Zwei Wege zum Lehrerberuf

Seiteneinstieg und pädagogische Professionalität

HLZ 1/2020: Lehrkräftemangel in Hessen

Foto: „Schließlich können wir uns keine Lehrerinnen und Lehrer backen.“ Diesen Satz bekommen Eltern und Kollegien immer häufiger zu hören, wenn sie den Lehrkräftemangel und seine Folgen beklagen. Die Kolleginnen und Kollegen aus dem Kreisvorstand der GEW Groß-Gerau bewiesen bei einem Aktionstag im Rüsselsheim das Gegenteil. (auf dem Foto: Friedhelm Ernst und Karola Pruschke-Löw)

Klaus-Jürgen Tillmann, emeritierter Professor für Schulpädagogik an der Universität Bielefeld und früherer wissenschaftlicher Leiter der „Laborschule Bielefeld“, referierte bei einem Fachgespräch der GEW Hessen am 28.Oktober über das Thema „Lehrkräftemangel, Quer- und Seiteneinstieg“. Er plädierte in seinem Referat für einen „Perspektivwechsel“. Der Seitenstieg in den Lehrerberuf sollte nach seiner Auffassung nicht mehr nur als Reaktion auf ein „zyklisch auftretendes Versorgungsproblem“ begriffen, sondern bewusst gestaltet werden. Auch in Phasen, in denen sehr viele qualifizierte Lehrkräfte dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, gebe es immer wieder sektorale Engpässe für bestimmte Regionen, Schulstufen und Unterrichtsfächer.

Geht man von dieser Position aus, so lässt sich gut begründen, dass wir kontinuierlich auf zwei Wegen in den Lehrerberuf setzen sollten: Auf den grundständigen Weg, der über das „klassische“ Lehramtsstudium führt, und auf den zweiten Weg, der über Studienabschluss, Berufstätigkeit und Seiteneinstieg führt. Beide Wege sollten als prinzipiell gleichwertig angesehen werden und zu einer vollen Lehrbefähigung führen. Dass bedeutet aber auch, dass über beide Wege eine pädagogische und didaktische Professionalität als Voraussetzung für eine kompetente Unterrichts- und Erziehungsarbeit erworben werden muss. Bevor dies ausgeführt wird, soll zunächst die gegenwärtige Seiteneinsteiger-Situation skizziert werden.

Aktuell: Seiteneinstieg als Notprogramm

Die bestehenden Seiteneinstiegsprogramme in elf Bundesländern funktionieren nach demselben Grundmuster: Es muss ein Hochschulabschluss in einem Mangelfach vorliegen, in den meisten Ländern zählen dazu Mathematik, Physik, Chemie und Musik. Für den Seiteneinstieg in die Grundschule findet sich meist ein erweitertes Fächerspektrum. Außerdem müssen Hochschulstudien vorliegen, die sich zu einem zweiten Fach ausbauen lassen. Sodann wird eine Einstellung als Lehrkraft, in der Regel mit voller Stelle und vollem Gehalt, vollzogen. Bei hoher Unterrichtsverpflichtung (meist etwa 18 Wochenstunden) erfolgt eine berufsbegleitende Qualifizierung in zwei Fächern, die meist erst nach mehreren Jahren mit einer Prüfung abschließt. (siehe auch HLZ S.18)

Beim Seiteneinstieg ist der Männeranteil deutlich höher als in der grundständigen Ausbildung. So sind in Berlin 33 % der Seiteneinsteiger in Grundschulen Männer, im Referendariat sind es nur 11 %. Die meisten Menschen, die sich für einen Seiteneinstieg entscheiden, sind zwischen 30 und 45 Jahre alt. Sie sind im Schnitt acht Jahre älter als die grundständig Ausgebildeten. Viele von ihnen haben Kinder, so dass auch die familiären Belastungen nicht gering sind. Bei ihnen findet sich ein breites Spektrum studierter Fächer – darunter Sportwissenschaft, Musik, Geschichte, Mathematik, Informatik, Anglistik und Philosophie. Als Berufserfahrung blicken sie zurück auf eine langjährige Tätigkeit z. B. als Lektorin, als Journalist, als Informatiker, als Klavierlehrerin, als Erwachsenenbildnerin. Es sind dies Berufserfahrungen, die auch der jeweiligen Schule zu Gute kommen könnten. Es fällt auf, dass in vielen Fällen berufliche und private Unsicherheiten den Anstoß zum Berufswechsel gegeben haben. So arbeiteten viele von ihnen  als wissenschaftliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an Universitäten mit immer wieder befristeten Arbeitsverträgen. Hier wirkte sehr stark der Wunsch, diese prekäre Arbeitssituation zugunsten einer Festanstellung zu verlassen. Oft verbindet sich ein solcher Wunsch nach beruflicher Sicherheit mit der Erwartung, in der pädagogischen Arbeit in der Schule eine sinnvolle und befriedigende Tätigkeit zu finden.

Seiteneisteigerinnen und Seiteneinsteiger haben vom ersten Tag an eine hohe Unterrichtsverpflichtung. In manchen Fällen werden sie moderat an diese Vollbelastung herangeführt, in anderen Fällen müssen sie aber vom ersten Tag an die volle Stundenzahl von 18 und mehr Stunden eigenständig unterrichten. Alle berichten von einer kaum zu schaffenden Arbeitsmenge. Trotz etlicher Nachtschichten sei es nicht möglich gewesen, die Mehrheit der Stunden gründlich vorzubereiten. Der Griff zu einem Arbeitsblatt oder der Blick ins Schulbuch müsse oft genügen. Nach etwa drei bis vier Monaten habe man erste Routinen entwickelt, so dass sich die Situation etwas entspannt habe, aber das Missverhältnis zwischen hoher Unterrichtsbelastung und fehlenden Kenntnissen und Erfahrungen bleibe bestehen.

Ein Vorschlag zur Quadratur des Kreises

In den ad hoc entworfenen Seiteneinstiegsprogrammen, wie sie zurzeit in elf Bundesländern als Notmaßnahmen zur Unterrichtsabdeckung bestehen, erfolgt vor dem Beginn der Unterrichtstätigkeit keine pädagogisch-didaktische Qualifizierung. Im Unterschied dazu möchte ich im Folgenden skizzieren, wie ein Seiteneinstieg organisiert und gestaltet werden könnte, der seinen Auftrag zur Ausbildung einer pädagogischen Professionalität ernst nimmt.

Dabei gilt zunächst der Anspruch, dass niemand ohne pädagogische Qualifizierung Unterrichtsarbeit übernehmen soll. Deshalb muss der erste Schritt darin bestehen, den Seiteneinsteigerinnen und Seiteneinsteigern die pädagogischen und (fach)didaktischen Grundlagen ihrer Unterrichts- und Erziehungsarbeit zu vermitteln, bevor ein kontinuierlicher Unterrichtseinsatz erfolgen kann. Hierzu gab und gibt es Modellversuche in Dresden und Berlin. Dort wurde jeweils an der Universität ein spezifischer Studiengang für Seiteneinsteigerinnen und Seiteneinsteiger eingerichtet, der dann zum Eintritt in das Referendariat führt. An der FU Berlin wurde hierzu kürzlich ein viersemestriger Q-Master eingerichtet, in dem neben bildungswissenschaftlichen Grundlagen auch die noch fehlenden Leistungen im zweiten Unterrichtsfach erworben werden können.

Ein solches Konzept berücksichtigt in angemessener Weise die Ansprüche an eine professionelle Qualifizierung, nimmt aber zwei andere Aspekte des Seiteneinstiegs nur zum Teil auf: Die Schulbehörde erwartet einen schnellen Beitrag zur Reduzierung des Lehrermangels und die meist schon lebens­älteren Berufswechsler können sich ein selbstfinanziertes Studium über zwei Jahre oft nicht leisten. An dieser Stelle ist nun die Bereitschaft zu neuen und kreativen Lösungen erforderlich: Kann es ein Seiteneinstiegsprogramm geben, bei dem die pädagogische und fachliche Qualifizierung an erster Stelle steht, bei dem aber zugleich die Bewerberinnen und Bewerber ein auskömmliches Einkommen erhalten und für die Schulbehörde ein Beitrag zur Lösung der Personalprobleme geleistet wird? Ich versuche mit dem folgenden Vorschlag diese „Quadratur des Kreises“:

Die Bewerberinnen und Bewerber steigen in ein universitäres Programm ein, wie es z. B. in Berlin der Q-Master anbietet. Sie werden dort pädagogisch-didaktisch und auch fachlich (im zweiten Fach) qualifiziert. Dieses Studium wird  auf vier Semester angelegt, für diese Zeit erhalten die Bewerberinnen und Bewerber einen Arbeitsvertrag als Aushilfslehrkraft von der Schulbehörde (und ein entsprechendes Gehalt).

Neben ihren universitären Studien leisten sie pädagogische Arbeit in der Schule. In den ersten zwei Semestern erteilen sie noch keinen Unterricht, aber sie sind wöchentlich in ca.10 Stunden mit pädagogischen Aufgaben betraut – z.B. als Förderlehrkraft, durch Angebote im Ganztagsbereich, in der Begleitung von Projekten, durch Betreuung bei Klassenfahrten. Vom 3. Semester an unterrichten sie in ihren beiden Fächern unter Anleitung ca. 10 Stunden pro Woche.

Nach dem 4. Semester erfolgen das Examen zum Master of Education und der Eintritt in das Referendariat, das aufgrund der umfassenden pädagogischen Vorerfahrungen auf zwölf Monate verkürzt werden kann. In dieser Zeit wird bei einer Unterrichtsbelastung von ca. 14 Stunden das bisherige Gehalt weitergezahlt. Nach diesem Jahr wird die 2. Staatsprüfung abgelegt und die Lehramtsausbildung damit beendet.

Ein solcher dreijähriger Bildungsgang (einschl. Referendariat) will die Seiteneinsteigerinnen und Seiteneinsteiger nicht nur fachlich, sondern auch pädagogisch-didaktisch etwa auf dem gleichen Niveau wie ihre grundständig ausgebildeten Kolleginnen und Kollegen qualifizieren. Und er bietet während der ganzen Zeit ein Einkommen, das sonst nur mit einer vollen Berufstätigkeit zu erzielen ist – und auch deshalb attraktiv ist für lebensältere Bewerberinnen und Bewerber.

Von zentraler Bedeutung wäre nun, dass dieser zweite Zugang zum Lehrberuf auf Dauer gestellt wird. Er darf nicht länger als eine zeitlich befristete Sondermaßnahme angelegt sein, sondern muss kontinuierlich als Ausbildungsweg vorgehalten werden: Der Q-Master sollte an möglichst vielen lehrerbildenden Universitäten angeboten werden, dabei sollte die Zulassung zum Studium den jeweils aktuellen Katalog der Mangelfächer berücksichtigen. Damit erfolgt ein dauerhaftes Angebot zum Berufswechsel, das der regulären zweiphasigen Lehrerbildung inhaltlich und formal gleichwertig ist – und das zugleich die Lehrerausstattung in den Mangelfächern verbessert. Wenn sich dann auch noch die Erziehungswissenschaft diesem zweiten Weg zuwenden würde, um z. B. über Qualifikationsprozesse beim Seiteneinstieg zu forschen oder um die vielfältigen beruflichen Erfahrungen der Seiteneinsteigerinnen und Seiteinsteiger bei Projekten zur Schulentwicklung zu nutzen, wäre eine neue Normalität hergestellt: Seiteneinstieg nicht als Notprogramm, sondern als einer von zwei regulären Wegen zum Lehrberuf.

Prof. Dr. Klaus-Jürgen Tillmann

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