Radikalensortierung im Landtag

Geschichte, die nicht vergeht: Berufsverbote seit 50 Jahren

HLZ 2022/6: Politische Bildung

Bereits in der HLZ 1-2/2022 wurde an den 50. Jahrestag des „Radikalenerlasses“ vom 28. 1. 1972 und seine Folgen erinnert: Zurückweisung von Bewerberinnen und Bewerbern für den öffentlichen Dienst und Entlassung bereits Beschäftigter, Disziplinarverfahren, formelle Untersuchungsverfahren im fünfstelligen Bereich und rund 3,5 Millionen „Durchleuchtungen“ durch die zuständigen Ämter für „Verfassungsschutz“, Verlust des von der Verfassung gewährleisteten Rechts der freien Berufswahl, Demokratieverbot für viele und Abschreckung von politischer Teilhabe bei kaum quantifizierbaren Massen. Der Erlass gehört zu den deutschen Vergangenheiten, die nicht vergehen wollen.

Das bekommen zuerst die seit den 70er Jahren Betroffenen zu spüren, die bis heute weder politisch rehabilitiert noch materiell entschädigt worden sind. Ein bundesweiter Appell, für den weiter Unterschriften gesammelt werden, soll Innenministerin Nancy Faeser übergeben werden (http://www.berufsverbote.de). Fünf ehemals vom „Radikalenerlass“ Betroffene, die sich in der AG Berufsverbote der GEW Kassel engagieren, haben sich zudem mit Eingaben an den Petitionsausschuss des Hessischen Landtags gewendet. Zu ihren gehört Dorothea Holleck (1), die diesen Schritt in der Hessenschau am 30. 1. 2022 lebensgeschichtlich damit begründete, sie wolle „das Stigma des Verfassungsfeindes nicht mit ins Grab nehmen“. Dabei ist den Petenten die Ambivalenz dieses politischen Instruments durchaus bewusst. Neben Rehabilitierung und Entschädigung fordern sie die Einsetzung einer Kommission zur politischen und wissenschaftlichen Aufarbeitung der Schicksale der in Hessen von Berufsverboten betroffenen Personen und zur Erarbeitung von Möglichkeiten, wie ihre Forderungen erfüllt werden können. Da der Erlass die Quellen demokratischer Meinungs- und Willensbildung angreift, ist sein „Verbotsobjekt“ wesentlich ein Demokratieverbot.

Anträge von SPD und Linken

Zuvor fanden Gespräche vor allem mit nordhessischen Abgeordneten der Fraktion Die Linke und der SPD im hessischen Landtag über eine klare Positionierung gegen den „Radikalenerlass“ und seine Folgen in einer Landtagsentschließung statt. Karin Müller von den Grünen schlug diesen Vorschlag aus. Das Ergebnis der Gespräche, für die insbesondere Heide Scheuch-Paschkewitz (Linke) und Oliver Ulloth (SPD) zu danken ist, waren zwei Entschließungsanträge der Linken und der SPD, die sich nur in Nuancen und vor allem in den Begründung unterscheiden (2). Ein gemeinsamer Antrag kam bedauerlicherweise nicht zustande. Bei der Abstimmung im Anschluss an die Landtagsdebatte am 3. 2. 2022 enthielt sich die Fraktion der SPD beim Antrag der Linken, bei der Abstimmung über den Antrag der SPD stimmte die Fraktion der Linken zu. Beide Anträge scheiterten am geschlossenen Nein von CDU, Grünen, FDP und AfD.

Dennoch war die Debatte nicht vergeblich und schon aufgrund der Zusammenarbeit zwischen gesellschaftlichen Initiativen und Parlamentsfraktionen weder ein routinemäßig abgespultes fünfjährliches Pflichtprogramm noch „eine wirklich ordentliche Wiedervorlage“, als die Jörg-Uwe Hahn (FDP) den Antrag der Linken herablassend abzuwerten versuchte. Blitzlichtartig erhellte die Debatte den Verlauf innenpolitischer Spaltungslinien zwischen Parteien und Parteiengruppierungen, aber auch ihre Diffusionen. Da gab es die theatralische Performanz politischer Leidenschaft, wenn Jörg-Uwe Hahn exklamierte: „Der Radikalenerlass war ganz großer Mist!“ Und es wurde zugleich eine staubtrockene Apologie der Radikalenverfolgung geboten, besonders penetrant von Daniel May (Grüne), der als erster Sprecher der Regierungsfraktionen das Wort ergriff:

„In Anwendung des Radikalenerlasses konnte der Eintritt von Menschen in den öffentlichen Dienst verhindert werden, die tatsächlich nicht auf dem Boden unserer Verfassung standen. Es wurden aber auch sehr viele Bürgerinnen und Bürger getroffen, deren Verhalten dies aus heutiger Sicht nicht gerechtfertigt hätte.“ (3)

Damit war das Dispositiv heraus, an dem sich im Verlauf der Debatte Regierungsparteien und FDP orientierten: Eigentlich sei der Radikalenerlass gerechtfertigt und eine gute Sache gewesen, die nur schlecht ausgeführt wurde. „Mist“ sei lediglich die „überschießende Verwaltungspraxis“ gewesen.

Penetrante Apologie

Allerdings konnte kein Redner, der den Radikalenerlass prinzipiell verteidigte, auch nur ein einziges Beispiel seiner gerechtfertigten Anwendung nennen. Etwas gewunden gab May selbst zu, dass er für diese Behauptung keine Belege hat:
„Wer möchte sich heute und hier hinstellen und sagen, dass alle Entscheidungen in den Jahren 1972 bis 1979 (…) unrechtmäßig gewesen seien? Das wird niemand feststellen wollen, weil das niemand feststellen kann.“

Die Behauptung unterstellt, es habe in den Verhören so etwas wie eine „Einzelfallprüfung“ gegeben, und reproduziert das damalige Rechtfertigungsetikett. Wäre sie mehr als rhetorischer Nebel, wäre dieses Nicht-Feststellen-Können immerhin ein guter Grund gewesen, zumindest der Forderung nach Einrichtung einer Aufarbeitungskommission zuzustimmen. Statt dieser politischen Aufarbeitung haben die Regierungsparteien den Betroffenen allein den Weg zu bieten, eine Petition einzureichen. Im Kontext der geschilderten Argumentation wird den Betroffenen damit erneut eine Verkehrung der klassischen Unschuldsvermutung zugemutet: So wie damals die Verdächtigten die Berechtigung des Verdachts auszuräumen hatten, sollen nun die Petenten nachweisen, dass ihnen Unrecht geschehen ist.

Auch die Behauptung, der „Radikalenerlass“ habe sich nicht nur gegen links, sondern gleichermaßen auch gegen rechts außen gerichtet, blieb ohne Beleg und wurde zudem von Daniel May mit fragwürdigen historischen Kontextualisierungen verknüpft.

„Um all das einordnen zu können, müssten Sie auch noch sehen, dass es damals zu terroristischen Akten und zu dem erstmaligen Einzug einer rechten Partei in den baden-württembergischen Landtag gekommen ist.“
Der Redner der AfD und Innenminister Beuth steuerten die nötigen Wallungswerte bei: „Studentenproteste Ende der 60er Jahre“, RAF und Revolutionäre Zellen, Guillaume, DKP, DDR ...

Ist schon der Bezug zum Terrorismus höchst fragwürdig und für die Betroffenen inakzeptabel, so geht der Hinweis auf die NPD, zu deren Bekämpfung angeblich die Berufsverbote beschlossen worden seien, an der historischen Realität vorbei. Als die NPD in den Jahren 1966 bis 1968 in sieben Landtage gewählt wurde, darunter auch 1966 mit 7,9 % der Stimmen in den Hessischen Landtag, waren Regelanfragen beim Verfassungsschutz und Berufsverbote kein Thema. Zum Zeitpunkt des Ministerpräsidentenbeschlusses vom Ende Januar 1972 war die NPD nur noch in einem einzigen Landtag vertreten und auch das nur noch für wenige Monate, nämlich in Baden-Württemberg. Dort trat sie bei der Landtagswahl am 23. 4. 1972 mangels Erfolgsaussichten gar nicht mehr an, sondern rief zur Wahl der CDU auf.

Die „fdGO“ als Überverfassung

Fluchtpunkt der prinzipiellen Rechtfertigung des „Radikalenerlasses“ ist das Konstrukt der „freiheitlich-demokratischen Grundordnung“ (fdGo) bzw. der „wehrhaften Demokratie“. Es wurde in der hessischen Landtagsdebatte von fast allen Rednern und der einzigen Rednerin bemüht – und durchaus unterschiedlich interpretiert. Aber dieses Konstrukt ist nicht beliebig definier- und verwendbar, sondern hat eine Geschichte und Systematik des Gebrauchs, die mittlerweile wissenschaftlich gut erforscht ist (4). Es geht dabei nämlich nicht um den Schutz demokratischer Teilhabe- und Grundrechtsnormen, wogegen es von Demokraten keinen vernünftigen Einwand gegen könnte. Es geht vielmehr um ihre Einengung, es geht um das Zurechtstutzen politischer Pluralität nach Maßgabe staatlicher Machtverhältnisse und Opportunität. Der Verfassungskonsens schließt die radikale Linke mit ein. Aufgrund der Zusammenarbeit von SPD und KPD ist die hessische Verfassung diejenige, die soziale Anspruchsrechte mehr als die Verfassungen aller anderen Bundesländer profiliert. Linken, die auf diese Verfassung ihren Amtseid ablegen, Heuchelei vorzuwerfen, ist ein schlechter Witz. In die „Essenz“ der Verfassung gehen aber zugleich „materiale“ Elemente des politischen Basiskonsenses ein, den alle Parteien, deren Geschäft die Verteidigung und Reproduktion des gesellschaftlichen status quo ist, teilen. Diese „Essenz“ legt sich wie Mehltau über die Länderverfassungen und das Grundgesetz.

Kein Eid auf die Marktwirtschaft

Das wichtigste Element, das aus diesem Basiskonsens in die „Überverfassung“ fdGo implantiert ist, ist die Verteidigung der „Marktwirtschaft“ genannten Eigentumsordnung. Wer sie in Frage stellt, wird als „Verfassungsfeind“ identifiziert und gegebenenfalls verfolgt. Die Exekutoren dieser Identifikation, die Inlandsgeheimdienste, sind daher nicht nur aus historischen, sondern vielmehr aus systematischen Gründen „auf dem rechten Auge blind“. Einzig der Fraktionsvorsitzende der Linken Jan Schalauske hat in der Debatte den hier nur knapp umrissenen Zusammenhang berührt. Die Exekutoren der Radikalenverfolgung hätten ignoriert, „dass die Betroffenen ihren Amtseid nicht auf die Marktwirtschaft, auf eine bestimmte Politik der Regierung, sondern auf das Grundgesetz und auf die Hessische Verfassung abgelegt hatten“. Solche Zusammenhänge waren den Grünen 1984 durchaus noch geläufig. Roland Kern, zeitweilig Vizepräsident des Landtags und später Bürgermeister von Rödermark, forderte in der Landtagsdebatte vom 26.1.1984 den damaligen Kultusminister Hans Krollmann (SPD) kategorisch auf, „dass auch gerade die Fälle, die jetzt noch offen sind, also die Personen, die ‚mit Erfolg‘ bisher vom Staatsdienst ferngehalten worden sind, verfassungsmäßig geregelt werden, das heißt, dass diese bisherigen Nichteinstellungen revidiert werden in Einstellungen.“

„Menschenverfolgung“ durch Berufsverbote habe „in einem Staat, der demokratisch sein will, tatsächlich keinen Platz“. Machtaufstieg schafft Fallhöhe. Daniel May ist nicht Roland Kern.

Hans Otto Rößer


Hans Otto Rößer wurde 1975 unter Kultusminister Krollmann aufgrund seiner politischen Aktivitäten im Kanzleramt der Justus-Liebig-Universität Gießen verhört und als studentische Hilfskraft entlassen. Im Bescheid Krollmanns vom 12. 12. 1975 hieß es: Aufgrund der „Bedenken“ an seiner „Verfassungstreue“ sei „auch eine spätere Einstellung in den öffentlichen Dienst ausgeschlossen“. Er ging 2019 als Aufgabenfeldleiter eines Oberstufengymnasiums in den Ruhestand.

(1) https://www.gew-hessen.de/home/details/der-fall-dr-thea-holleck
(2) Die Anträge der Fraktion Die Linke und der SPD findet man unter https://starweb.hessen.de/cache/DRS/20/1/07731.pdf und https://starweb.hessen.de/cache/DRS/20/4/07804.pdf
(3) Die Protokolle der Landtagssitzungen findet man in der Datenbank des Landtags
(4) Vgl. hier und für weiterführende Literatur: Sarah Schulz, Die freiheitliche demokratische Grundordnung. Ergebnis und Folgen eines historisch-politischen Prozesses. Weilerswist (Velbrück Wissenschaft) 2019.