Bildungspolitik

Eine Aufgabe der GEW

Den Kampf gegen den Antiziganismus unterstützen

HLZ 2022/5: Wir gegen den Klimawandel

Das Bundesministerium des Inneren hat nach der Annahme des Beschlusses „Antizganismus bekämpfen“ am 22. März 2019 durch den Deutschen Bundestag eine Unabhängige Kommission Antiziganismus (UKA) gebildet und beauftragt, einen Bericht zum Antiziganismus in Deutschland und Empfehlungen für seine Bekämpfung innerhalb von zwei Jahren vorzulegen. Dem ist die Kommission mit der Vorlage des Berichts im Juli 2021 mit dem Titel „Perspektivwechsel. Nachholende Gerechtigkeit. Partizipation.“ in beeindruckender Weise nachgekommen.

Über 600 Seiten umfasst der Bericht in gedruckter Form (1). Er beschäftigt sich mit allen Aspekten des Antiziganismus von der Definition des Begriffs über die lange Vergangenheit von Antiziganismus bis hin zum Völkermord der Nazis und den Folgen für die Minderheit und schließlich der Wirkung auf Sinti:ze und Rom:nja in Deutschland heute. Zu allen in 17 Kapiteln abgehandelten Themen hat die Kommission Handlungsempfehlungen abgegeben. Rund 40 Seiten des Berichtes befassen sich mit dem institutionellen Antiziganismus und Rassismus gegen Sinti:ze und Rom:nja im Bildungssystem. Darauf soll hier genauer eingegangen werden.

Der Bericht der UKA ist längst überfällig und zeigt die vielfältigen Aufgaben auf, die heute für Bildungsinstitutionen in Deutschland bestehen. In den Universitäten ist das Thema Antiziganismus endlich Gegenstand der Forschung und Lehre geworden, wenn auch nur in bescheidenen Ansätzen (2). Auch die GEW hat sich als Bildungsgewerkschaft in den letzten Jahren mit dem Antiziganismus in Deutschland auseinandergesetzt (3). Es ist ihre Aufgabe, sich mit dem Bericht der UKA zu beschäftigen und eine kritische und selbstreflexive Auseinandersetzung mit der Institution Schule im Kontext des Antiziganismus voranzutreiben.

Die Kommission ging auch der Frage nach, warum sich die deutsche Gesellschaft so schwer tut, Alltagsrassismus zu erkennen und zu bekämpfen:
„Die noch nahe Geschichte der systematischen Entrechtung, Verfolgung und Internierung und des Massenmordes an Jüdinnen und Juden sowie Sinti_ze und Rom_nja im Nationalsozialismus erschwert im deutschsprachigen Raum in besonderer Weise, Rassismus in der Gegenwart als alltäglich anzuerkennen.“ (4) Nach dem Ende des Naziregimes gab es zwar einen durch die Alliierten forcierten demokratischen Neuanfang, die Entnazifizierung blieb allerdings oft schon nach kurzer Zeit stecken, auch im deutschen Bildungssystem.

Dennoch wurde den Schulen und ihren Lehrkräften zugeschrieben, dass sie die Verkörperung der neu geschaffenen Demokratie seien. Mit diesem Bewusstsein unterrichteten und unterrichten Lehrerinnen und Lehrer. Rassistische „Zwischenfälle“ an Schulen wurden demzufolge als Probleme Einzelner hingestellt und als Fremdkörper des Schulsystems angesehen. Gleichzeitig sprechen von Rassismus und Antiziganismus Betroffene selten über ihre negativen Erfahrungen, was wiederum die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit Rassismus und Antiziganismus nicht so dringlich zu machen scheint. Antiziganismus zeichnet sich nicht selten gerade dadurch aus, dass er nicht bemerkt wird, Personen und Institutionen nicht bewusst ist, dass sie ihn vertreten und verbreiten. In Bezug auf das Bildungssystem scheint dann auch keine Notwendigkeit zu bestehen, sich im Rahmen des Bildungsauftrages der Schule mit dem Antiziganismus zu beschäftigen, ihn zum Unterrichtsgegenstand zu machen.

Die Handlungsempfehlungen der Kommission

Die Handlungsempfehlungen der UKA können hier nur in Stichworten angeführt werden. Sie zeigen Bereiche auf, in denen der Kampf gegen Antiziganismus von Bedeutung ist und in denen auch GEW-Mitglieder aktiv sind, und wurden auf der Basis der wissenschaftlichen Expertise der Kommissionsmitglieder und der beauftragten Studien erstellt. Hier werden die Handlungsempfehlungen gekürzt vorgestellt, entsprechend der Reihenfolge im Bericht.

Abbau von rassistischen Zugangsbarrieren im Bildungssystem

  • Einrichtung von unabhängigen Beschwerdestellen für alle Schulformen und in Ausbildungsbetrieben, um Alltagsrassismus sichtbar zu machen und dagegen vorzugehen
  • Abbau von Defizitorientierungen im pädagogischen Handeln. Segregierende Formen der Beschulung in Willkommens- und Förderklassen sind zu beenden.
  • Einrichtung von Stipendienprogrammen für Schüler:innen, für Auszubildende und Studierende der Sinti:ze und Rom:nja

Perspektivwechsel in Forschung und Lehrer:innenbildung

  • Verankerung von antiziganismuskritischen Inhalten in allen Lehramtsstudiengängen
  • Thematisierung der Geschichte und Wirkung des Genozids an den Rom:nja und Sinti:ze Europas
  • Reflexion des eigenen professionellen Handelns von Lehrer:innen und Ausbilder:innen in Ausbildungsberufen, ebenso von Erzieher:innen in der frühkindlichen Bildung
  • Didaktik mit Bewusstsein für antiziganistische Rassismuserfahrungen
  • All diese Inhalte und Themen sind in pädagogischen Studiengängen, insbesondere für angehende Lehrer:innen aller Fächer, ausdrücklich zum Thema zu machen, durch regelmäßige Fortbildungen zu begleiten und anzuleiten.

Repräsentation von Sinti:ze und Rom:nja im Bildungssystem

  • Zugänge zum Lehrer:innen- und Erzieher:innenberuf für Rom:nja und Sinti:ze schaffen
  • Repräsentation und Partizipation von Rom:nja und Sinti:ze in der Bildungspolitik und in Schulleitungspositionen, dazu sind auch Quotenregelungen einzuführen.
  • Beteiligung von Selbstorganisationen der Rom:nja und Sinti:ze bei der Entwicklung von Studien- und Fortbildungsprogrammen
  • Erziehungs- und sozialwissenschaftliche Forschung über antiziganistischen Rassismus im Bildungs- und Ausbildungssektor fördern. In Lehre und Forschung ist darauf zu achten, dass Positionen an Hochschulen und Universitäten bevorzugt mit Personen mit eigenen Antiziganismuserfahrungen besetzt werden.

Handlungsempfehlungen für Lehrpläne und Schulbücher

  • Explizite Thematisierung von Alltagsrassismus und Antiziganismus
  • Aufklärung über die Geschichte und Wirkung des Völkermords an den europäischen Rom:nja und Sinti:ze
  •  Thematisierung der fortgesetzten Stigmatisierung nach 1945 und der Denk- und Handlungsmuster, die dazu geführt haben
  • Informationen über Selbstbehauptung, Überlebensstrategien und Widerstand von Sinti:ze und Rom:nja im Kontext ihrer Entrechtung, Verfolgung und Ermordung während des Nationalsozialismus
  • Benennen von Täterschaften der Verfolgung und der Motive der Täter:innen, insbesondere der Kontinuitäten der rassistischen „Zigeunerforschung“ und deren Folgen
  • Vermeidung der Reproduktion von Stereotypen bei der Verwendung von Bild- und Textquellen im Unterricht
  • Sichtbarmachen von Rassismus gegen Sinti:ze und Rom:nja in der Gegenwart, insbesondere von institutionalisierten Formen im Bildungsbereich, auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt sowie hinsichtlich der Sicherheitsbehörden
  •  Zugehörigkeit von Sinti:ze und Rom:nja zur deutschen Gesellschaft wie zu den europäischen Gesellschaften, ausgrenzende und fremdmachende Formulierungen sind zu vermeiden.
  • Aktivitäten von Rom:nja und Sinti:ze in der Bekämpfung des Antiziganismus ebenso wie über die Geschichte der Bürger:innenrechtsbewegung in Deutschland und Europa sowie über Selbstorganisationen als relevante Interessenvertreter:innen
  • Mitwirkung von Vertreter:innen aus Selbstorganisationen der Sinti:ze und Rom:nja an Bildungsplänen und Schulbüchern
  • Rezeptionsforschung von Schulbuchinhalten hinsichtlich Antiziganismus/Rassismus gegen Sinti:ze und Rom:nja
  • Migration als Normalfall und nicht spezifisch für Sinti:ze und Rom:nja

Bildungsempfehlungen gegen Antiziganismus durch die KMK

Die Verankerung der Thematik des antiziganistischen Rassismus in Bildungsplänen und Schulbüchern sowie der Geschichte und gegenwärtigen Situation von Sinti:ze und Rom:nja in Deutschland und Europa ist sicherzustellen.

Seitens der Bundesregierung, für die der Bericht im Auftrag des Bundestages verfasst wurde, sind hoffentlich einige Initiativen zu erwarten. Allerdings ist die Zuständigkeit im Bildungsbereich komplex: Die Kultusministerien der verschiedenen Länder, die Universitäten, die für die Lehrer:innenbildung beauftragt sind, die Studienseminare, die Staatlichen und Kreisschulämter, die Weiterbildungsanbieter, Schulbuchverlage mit Schulbüchern für unterschiedliche Fächer und Jahrgangsstufen, aber auch die außerschulische Bildungsarbeit sind betroffen. Schließlich sind es die Lehrerinnen und Lehrer, Erzieherinnen und Erzieher selbst, auf die es im Hinblick auf ihre kritische Selbstreflexion ganz besonders ankommt. Für all diese diversen Bereiche wird deutlich, wie groß die Aufgaben sind, einen Perspektivwechsel herbeizuführen, eine nachholende Gerechtigkeit gegenüber der Minderheit der Sinti:ze und Rom:nja herzustellen und ihnen eine Partizipation in allen Bildungsbereichen zu ermöglichen. Die GEW sollte dazu ihren Beitrag leisten.

Christoph Ortmeyer

Der Autor ist ehemaliger Grundschullehrer und Mitglied der Gesellschaft für Antiziganismusforschung


(1) Perspektivwechsel. Nachholende Gerechtigkeit. Partizipation. Bericht der Unabhängigen Kommission Antiziganismus. Berlin 2021. Zum Bericht auf der Internetseite des Bundesinnenministeriums
(2) So gibt es eine Arbeitsstelle Antiziganismusprävention an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg im Institut für Gesellschaftswissenschaften, die regelmäßig auf ihrer Homepage pädagogische Materialien zur Verfügung stellt.
(3)  Material zum Antiziganismus findet man auf der GEW-Homepage
(4) Bericht der Unabhängigen Kommission, S. 215


        Kontakt


         Referent Bildungspolitik

           Dr. Roman George
           069–971293–20
           Fax 069–971293–93 
           rgeorge@gew-hessen.de