahl lag im Durchschnitt um gut 100 über dem jeweiligen Inzidenzwert von Frankfurt insgesamt. Angesichts dieser Werte forderte die GEW Hessen zum wiederholten Male, dass die Landesregierung endlich den Empfehlungen des RKI folgen und Hessen in den Wechselunterricht gehen solle (Corona-Blog, HLZ 1-2/2021, S.6f). 

Die Landesregierung reagierte mit einem verbalen Rundumschlag, der ganz offensichtlich vom eigenen Politikversagen ablenken sollte: Ministerpräsident Bouffier verstieg sich in einer Regierungserklärung am 8. Dezember 2020 zu der Behauptung, die GEW schüre mit unbewiesenen Behauptungen Unsicherheit und Ängste und handle unverantwortlich. Eine Gegenrechnung oder die Veröffentlichung von Inzidenzwerten für die Schulen blieb die Landesregierung schuldig. 

Infektionen bei Kindern – darüber besteht unter Medizinerinnen und Medizinern Konsens – verlaufen selten schwer, oft treten bei ihnen überhaupt keine Symptome auf. Deshalb werden ihre Infektionen zum Teil übersehen. Kinder werden deshalb auch seltener getestet, was ein Problem für die Beurteilung des Corona-Infektionsgeschehens bei Kindern darstellt. 

Bereits im Frühjahr 2020 hatte der Berliner Virologe Christian Drosten darauf hingewiesen, dass Kinder eine ähnlich hohe Viruslast aufweisen und deshalb auch genauso ansteckend sind wie Erwachsene. In den letzten Wochen neigen offensichtlich immer mehr Fachleute zu dieser Auffassung, die durch zahlreiche Studien gestützt wird. Für die neu aufgetretenen Corona-Mutationen besteht offensichtlich nicht nur ein erhöhtes Verbreitungsrisiko, sondern es werden gerade bei Kindern und Jugendlichen auch schwerere Krankheitsverläufe beobachtet. 

Wie ansteckend sind Kinder?

Eine bemerkenswerte Untersuchung zur Frage der Ansteckung von Kindern mit dem Corona-Virus, deren Ergebnisse Ende Oktober 2020 veröffentlicht wurden, wurde im Helmholtz-Zentrum München durchgeführt (2). Grundlage dieser Studie waren 12.000 zwischen Januar und Juli 2020 entnommene Blutproben von Schülerinnen und Schülern, die ursprünglich zur Früherkennung von Diabetes bei Kindern dienten. Im Vergleich zu den im Zeitraum von April bis Juli 2020 vom Bayerischen Landesamt für Gesundheit und Ernährung gemeldeten Fällen von positiv auf das Corona-Virus getesteten Kindern zwischen 0 und 18 Jahren fiel die Antikörperhäufigkeit in den Blutproben sechsmal (!) höher aus. 

Hohe Ansteckungsraten von Kindern hat auch eine indische Studie ermittelt, der Daten von mehr als 575.000 Personen zu Grunde liegen (3). Die Ergebnisse der Studie wurden Anfang November in der Fachzeitschrift scinexx publiziert. Demnach sind selbst bei kleineren Kindern relativ hohe Ansteckungsraten auszumachen. Bis zu 25 Prozent der Kinder bis zum Alter von 14 Jahren sind dabei von Gleichaltrigen angesteckt worden. Auch für das so genannte „Superspreading“ – eine Person steckt eine Vielzahl von Personen an – liefert die Studie wichtige Erkenntnisse. Demnach waren acht Prozent der Corona-Ausgangsfälle für 60 Prozent der nachgelagerten Infektionen verantwortlich. Einen Superspreading-Fall musste der Hamburger Bildungssenator Ties Raabe für eine Hamburger Schule im Dezember 2020 widerwillig einräumen (4). 

Eine weitere Studie zur Frage der Corona-Infektion von Kindern ist die österreichische „Gurgelstudie“ – benannt nach der Gurgellösung, die die Grundlage für die Überblicksuntersuchung zur Rolle von Schulen im Pandemiegeschehen bildet (5). Diese Untersuchung unter Leitung des Wiener Mikrobiologen Michael Wagner erhebt seit Beginn des Schuljahr 2020/21 die Häufigkeit aktiver Corona-Infektionen von Schülerinnen und Schülern (bis 14 Jahren) und Lehrkräften an Volksschulen, Mittelschulen und Unterstufen der Allgemeinbildenden Höheren Schulen in ganz Österreich. Nach den bisher vorliegenden Ergebnissen unterscheidet sich das Infektionsgeschehen in den Schulen quantitativ nur wenig vom Infektionsgeschehen außerhalb der Schulen. 

Für Aufsehen gesorgt haben zudem neue Befunde aus England (6). Zwar habe sich, so die Erkenntnis, der Lockdown als eine wirksame Maßnahme erwiesen, um die Infektionszahlen zu verringern. Allerdings wurde ebenfalls ermittelt, dass die Infektionszahlen von Kindern und Jugendlichen im Schulalter über dem Durchschnitt der Bevölkerung lagen. 

Aufschlussreich ist auch eine am Karlsruher Institut für Technologie erstellte Untersuchung, die ermittelte, welche Maßnahme in welchem Zeitraum die Ausbreitung der Epidemie gebremst hat (7). Nach den Ergebnissen, für die die entsprechenden Maßnahmen in neun europäischen Ländern und 28 Bundesstaaten der USA die Grundlage bildeten, waren Schulschließungen die mit Abstand wichtigste. Auch dies ist ein mehr als deutlicher Hinweis darauf, dass das Pandemiegeschehen vor den Schultüren nicht Halt macht. 

Seit Beginn des neuen Jahres haben sich die Aussagen der hessischen Landesregierung vom Tenor her deutlich verändert (HLZ S. 6-7). 

Ursächlich waren nicht nur die Mutationen, sondern auch der Druck der Verbände und anderer Bundesländer. Anders als der Thüringer Ministerpräsident Bodo Ramelow wollte allerdings in der hessischen Landesregierung niemand Fehleinschätzungen eingestehen.

Ab dem 22. Februar steht jetzt auch in Hessen der Wechselunterricht, den das HKM bisher strikt ablehnte und für einzelne Landkreise, die diesen Schritt für die höheren Klassen erwogen hatten, sogar untersagte, auf dem Plan. 

Besser spät als nie 

Doch auch wenn Kultusminister Lorz, so Pit von Bebenburg in der Frankfurter Rundschau, damit „über den eigenen Schatten springt“: Vorsicht und Verlässlichkeit sind seine Sache nicht. Noch Ende Januar stellte er in Aussicht, dass die Klassen 1 bis 6 „möglichst früh im März“ wieder in den „eingeschränkten Regelbetrieb“ gehen sollen. Wenn die Infektionslage dies zulässt, ist dies durchaus zu begrüßen. Aber der Glaube, man könne die Akzeptanz für Einschränkungen steigern, indem man ihr schnelles Ende ankündigt, zerbrach immer wieder an der Realität und hat genau das Gegenteil bewirkt. 

Auch wenn die hessische Landesregierung ihr Fehlverhalten nun korrigiert, bleibt der Tatbestand eines massiven Politikversagens in der zweiten Corona-Welle bestehen. Schwarz-Grün in Hessen muss sich den Vorwurf gefallen lassen, auf Basis von unsachlichen Argumenten den Empfehlungen des RKI nicht gefolgt zu sein, was man durchaus als bewusste Verletzung der Sorgfaltspflicht bewerten kann.

Birgit Koch und Kai Eicker-Wolf 
Birgit Koch ist Landesvorsitzende der GEW Hessen, Kai Eicker-Wolf Referent für Bildungsfinanzierung und Finanzpolitik.

 


Quellen und Kurzlinks

(1) Robert-Koch-Institut: Präventionsmaßnahmen in Schulen während der COVID-19-Pandemie. Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts für Schulen vom 12.10.2020

https://bit.ly/3qYmFhh

(2) Mehr Infektionen als bekannt: Neue Studie zeigt Relevanz bevölkerungsweiter SARS-CoV-2-Antikörpertests auf. Pressemeldung des Helmholtz Zentrums München vom 29.10.2020

https://bit.ly/3pb2ex2

(3) Corona: Erhöhte Übertragung unter Kindern? Indische Studie beobachtet besonders hohe Ansteckungsraten unter gleichaltrigen Kindern, in: ScineXX. Das Wissenmagazin vom 2.10.2020

https://bit.ly/3sO03l3

(4) Rabe wegen Superspreader-Studie unter Druck: Hat der Bildungssenator die Corona-Gefahr in Schulen bewusst vertuscht? In: news­4teachers. Das Bildungsmagazin

https://bit.ly/2NkJugj

(5) Gurgelstudie, Teil 2. Brennpunktschulen sind eher Corona-Hotspots als andere Schulen, in: DER STANDARD vom 6. Januar 2021

https://bit.ly/2Y599Mj

(6) Marie Illner, COVID-19-Studie aus England: Kinder als Überträger des Coronavirus unterschätzt?

https://bit.ly/2KKYWSa

(7) Signifikanter Effekt von Schulschließungen, Pressemitteilung 114/2020 des Karlsruher Instituts für Technologie vom 10.12.2020

https://bit.ly/3p7UqMm