Das Sommermärchen von den „hervorragend aufgestellten Schulen

Die Situation an den hessischen Schulen zum Schuljahresanfang

Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Hessen hat im Rahmen einer Pressekonferenz in der Landeshauptstadt Wiesbaden die Situation an den hessischen Schulen bilanziert. Im Gegensatz zum Kultusministerium, das in einer Pressemitteilung zum Schuljahresbeginn von einer „einmalig guten Lehrkräfteversorgung“ und von „hervorragend aufgestellten“ Schulen gesprochen hat, sieht die GEW Hessen drei Wochen nach Schuljahresbeginn erhebliche Missstände – insbesondere in den Bereichen Lehrkräftemangel, Arbeitsbelastungen sowie Investitionsstau.

Maike Wiedwald, Vorsitzende der GEW Hessen, forderte mehr Anstrengungen für die Gewinnung von qualifizierten Lehrkräften: „Die aktuelle, vom Forschungsinstitut für Bildungs- und Sozialökonomie für die Fraktion Die Linke erstellte Studie zum Lehrkräftebedarf in Hessen hat aufgezeigt, dass allein aufgrund der steigenden Schülerzahlen bis zum Jahr 2030 etwa 6.200 Lehrerinnen und Lehrer zusätzlich benötigt werden, davon 2.900 an Grundschulen. Zudem müssen die rund 20.000 bis zu diesem Zeitpunkt alters- oder gesundheitsbedingt ausscheidenden Kolleginnen und Kollegen ersetzt werden.“ Das Land müsse daher auf mehreren Ebenen ansetzen. Nicht nur die Studienplätze, auch die Kapazitäten im Vorbereitungsdienst müssten deutlich ausgebaut werden: „Das Referendariat ist nach wie vor ein Nadelöhr in der Ausbildung. Darüber hinaus muss der Beruf deutlich attraktiver werden, um mehr Nachwuchskräfte zu gewinnen und um diese auch – bei guter Gesundheit – im Beruf zu halten. Dazu gehört für uns unabdingbar die Anhebung der Eingangsbesoldung von Grundschullehrkräften auf A13 wie bei allen anderen Lehrämtern. Die Arbeitsbedingungen müssen ebenfalls verbessert werden – zum einen durch eine Reduzierung der Unterrichtsverpflichtung, zum anderen durch Entlastungen bei den zahlreichen unterrichtsfernen Tätigkeiten“, so Maike Wiedwald.

Auch die befristete Einstellung von Lehrerinnen und Lehrern sieht die GEW nach wie vor kritisch. Die Zahl der Befristungen im Schulbereich in Hessen ist in den letzten Jahren wieder deutlich gestiegen. Im Schuljahr 2017/2018 waren ungefähr 5.600 Personen befristet auf 3.400 Stellen eingestellt, was einem prozentualen Anteil von 6,7% aller Stellen entspricht. „Vielen der befristet eingestellten Kolleginnen und Kollegen fehlen oft fachliche Qualifikationen und vor allem pädagogische Kompetenzen für den Unterricht. Darunter leidet die Unterrichtsqualität“, betonte die Vorsitzende der GEW Hessen Birgit Koch. Koch weiter: „Wer zum Beispiel Germanistik studiert hat, verfügt über eine hohe wissenschaftliche Kompetenz. Das bedeutet aber nicht, dass er oder sie den Stoff auch Kindern in der Grundschule im Deutschunterricht so vermitteln kann, dass diese das Thema verstehen. Auftretende Probleme und die Einarbeitung und Unterstützung der befristet Beschäftigten müssen die Kolleginnen und Kollegen der Schulen noch zusätzlich bewältigen. Hier muss es deutliche Veränderungen geben. Ein erster Schritt wäre die Reduzierung der Arbeitsbelastungen und der Arbeitszeiten.“ Außerdem leide durch die vielen befristeten Beschäftigungsverhältnisse die Kontinuität des Unterrichts und der pädagogischen Prozesse.

Einen deutlichen Hinweis auf sich verschlechternde Lern- und Arbeitsbedingungen an den Schulen sieht die GEW Hessen in den zahlreichen Überlastungsanzeigen, die auf gesundheitsgefährdende Arbeitsbedingungen aufmerksam machen. Kultusminister Alexander Lorz räumte in einer Antwort auf eine kleine parlamentarische Anfrage des Abgeordneten Christoph Degen (SPD) ein, dass im Schuljahr 2017/2018 insgesamt 95 Überlastungs- oder Gefährdungsanzeigen eingegangen sind (Drucksache 19/6566). Ein regionaler Schwerpunkt liegt in der Rhein-Main-Region, alleine auf das Staatliche Schulamt Frankfurt entfallen 41 Schulen. Die meisten Überlastungsanzeigen kommen von Grundschulen mit einer Gesamtzahl von 28 sowie von Integrierten Gesamtschulen mit insgesamt 18. Tony C. Schwarz, stellvertretender Vorsitzender der GEW Hessen, kommentierte diese Befunde: „Kultusminister Lorz weigert sich nach wie vor, die zahlreichen bei ihm und den Schulämtern eingehenden Schreiben als ‚Überlastungsanzeigen‘ im arbeitsrechtlichen Sinn anzuerkennen. Diese werden zumeist von ganzen besorgten Kollegien eingereicht, die damit auf Notstände an ihren Schulen aufmerksam machen. Die Kolleginnen und Kollegen benötigen keine juristische Belehrung, sondern konkrete Unterstützungs- und Entlastungsangebote.“

Die bestehenden Mängel vor Ort schilderten vier Lehrkräfte aus verschiedenen Regionen des Bundeslandes. So beschrieb Nina Heidt-Sommer, Lehrerin an der gebundenen Ganztagsgrundschule Gießen West, die Situation folgendermaßen: „Das Land Hessen muss für attraktive Arbeitsbedingungen sorgen. Dazu gehört eine Rückkehr in die Tarifgemeinschaft deutscher Länder und die Reduzierung der Regelstunden für alle Lehrämter. Dazu gehört aber auch eine Kultusbehörde, die Probleme erkennt und benennt. Das Kultusministerium muss mit den Lehrkräften in einen Dialog zu diesen Themen eintreten. Leider sehen wir jedoch, dass Gesprächsangebote ausgeschlagen werden. Zum Beispiel erklärte sich der Minister für nicht zuständig, als gut zwei Drittel der Grundschulen aus dem Schulamt Gießen/Vogelsberg Probleme in einem offenen Brief klar benannten. Ein Gesprächsangebot an diese Lehrerinnen und Lehrer gab es nicht. Bei diesem Umgang vermissen wir Problembewusstsein und Wertschätzung.“

In diesem Sinne äußerte sich auch Elke Fischer, die an einer Grundschule in Bensheim unterrichtet: „Der Kultusminister behauptet, er setze auch weiter auf qualifizierte Lehrkräfte. Diese Aussage entspricht nicht der Realität in den Schulen. Wir sind darüber sehr verwundert. Das Problem der nicht einschlägig qualifizierten Lehrkräfte betrifft die Grundschulen ganz besonders. Die Besetzung von Lehrerstellen mit nicht pädagogisch qualifiziertem Personal führt nicht nur zu Mehrbelastungen von Kolleginnen und Kollegen, die diese Personen sehr stark anleiten müssen, sie führt auch zu einer geringeren Unterrichtsqualität und schlechteren Bildungschancen.“ Auch an anderen Schulformen bestehen ähnliche Schwierigkeiten. Dies unterstrichen Holger Giebel, Lehrer an der Martin-Luther-Schule in Rimbach im Odenwald für den Bereich der Gymnasien und Paul Neuhaus, Lehrer an der Carl-von-Weinberg-Schule in Frankfurt für die Integrierten Gesamtschulen.

Zu den personellen Engpässen kommt der hohe Investitionsstau an den Schulgebäuden. Dazu sagte Maike Wied­wald: „Dieses Problem muss endlich angegangen werden. Angesichts der im April bzw. im Juni erfolgten Schulschließungen in Kassel und in Neukirchen aufgrund von Einsturzgefahr fordern wir die Landesregierung abermals auf, den Investitionsstau an den Schulen in Hessen zu ermitteln. Dass sich das Land dieser Aufgabe entzieht, ist unverantwortlich. Nach unserer Ansicht müssen die Kommunen endlich dauerhaft finanziell besser ausgestattet werden, um kontinuierlich mehr zu investieren und um das dafür notwendige Personal in den Bauverwaltungen einstellen zu können. Kurzfristig angelegte Investitionsprogramme, wie sie jetzt aufgelegt worden sind, helfen nicht weiter.“ Wiedwald verwies darauf, dass laut den neuesten Zahlen der KfW der bundesweite Investitionsrückstand im Schulbereich alle anderen Bereiche übertreffe – dieser belaufe sich bundesweit auf mittlerweile 47,7 Milliarden Euro.

Birgit Koch zog das folgende Resümee: „Die Schilderungen der Kolleginnen und Kollegen aus der Praxis illustrieren sehr anschaulich, was es bedeutet, wenn jahrelang an der Bildung gespart wird. Die GEW Hessen sieht einen großen politischen Handlungsbedarf für bessere Lern- und Arbeitsbedingungen. Die Situation beschönigende ‚Sommermärchen‘ des Kultusministers helfen uns hingegen nicht weiter.“