Bildungspolitik

Kleine Klassen – große Wirkung

Der Vorteil von kleinen Klassen ist wissenschaftlich belegt

HLZ 1-2/2022:Demokratie und Menschenrechte

Bei allen Nachteilen, die die Corona-Pandemie für Schülerinnen, Schüler und Lehrkräfte mit sich brachte, gibt es auch eine positive Erkenntnis: Die Erfahrungen mit den halbierten Lerngruppen im Wechselunterricht zeigten, dass Lern- und Lehrsituationen in kleinen Klassen für alle Beteiligten deutlich entspannter, aber auch intensiver sind. Hier sind sich die meisten Lehrkräfte, Schülerinnen, Schüler und Eltern einig: Je weniger Kinder oder Jugendliche in einer Klasse unterrichtet werden, desto besser wird der Stoff vermittelt, desto mehr werden die Schülerinnen und Schüler im Unterricht lernen. Als Gründe führen sie an, dass das Potenzial für Unruhe und Störungen in kleineren Klassen sinkt und Lehrkräfte in kleinen Lerngruppen besser auf die individuellen Bedürfnisse der Kinder eingehen können.

Politisch nicht gewollt

Um zu verhindern, dass sich diese Erfahrungen über den Nutzen kleiner Lerngruppen im Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit festsetzen, erklärte Kultusminister Lorz (CDU) auf eine Landtagsanfrage im August 2021, die Forderung nach kleineren Klassen basiere häufig auf einer „subjektiven Wahrnehmung“ und stehe im „Gegensatz zu vielen wissenschaftlichen Befunden“. Anders als im schwarz-grünen Koalitionsvertrag vor Corona vorgesehen plane er somit auch keine Reduzierung der Klassenobergrenzen an Grundschulen (1).

Quellen für seine Erkenntnisse nennt Kultusminister Lorz nicht, aber ähnliche Aussagen finden sich im aktuellen OECD-Bildungsmonitor 2021:
„Es gibt zwar einige Belege dafür, dass sich kleinere Klassen bei bestimmten Schülergruppen, z. B. Schülern mit sozioökonomisch ungünstigem Hintergrund, vorteilhaft auswirken können (…), insgesamt jedoch sind die Forschungsergebnisse darüber, wie sich unterschiedliche Klassengrößen auf die Leistungen der Schüler auswirken, nicht eindeutig.“ (2)

OECD und Kultusminister sind jedoch nicht auf der Höhe der Zeit, denn es gibt mittlerweile neuere Untersuchungen mit eindeutigen Ergebnissen. Konsequent ignoriert die OECD auch drei Großstudien aus der Vergangenheit: STAR (USA 1989), wonach insbesondere bildungsferne Schülerinnen und Schüler in kleinen Klassen bessere Leistungen zeigten (siehe Kasten), SAGE (USA 2000) und die London Class Size Study (UK 1996/2000).

Die Antwort des Kultusministeriums auf die Landtagsanfrage lässt keinen Zweifel an den tatsächlichen Gründen für die Verweigerungshaltung:
„Beim Herabsetzen des Klassenteilers auf maximal 20 Schülerinnen und Schüler für jede dritte Klasse an einer Grundschule würde dies nach derzeitigem Stand 145 zusätzliche Klassen und 132,57 zusätzliche Lehrerstellen bedeuten. Unter Berücksichtigung eines Personal-Kostensatzes einer durchschnittlichen Grundschullehrkraft in der Besoldungsgruppe A 12 handelt es sich um ein Finanzvolumen von 10.516.886 Euro.“

Sind kleine Klassen „zu teuer“?

Dass kleine Klassen, auch wenn sie zuerst einmal teurer zu sein scheinen, langfristig deutliche Vorteile für den Wirtschaftsstandort Deutschland haben können, belegt eine neuere Untersuchung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) vom Mai 2018 (3). Die Studie basiert auf 38.000 Vergleichsarbeiten, die an allen Grundschulen im Saarland zwischen 2004 und 2007 in der Klassenstufe 3 in Deutsch und Mathematik durchgeführt wurden. Damit sollten Leistungsunterschiede zwischen Schulen und innerhalb von Schulen zwischen Klassen gemessen werden, um die Unterrichtsqualität zu verbessern. Getestet wurde der Unterrichtsstoff aus den zwei vorhergehenden Schuljahren, also den Klassenstufen 2 und 3. Das Ergebnis ihrer Untersuchung fasst Maximilian Bach, einer der Autoren der Studie, wie folgt zusammen:
„Im Vergleich zu anderen Studien für Deutschland können wir erstmals kausal positive Effekte einer Reduzierung der Klassengröße auf Testergebnisse nachweisen.“
Positive Effekte einer Senkung der Klassengröße zeigten sich vor allem in großen Klassen, in denen mindestens 20 Schülerinnen und Schüler unterrichtet werden:
„Eine Umrechnung in Schulwochen ergibt, dass jedes Kind weniger in einer großen Klasse zur Folge hätte, dass die SchülerInnen durchschnittlich so viel zusätzlich lernen, wie sie es sonst in zweieinhalb Wochen tun. Fünf SchülerInnen weniger zögen entsprechend durchschnittliche Lernzuwächse von knapp drei Monaten nach sich.“
Eine durchaus realistische Reduzierung großer Klassen um fünf Schülerinnen und Schüler führe zu Leistungszuwächsen von knapp drei Monaten. Im Fach Mathematik seien in kleineren Klassen vor allem bei Mädchen bessere Testresultate zu erwarten. Auch die Wahrscheinlichkeit, eine Jahrgangsstufe wiederholen zu müssen, „ist umso höher, je mehr SchülerInnen in einer Klasse sind“. Ein Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung lässt es sich nicht nehmen, auch die Frage nach dem ökonomischen Nutzen kleinerer Klassen zu stellen:
„Insgesamt machen Personalaufwendungen in Deutschland etwa 81 Prozent der Ausgaben in öffentlichen Schulen aus. Wenn kleinere Klassen – und dadurch bedingt mehr LehrerInnen – aber zu besseren schulischen Leistungen der SchülerInnen führen und damit im späteren Berufsleben zum Beispiel die Einkommen steigen, könnten sich staatliche Mehrausgaben im Schulbereich über höhere Einkommensteuereinnahmen in der Zukunft als rentabel erweisen.“
Aber auch aus gewerkschaftlicher Sicht spricht nicht nur die Pädagogik für kleinere Klassen: Kleine Klassen sind ein wirksames Mittel gegen Stress am Arbeitsplatz Schule, zu hohe Arbeitsbelastung und zu hohe Kosten für kranke Lehrkräfte!

Gesundheitsfördernde Effekte

In allen Belastungsstudien zur Lehrerarbeit spielt der Faktor „Klassengröße“ eine zentrale Rolle. So liegt es auf der Hand, dass jeder Schüler, jede Schülerin mehr den Arbeitsaufwand erhöht: mehr Korrekturen, mehr Zeit für Gespräche, für Förderpläne, Erziehungsvereinbarungen, Gutachten, Förderausschüsse oder Kompetenzfeststellungsverfahren. Auch im Unterricht sinkt die Zeit, die zur Verfügung steht, um individuell auf die Schülerin oder den Schüler einzugehen. Die Unruhe in großen Klassen ist größer, selbst wenn oder sogar gerade wenn alle gut mitarbeiten. Oft sind auch Räume zu klein, es fehlen Arbeitsflächen, die Raumluft ist schlecht. Schülerversuche in den naturwissenschaftlichen Fächern sind bei Lerngruppen mit mehr als 16 Kindern und Jugendlichen zu gefährlich, oft stehen auch die entsprechenden Arbeitsmittel nicht in ausreichender Anzahl zur Verfügung. Kinder mit besonderen Förderbedarfen erfordern eine intensivere Zuwendung der Lehrpersonen. Gleiches gilt für Zuwandererkinder, die oft über sprachliche Defizite verfügen.

Der Zusammenhang zwischen Lehrergesundheit und Klassengrößen wird durch zahlreiche Belastungsstudien belegt, insbesondere die TALIS-Studie der OECD (4). In der Potsdamer Studie zur Lehrergesundheit von Uwe Schaarschmidt und anderen rangiert die Klassenstärke ganz oben auf Platz 2 der Belastungsfaktoren, nach dem „Verhalten schwieriger Schüler“ und noch vor der Zahl der zu erteilenden Stunden und unabhängig davon, ob es sich bei den Befragten in der Terminologie der Studie um einen „aktiven“ oder „eher resignierten“ Lehrertypus handelt (5). In einer ähnlich angelegten Studie der Freiburger Universitätsklinik für den südbadischen Raum wird die Klassenstärke sogar als der von Lehrkräften am stärksten erlebte Belastungsfaktor ermittelt (6). Die im Auftrag der GEW durchgeführte repräsentative Arbeitsbelastungsstudie der Universität Göttingen von 2016 bestätigt diese Ergebnisse: Auch hier gaben 67 % der befragten Lehrkräfte an, dass sie sich durch zu große Klassen erheblich belastet fühlen und große Klassen einer der fünf Hauptbelastungsfaktoren sind (7). Nach der Frankfurter Arbeitszeit- und Arbeitsbelastungsstudie von 2020, die jetzt als Buch vorliegt, fühlen sich 31 % der Lehrkräfte durch zu große Klassen „stark“ und 36 % „eher stark“ belastet (8).

Christoph Baumann


(1) Kleine Anfrage Moritz Promny (FDP) vom 25.5.2021 „Klassenteiler an Grundschulen“ (DS 20/5815, HLZ 11/2021 S.20)
(2) Bildung auf einen Blick 2021, S.216
(3) Maximilian Bach und Stephan Sievert: Kleinere Grundschulklassen können zu besseren Leistungen von SchülerInnen führen. DIW Wochenbericht 22/2018
(4) OECD: Teaching and Learning International Survey (TALIS). Paris 2009
(5) T. Ronginska, W. Gaida, U. Schaarschmidt (Hrsg.): Psychische Gesundheit im Lehrerberuf. Universität Potsdam 1998
(6) J. Bauer: Die Freiburger Schulstudie. In: SchulVerwaltung BW 12, S. 259–264.
(7) Frank Mußmann, Thomas Hardwig, Martin Riethmüller: Arbeitsbelastungsstudie an niedersächsischen Schulen. Göttingen 2016.
(8) Frank Mußmann u.a.: Arbeitszeit und Arbeitsbelastung von Lehrkräften an Frankfurter Schulen 2020. Marburg 2021


        Kontakt


         Referent Bildungspolitik

           Dr. Roman George
           069–971293–20
           Fax 069–971293–93 
           rgeorge@gew-hessen.de