Vor 50 Jahren

Berufsverbote nach dem Radikalenerlass des Ministerpräsidenten

HLZ 1-2/2022: Demokratie und Menschenrechte

Mit dem Anspruch der Ampelkoalition, man wolle „mehr Fortschritt wagen“, wurde auch das zentrale Motto der Regierungserklärung des ersten sozialdemokratischen Kanzlers aus dem Jahr 1969 in Erinnerung gerufen, als Willy Brandt forderte, man müsse „mehr Demokratie wagen“. Ein Schlag ins Gesicht all derer, die diesen Aufbruch begrüßten, war dann aber die Unterstützung Willy Brandts für den vor genau 50 Jahren gemeinsam mit den Ministerpräsidenten der Länder gefassten „Extremistenbeschluss“, den „Radikalenerlass“ vom 28.1. 1972: Zur Abwehr angeblicher Verfassungsfeinde sollten „Personen, die nicht die Gewähr bieten, jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung einzutreten“, aus dem öffentlichen Dienst ferngehalten bzw. entlassen werden.

Formell richtete sich der Erlass gegen „Links- und Rechtsextremisten“, in der Praxis traf er praktisch ausschließlich Linke, Kolleginnen und Kollegen, die als Mitglieder der DKP und anderer linker Parteien und Gruppen auftraten, bei Wahlen für linke Parteien kandidierten oder auch nur durch das Parken ihres Autos in der Nähe von vermeintlich verfassungsfeindlichen Versammlungen aufgefallen waren. Allein bestehende „Zweifel an der Bereitschaft, jederzeit für die freiheitlich-demokratische Grundordnung einzutreten“, reichten für eine Nichteinstellung oder eine Entlassung aus dem öffentlichen Dienst aus. Mitglieder und Sympathisanten rechter Parteien und Gruppierungen wurden dagegen im öffentlichen Dienst geduldet und bei Bewerbungen fast nie abgelehnt. Der Radikalenerlass führte zum Berufsverbot für Tausende von Kolleginnen und Kollegen in den Schulen, der Sozialarbeit, bei der Post oder der Bahn und in den Justizbehörden. Bis weit in die 80er Jahre vergifteten Gesinnungsprüfungen, Schnüffeleien des Staatsschutzes und die staatlich betriebene Jagd auf vermeintliche „Radikale“ das politische Klima.

Das Thema bleibt aktuell
Im Vorfeld des 50. Jahrestags brachte die GEW Hessen eine Erklärung des GEW-Hauptvorstands und eine entsprechende Veranstaltung auf den Weg, „um das Thema in Erinnerung zu rufen und politische Schlussfolgerungen zu ziehen“. Auch die Kreisverbände der GEW Hessen wurden aufgefordert, „die Forderung nach Aufarbeitung des Erlasses und seiner Folgen für die Betroffenen“ zu thematisieren und Zeitzeuginnen oder Zeitzeugen, die es in fast jedem Kreisverband gibt, einzuladen.
Die GEW Hessen hält das Thema zudem weiterhin für aktuell:

  • Ein öffentliches Eingeständnis, dass der Radikalenerlass Tausenden von Menschen die berufliche Perspektive genommen und sie in schwerwiegende Existenzprobleme gestürzt hatte, ist bis heute unterblieben.
  • Eine materielle, moralische und politische Rehabilitierung der Betroffenen hat nicht stattgefunden.
  • In Bayern wird von Bewerberinnen und Bewerbern für den öffentlichen Dienst weiterhin formularmäßig die Distanzierung von Organisationen verlangt, die vom Verfassungsschutz als linksextremistisch eingestuft werden.
  • Eine politische Auseinandersetzung über die schwerwiegende Beschädigung der demokratischen Kultur durch die Berufsverbotspolitik steht bis heute aus. Sie wäre heute dringlicher denn je. Bis heute sorgen sich junge Beamtinnen und Beamte, ob nicht bereits eine Unterschrift unter eine Petition oder die Teilnahme an einer Demonstration als Dienstvergehen angesehen werden können.


Bundesweite Petition
In einer bundesweiten Unterschriftensammlung, die am 28. Januar an den Bundestag übergeben werden soll, werden die aktuellen Forderungen der nationalen und internationalen Kampagnen gegen die Berufsverbote zusammengefasst:
„Es ist an der Zeit, den ‚Radikalenerlass‘ generell und bundesweit offiziell aufzuheben, alle Betroffenen voll umfänglich zu rehabilitieren und zu entschädigen und die Folgen der Berufsverbote und ihre Auswirkungen auf die demokratische Kultur wissenschaftlich aufzuarbeiten.“
Zu den Erstunterzeichnenden aus Hessen gehören unter anderen Rechtsanwalt Peter Becker aus Kassel, Prof. Dr. Frank Deppe, die ehemaligen Bundestagsabgeordneten Matthias Birkwald und Jörg Cezanne, der stellvertretende DGB-Bundesvorsitzende Stefan Körzell, der Jazzmusiker Emil Mangelsdorff und der ehemalige GEW-Landesvorsitzende Jochen Nagel. Auch der Publizist Alfred Grosser, die ehemalige GEW-Bundesvorsitzende Marlis Tepe, der stellvertretende GEW-Bundesvorsitzende Dr. Andreas Keller und der verdi-Vorsitzende Frank Werneke gehören zu den Erstunterzeichnern. Für die Betroffenen unterschrieben unter anderen Klaus Lipps, der Sprecher des Bundesarbeitsausschusses der Initiativen gegen die Berufsverbote, Silvia Gingold, Werner Siebler, Dorothea Vogt, Matthias Wietzer und Michael Csaszkóczy.

Zur Homepage berufsverbote-hessen.de