Bildungspolitik

Bildung in der Krise

Der IQB-Bildungstrend und die soziale Spaltung

HLZ: Februar 2022

Die Veröffentlichung der ersten Ergebnisse des IQB-Bildungstrends im Juli 2022 hat eine heftige Debatte ausgelöst. Die Untersuchung der Deutsch- und Mathematikkompetenzen in Jahrgangsstufe 4 brachte zum Vorschein, dass die durchschnittlichen Leistungen in allen untersuchten Teilbereichen deutlich zurückgegangen sind. Der Anteil der Kinder, die hinter den von der Kultusministerkonferenz definierten Standards zurückblieben, ist gegenüber den vorangegangenen Untersuchungen deutlich angestiegen. So erreichen beispielsweise im Kompetenzbereich Lesen 19 Prozent der Viertklässlerinnen und Viertklässler nicht den Mindeststandard. Gegenüber 2016 wuchs der Anteil um sechs Prozentpunkte. Somit gelang es einem Fünftel nicht, im Text beieinander liegende Informationen durch einfache Schlüsse miteinander in Beziehung zu bringen oder einfache kausale Beziehungen zu erkennen.


Bei der Vorstellung der Ergebnisse betonte Petra Stanat als Direktorin des mit der Durchführung betrauten IQB, dass der Bildungstrend keine unmittelbaren Rückschlüsse auf die Ursachen erlaubt. Angesichts des deutlichen Abfalls der Leistungen stand freilich diese Frage im Mittelpunkt der Diskussion. So bewertete Thies Rabe (SPD), der Hamburger Bildungssenator, den Leistungsrückgang vorrangig als eine Folge der Schulschließungen während der Corona-Pandemie, sieht aber auch eine Mitschuld bei den Schulen, die er auffordert, wieder verstärkt „die Grundkompetenzen zu vermitteln“. 

Hessen im Durchschnittsbereich

Die Vermutung, dass die Corona-Pandemie einen Einfluss hatte, ist nicht von der Hand zu weisen. Schließlich fand die Erhebung im Frühsommer 2021 statt, somit unmittelbar nach den erheblichen Einschränkungen des Schulbetriebs während des zweiten Lockdowns. Andererseits wurde jedoch bereits 2016 ein Rückgang des Leistungsniveaus gegenüber der ersten Erhebung 2011 festgestellt. Somit hat sich der bestehende negative Trend verstärkt, die Pandemie alleine kann diesen aber nicht hinreichend erklären. Der erst im Oktober 2022 vorgelegte vollständige Bericht erlaubt nun deutlich tiefergehende Einblicke (1). Daher sollen hier zunächst aus hessischer Perspektive wichtige Ergebnisse berichtet werden. Daran anschließend sollen weitere Überlegungen angestellt werden, wo die Gründe liegen könnten.
Hessens befindet sich im Vergleich mit den anderen Bundesländern im mittleren Bereich, nur im Teilbereich Zuhören liegt es signifikant über dem Durchschnitt (siehe Tabelle 1). Der Leistungsrückgang fand in allen Teilbereichen gleichermaßen statt, in den Bereichen Orthografie und Mathematik war er in Hessen allerdings etwas weniger stark als bundesweit. Hier werden nun keine Kompetenzstufen ausgewiesen, sondern ein im Mittel erreichter Punktewert. Der Bereich um 500 entspricht dabei dem Regelstandard, also dem Leistungsniveau, das in der Regel erreicht werden soll. Offensichtlich entfernen sich die Bundesländer immer weiter von dieser Zielmarke der Kultusministerkonferenz.
 

Aufschlussreich ist das Kapitel zu den sozialen Disparitäten. Hier geht es um die Frage, inwiefern der sozioökonomische Hintergrund eine Rolle spielt. Inzwischen dürfte es kaum noch jemanden überraschen, dass dieser Zusammenhang ausgesprochen stark ausfällt. Bemerkenswert ist allerdings, dass sich der Einfluss von 2011 bis 2021 deutlich verstärkt hat. Das ist ein äußerst ernüchterndes Ergebnis, denn spätestens seit dem PISA-Schock ist es ja erklärtes Ziel, die soziale Schere zu schließen. Außerdem stellt sich der Trend je nach sozialen Herkunftsgruppen und Bundesländern überraschend unterschiedlich dar. Dies zeigen die in Tabelle 2 dargestellten Ergebnisse. Dabei wird auf das soziologische Konzept des „kulturellen Kapitals“ in Anlehnung an die Theorie von Pierre Bourdieu zurückgegriffen. Dies umfasst erworbenes Wissen und erworbene Fähigkeiten und den Besitz von kulturellen Gütern sowie von anerkannten Zertifikaten und Zeugnissen. Als Indikator wird pragmatisch auf die im Haushalt vorhandene Zahl an Büchern zurückgegriffen.


Das in Hessen festgestellte Kompetenzniveau ist bei Kindern aus Haushalten mit niedrigem kulturellem Kapital deutlich geringer als bei Kindern aus Haushalten mit hohem kulturellem Kapital. Die bestehenden Unterschiede zwischen den beiden Gruppen erreichen eine Größenordnung von bis zu 84 Punkten beim Teilbereich Lesen. Dies entspricht dem Lernzuwachs von rund anderthalb Schuljahren. Im Vergleich zu den vorangegangenen Erhebungen hat sich der Leistungsstand nur in der Gruppe mit niedrigem sozialem Kapital erheblich verschlechtert. In der Gruppe mit hohem sozialem Kapital hat sich das Leistungsniveau hingegen nicht oder nur minimal verändert. Ausschließlich im Bereich Orthografie gibt es auch in dieser Gruppe einen nennenswerten Rückgang. Das bedeutet: Die insgesamt festgestellten Verschlechterungen in den Bereichen Deutsch und Mathematik gehen fast vollständig auf deutlich geringere Leistungen bei den Kindern mit schlechteren Lernvoraussetzungen zurück. Bei Kindern mit günstigeren Lernvoraussetzungen im Sinne eines hohen kulturellen Kapitals hat sich der Leistungsstand hingegen nicht wesentlich geändert. Es gelingt den Grundschulen also zunehmend schlechter, vor allem den Kindern die grundlegenden Fertigkeiten zu vermitteln, für die eine intensive schulische Förderung am wichtigsten wäre. Die Entwicklung hat sich in vielen Bundesländern ähnlich vollzogen, es gibt aber auch einige Bundesländer, in denen sich der Rückgang auf beide Gruppen gleichmäßig verteilt, beispielsweise Baden-Württemberg und Thüringen. Dort hat sich die soziale Schere zumindest nicht noch weiter geöffnet. Wünschenswert wäre selbstverständlich eine Angleichung auf hohem Niveau.
 

Auf der Suche nach den Ursachen

Der IQB-Bericht untersucht auch die möglichen Einflüsse der Pandemie. So mussten die Grundschulen in dem der Erhebungsphase vorangegangenen Zeitraum über viele Wochen auf Distanz- oder Wechselunterricht umstellen. Tatsächlich zeigten vor allem die Schülerinnen und Schüler geringere Leistungen, die über schlechtere Voraussetzungen für erfolgreiches Lernen im Distanz- oder Wechselunterricht verfügten, beispielsweise weil es zu Hause an einem Drucker oder einem geeigneten Arbeitsplatz mangelt. Diese Faktoren dürften immer nachteilig wirken, unter Pandemiebedingungen aber verstärkt zum Tragen gekommen sein. Die Kultusministerinnen und -minister nutzten den Anlass, um im Nachhinein nochmal den von ihnen verfolgten Kurs des fast bedingungslosen Offenhaltens von Schulen zu rechtfertigen. Dabei gerät allerdings aus dem Blick, dass diese die Pandemie viel besser hätten bewältigen können, wenn sie angemessen auf die – frühzeitig prognostizierten – folgenden Wellen vorbereitet worden wären.


Wenn aus der Kultusministerkonferenz heraus die Grundschuldidaktik für die unbefriedigenden Ergebnisse verantwortlich gemacht wird, klingt das nach einem Ablenkungsmanöver. So tritt das Versagen der Kultusministerinnen und -minister bei der bedarfsgerechten Ausbildung von genügend Lehrkräften in den Hintergrund. Die Folgen sind jedoch bislang vor allem an den Grundschulen zu spüren. Während bei der ersten Erhebung des Bildungstrends 2011 der Lehrkräftemangel noch kein Thema war, so ist er inzwischen das drängendste Problem. Es liegt nun wirklich nicht fern zu vermuten, dass die der Not geschuldete Einstellung von Seiteneinsteigerinnen und -einsteigern und von nicht angemessen qualifizierten Vertretungskräften zu einer Verschlechterung der Leistungen führt. Das gilt gerade für Grundschulen, denn es gibt keine angrenzenden Berufe, die in irgendeiner Weise angemessen auf den Kern der Profession vorbereiten würden, die Vermittlung von Lesen, Schreiben und Rechnen.


Die Vorwürfe an die Grundschuldidaktik, die auch vom Philologenverband erhoben wurden, spielen auf die Methodik des Schriftspracherwerbs an, vor allem anhand von „Lesen durch Schreiben“. Dieses Argument kann schon gar nicht für Hessen überzeugen, denn Kultusminister Lorz steht nun wirklich nicht im Verdacht, reformpädagogische Ansätze wie diesen in irgendeiner Weise gefördert zu haben. Darüber hinaus fällt der Rückgang der Kompetenzen im Bereich Mathematik ähnlich stark aus, obwohl es hier keinen vergleichbaren Methodenstreit gibt. Die wachsende Zahl an Kindern in Armut und der Fachkräftemangel schlagen an den Grundschulen hingegen voll durch und spiegeln sich in den Ergebnissen des IQB-Bildungstrends wider. Dabei sollte nicht vergessen werden, dass es neben der sprachlichen und der mathematischen Bildung beispielsweise hinsichtlich der musischen Bildung keinesfalls besser aussehen dürfte.


Zur Reduzierung des Lehrkräftemangels an den Grundschulen hat die GEW mit ihrem 15-Punkte-Programm konkrete Vorschläge vorgelegt (E&W 12-22/01-23, https://bit.ly/3Is6tAO). Außerdem muss das Problem der Kinderarmut angegangen werden. Die von der Ampel angekündigte Kindergrundsicherung könnte dabei eine wichtige Rolle spielen, wenn sie denn wirklich kommt und gut gemacht wird. Das ist zu hoffen, denn die Schulen alleine können die wachsenden sozialen Verwerfungen nicht kompensieren.


Roman George

(1) Petra Stanat, Stefan Schipolowski, Rebecca Schneider, Karoline A. Sachse, Sebastian Weirich, Sofie Henschel (Hrsg.): IQB-Bildungstrend 2021. Kompetenzen in den Fächern Deutsch und
Mathematik am Ende der 4. Jahrgangsstufe im dritten Ländervergleich, Münster/New York.


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