Scheibchenweise zur Wahrheit

HLZ 1/2020: Lehrkräftemangel in Hessen

Das Hessische Kultusministerium (HKM) gibt die harten Fakten nur scheibchenweise preis. Am Anfang des Schuljahres behauptete das HKM in einer Erklärung an die Hessenschau dreist, man müsse „nur in Ausnahmefällen auf den Einsatz von Quereinsteigern in den Schuldienst zurückgreifen“ und könne „alle zur Verfügung stehenden Stellen mit qualifiziertem Personal besetzen“ (hessenschau vom 20.8.2019). Geradezu euphorisch waren die Pressemeldungen des HKM. Die hessischen Schulen seien „hervorragend aufgestellt“: „In herausfordernden Zeiten gewährleisten wir überall in Hessen die bislang beste Ausstattung unserer Schulen mit Stellen und Personal.“ (2.8.2019)

Die Schulen starteten „mit einer Rekordversorgung an Lehrerstellen ins neue Schuljahr“: „Dabei garantieren wir landesweit eine hohe Unterrichtsqualität und statten unsere Schulen mit den personellen und technischen Ressourcen aus, um sie auf die Zukunft des Lehrens und Lernens vorzubereiten.“ (13.8.2019)

Wie viele Quereinsteiger gibt es in Hessen?

Auch in den Berichten des HKM an die Kultusministerkonferenz (KMK) wird der Lehrkräftemangel und insbesondere die Zahl der Quer- und Seiteneinsteiger seit Jahren systematisch verschleiert. So verzeichnen die Statistischen Veröffentlichungen der KMK zur „Einstellung von Seiteneinsteigern in den öffentlichen Schuldienst“ (Tabelle 1.16) für Hessen im Jahr 2017 die Zahl Null und für 2018 die Zahl 44, davon 43 für „Berufliche Fächer“. Das Bundesland Sachsen nannte dagegen für dasselbe Jahr die Zahl 1.174, es folgen Berlin (1.057) und Nordrhein-Westfalen (1.006). Auch kritische empirische Studien ziehen aus diesen Zahlen den falschen Schluss, Hessen habe möglicherweise größere „Anstrengungen bei der Ausbildung von Lehrkräften“ geleistet oder sei als Arbeitgeber attraktiver als andere Bundesländer (1).

Einstellungsvoraussetzung „Unterrichtserlaubnis“

Tatsächlich ist die Basis des Etikettenschwindels eine ganz andere: Während andere Bundesländer gezielte Maßnahmen zur Anwerbung von Seiteneinsteigern mit Hochschulabschluss ergriffen haben und diese in strukturierter Form qualifizieren, geht Hessen den bequemsten und billigsten Weg: Wer auch immer für die Arbeit im Unterricht gewonnen werden kann, wird mit einem befristeten „Vertretungsvertrag“ eingestellt und darf im Rahmen einer „Unterrichtserlaubnis“ unterrichten. Grundlage dafür ist § 83 der Durchführungsverordnung zum Hessischen Lehrerbildungsgesetz. Danach kann der Nachweis der „Eignung für einen Unterrichtseinsatz“ unterbleiben, „wenn ein unabweisbares Unterrichtsbedürfnis vorliegt und nachhaltige Bemühungen zur Gewinnung einer ausgebildeten Lehrkraft ohne Ergebnis geblieben sind“.

Insbesondere im Zusammenhang mit einem Rechercheprojekt des Hessischen Rundfunks im Rahmen der ARD-Themenwoche Bildung musste Kultusminister Lorz (CDU) schrittweise zurückrudern und die Jubelmeldungen am Schuljahresbeginn relativieren. Doch von der Realität waren auch diese Aussagen noch meilenweit entfernt: „Unsere Prognosen und unsere Bedarfsberechnungen sind zwar auch nicht entspannt, aber sehen noch anders aus als in den Regionen, aus denen in den letzten Monaten oder Jahren die Schlagzeilen kamen.“ (2)

Da jede ausgebildete Grundschullehrkraft in Hessen sofort eine Planstelle erhalte, gelinge es Hessen „im Großen und Ganzen“, alle Stellen zu besetzen:
„Aber wir haben natürlich keinen Pool mehr, aus dem wir beispielsweise Vertretungskräfte nehmen könnten, die dann das Grundschullehramt studiert haben.“
Dass Seiteneinsteiger an hessischen Schulen im Rahmen von Vertretungsverträgen längst flächendeckend regulären Unterricht erteilen, dass Schulleitungen verzweifeln, weil sie den für die Befristung des Arbeitsvertrags erforderlichen Vertretungsgrund an ihrer Schule überhaupt nicht nachweisen können, wird von Kultusminister Lorz weiter systematisch ausgeblendet.

Zahl der befristeten Verträge

Bis heute verweigert das Hessische Kultusministerium eine ehrliche Bilanz. Auch die GEW Hessen ist auf wenige offizielle Erhebungen angewiesen, die entsprechende Schlussfolgerungen über die tatsächliche Zahl von Lehrkräften ohne Lehramt ermöglichen.

Eine Möglichkeit, die Zahl zu erheben, ist die Betrachtung der Zahl der befristeten Arbeitsverhältnisse. Da inzwischen in der Tat alle ausgebildeten Lehrkräfte – anders als vor einigen Jahren – eine unbefristete Stelle bekommen, kann die Zahl der befristeten Verträge an den allgemeinbildenden Schulen mit der Zahl der Personen ohne Lehramt gleichgesetzt werden, die nach dem Lehrerbildungsgesetz und dem Einstellungserlass nur befristet eingestellt werden dürfen.

Die Zahl der befristeten Arbeitsverträge an hessischen Schulen steigt nach einem leichten Rückgang seit 2015 wieder an. Das gilt insbesondere für Grundschulen. Anfang 2019 waren 914 Stellen an Grundschulen mit befristet beschäftigten Lehrkräften besetzt. Da sie in der Regel keine vollen Verträge haben, dürfte die vom Hessischen Rundfunk ermittelte Zahl von 1.300 Personen der Wirklichkeit sehr nahe kommen. An den Gesamtschulen waren 856 Stellen, an den Förderschulen 429 Stellen und an den Gymnasien 361 Stellen befristet besetzt.
Die letzten Erhebungen des HKM über den Anteil der Lehrkräfte ohne Lehramt in den einzelnen Schulformen liegen schon länger zurück. Die letzte aussagekräftige Antwort auf eine Anfrage der SPD-Fraktion im Hessischen Landtag bezieht sich auf den 1.10.2017 (HLZ S.8-9). Danach bewegt sich der Anteil der Personen, die kein Lehramt haben, in den Schulamtsbezirken an Grundschulen zwischen 7,4 % (Marburg-Biedenkopf) und 21 % (Groß-Gerau/Main-Taunus) und an Förderschulen zwischen 3,4 % (Marburg-Biedenkopf) und 17,3 % (Darmstadt-Dieburg). Die aktuellen Zahlen dürften deutlich höher liegen.

Soziale Folgen für die Beschäftigten

Die GEW thematisiert in all ihren Stellungnahmen nicht nur die Fragen der Unterrichtsqualität, sondern auch die Arbeitsbedingungen der Kollegien und der zumeist befristet beschäftigten Quereinsteigerinnen und Quereinsteiger: In allen Erfahrungsberichten von Quereinsteigerinnen und Quereinsteigern wird deutlich, dass sie tatsächliche Unterstützung für den Einstieg ausschließlich von den Kolleginnen und Kollegen vor Ort erhalten. Dies ist aber zugleich eine weitere Quelle von Mehrarbeit für Kolleginnen und Kollegen, die schon jetzt an der Belastungsgrenze arbeiten: Sie beraten, unterstützen, stellen Unterrichtsmaterial zur Verfügung, trösten und helfen, wo sie nur können.

  • Die im Rahmen einer „Unterrichtserlaubnis“ eingestellten Kolleginnen und Kollegen firmieren in ihrem Arbeitsvertrag als Vertretungskräfte. Ihr Arbeitsvertrag enthält eine Klausel zur vorzeitigen Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses bei vorzeitiger Rückkehr der vertretenen Lehrkraft. Die Verträge enden regelmäßig vor den Sommerferien, auch wenn sie in den meisten Fällen bei einer Weiterbeschäftigung im neuen Schuljahr so verlängert werden, dass die Ferien dann eingeschlossen sind. Viele Kolleginnen und Kollegen beginnen sich mit der Arbeit in der Schule eine neue berufliche Perspektive aufzubauen und sehen, wie sehr ihre Arbeitskraft in der Schule benötigt wird. Trotzdem stehen sie unter der permanenten Bedrohung der Beendigung ihres Arbeitsverhältnisses. Der Arbeitgeber tut nichts dafür, dass sie durch eine strukturierte Weiterbildung eine Chance auf eine Entfristung und ein angemessenes Gehalt bekommen.

Die Prognosen für die Abdeckung des Lehrerbedarfs in den nächsten Jahren zwingen auch die GEW dazu, sich zu einer systematischen Gewinnung von Quer- und Seiteneinsteigern zu positionieren, zu den Voraussetzungen, zu den Qualifizierungsanforderungen und zu den beruflichen Perspektiven. Klaus-Jürgen Tillmann beschreibt in dieser HLZ, wie andere Bundesländer dies angehen und wie eine professionelle Qualifizierung aussehen müsste (HLZ S.12-13).

Dabei ist daran zu erinnern, dass in Hessen ab 2009 ein „Verfahren zum Erwerb einer einem Lehramt gleichgestellten Qualifikation“ galt, das 2012 ohne Begründung „ausgesetzt“ und bisher nicht wieder aufgenommen wurde. Das derzeitige Verfahren kommt das Land weit kostengünstiger – zu Lasten der Unterrichtsqualität, der Kollegien und der Betroffenen. Hessische Quereinsteiger mit „Unterrichtserlaubnis“ werden vom ersten Arbeitstag an mit voller Stundenzahl eingesetzt, je nach Qualifikation weit unter „Lehrertarif“ bezahlt und können jederzeit wieder gefeuert werden (HLZ S.14f.).

(1) Klaus-Jürgen Tillmann: Von der Notmaßnahme zu einem dauerhaften Konzept? Der Seiteneinstieg in den Lehrerberuf, in: Pädagogik 6/2019, S.11-14, S.13
(2) Kultusminister Lorz, zitiert nach: hr-iNFO, 9.11.2019

Quereinsteiger? Seiteneinsteiger?

Die Begriffe „Quereinsteiger“ und „Seiteneinsteiger“ werden in dieser HLZ weitgehend synonym gebraucht. Im engeren Sinn sind Quereinsteigerinnen und Quereinsteiger Kolleginnen und Kollegen, die mit einem Hochschulabschluss (Diplom, Master) und nicht mit einem Ersten Staatsexamen direkt in ein Referendariat einsteigen, so wie dies insbesondere im Bereich der Beruflichen Schulen oft der Fall ist. Seiteneinsteigerinnen und Seiteneinsteiger sind dagegen Personen, die mit einem Hochschulabschluss mit voller Stundenzahl im Unterricht eingesetzt und berufsbegleitend qualifiziert werden (oder auch nicht). Diese Unterscheidung wird in Hessen nicht gemacht. So wurde auch das 2012 gestoppte „besondere Verfahren zum Erwerb einer einem Lehramt gleichgestellten Qualifikation“ immer als „Quereinsteiger-Verordnung“ etikettiert. Die oben beschriebene Unterscheidung erfasst unter anderem auch nicht die Fälle von Kolleginnen und Kollegen, die nach dem ersten Staatsexamen ein Referendariat in einem anderen Lehramt beginnen oder nach dem zweiten Staatsexamen eine Weiterqualifizierung für ein anderes Lehramt ohne ein weiteres Referendariat durchlaufen.

Erwerb der Gleichstellung mit einem Lehramt

2009 erließ die hessische Landesregierung eine Verordnung „zum Erwerb einer einem Lehramt gleichgestellten Qualifikation“, die allerdings 2012 ohne weitere Begründung wieder außer Kraft gesetzt wurde. Zwar sind die entsprechenden Rechtsgrundlagen weiter gültiger Bestandteil des Hessischen Lehrerbildungsgesetzes (HLbG), allerdings finden sie in der Realität keine Anwendung mehr. § 3 Absatz 4 HLbG lautet: „Soweit für die Besetzung einer freien Stelle an einer Schule unter Berücksichtigung der schulspezifischen Bedarfssituation keine geeigneten Lehrkräfte mit einer Lehrerausbildung nach Abs.1 zur Verfügung stehen, kann zur Sicherung der Unterrichtsabdeckung für geeignete Personen ohne eine solche Lehrerausbildung, die jedoch über einen Hochschul- oder vergleichbaren Abschluss und eine mindestens fünfjährige Berufserfahrung im studierten Berufsfeld verfügen, ein besonderes Verfahren zum Erwerb einer einem Lehramt gleichgestellten Qualifikation durchgeführt werden.“

Detaillierte Ausführungsbestimmungen zum Erwerb der Gleichstellung mit einem Lehramt findet man in der Durchführungsverordnung zum HLbG (§ 53 ff.).