Überleben ist nicht genug

Graphic Novels über die Auswirkungen von Flucht und Exil

HLZ 12/2015: Flüchtlinge

Samia Yusuf Omar ist Sprinterin. Sie lebt in Somalia und hat ihr Land bei den olympischen Spielen in Peking vertreten. Dort belegte sie im entscheidenden Lauf zwar nur den letzten Platz. Aber im Gegensatz zu ihren Konkurrentinnen konnte sie sich weder aerodynamisch gestylte High-Tech-Klamotten noch individuelle Fitnesstrainer leisten.

Zurück in Somalia möchte Samia für die Teilnahme an der kommenden Olympiade in London trainieren. Das ist nicht nur deshalb schwierig, weil es in Mogadischu kaum Trainingsmöglichkeiten gibt, sondern auch, weil marodierende Islamisten Frauen das Laufen verbieten. Das sei nicht schicklich, sagen sie. Samia lässt sich nicht einschüchtern. Sie trainiert weiter. Doch dann werden aus Pöbeleien Morddrohungen. Als klar wird, dass sie sich in Lebensgefahr befindet, bleibt nur die Flucht nach Europa. In seiner Graphic Novel "Der Traum von Olympia" erzählt der deutsche Zeichner Reinhard Kleist ihre Geschichte.

Samias Flucht aus Somalia

Mit anderen Flüchtlingen reist Samia in überladenen Lastwagen und Pick Ups durch die Wüste des Sudan und das bürgerkriegsgepeitschte Libyen. Die Schlepper sind brutal. Es gibt immer neue Forderungen. Wer kein Geld mehr hat, wird zurückgelassen. Wer die Strapazen nicht durchhält, ebenfalls. Kleist zeichnet in gewohnt starken Bildern. Vor allem Samias Leben in Somalia bringt er atmosphärisch dicht auf die Seiten.

Die Flucht selbst erzählt er in Episoden – von Addis Abeba nach Karthum, von Karthum nach Sabha, von Sabha nach Tripolis. Was fehlt, ist das Leben zwischen den Etappen. Die Frage, wann es weitergeht. Die Frage, ob es überhaupt weitergeht. Die Warterei. Die Ungewissheit. Die Bedrohung durch Diebe, korrupte Polizisten, sexuelle Gewalt, kurz: Der täglich mehr zermürbende Alltag, der den Großteil einer solchen Flucht ausmacht, wird lediglich angedeutet.

Davon abgesehen ist "Der Traum von Olympia" ein starkes Album – und ein wichtiges dazu, denn Samias Geschichte steht stellvertretend für die Geschichte vieler afrikanischer Flüchtlinge. Kurz vor ihrer Ankunft in Europa ist Samia Yusuf Omar im Alter von 21 Jahren vor der Küste Maltas ertrunken.

Stefan Zweigs Flucht vor den Nazis

Eine Flucht um die halbe Welt mit ungewissem Ausgang mussten in den 1930er Jahren auch hierzulande viele Menschen erdulden. Man kann den Romanen der deutschen Zwangsexilanten von Lion Feuchtwanger bis Oskar Maria Graf entnehmen, dass das auch damals kein Zuckerschlecken war. Und vielen derjenigen, die das rettende Exil erreichten, blieb das Überleben eine Qual.

2010 erschien das Buch Vorgefühl der nahen Nacht von Laurent Seksik in Frankreich. Seksik beschreibt darin die letzten Tage im Leben des österreichischen Autors Stefan Zweig. Zweig war jüdischer Herkunft, Humanist, Kosmopolit, Pazifist und einer der berühmtesten Autoren seiner Zeit. Als die Nazis seine Bücher verbrannten, flüchtete er aus Wien zunächst nach London, dann nach New York, später über Argentinien und Paraguay nach Brasilien. Seine Sekretärin Lotte Altmann, für die er die große Liebe war (und mit der er ein Verhältnis begann), begleitete ihn.

Der französische Zeichner Guillaume Sorel hat Seksiks Roman als Comic adaptiert. Sorel setzt ein, als Zweig und Altmann 1942 Brasilien erreichen. Sie hat Asthma und wird immer kränker, er leidet an Depressionen, weil er den durch die Nazis bedingten Niedergang der europäischen Kultur nicht ertragen kann. Die Meldungen über Juden, die in Europa in Zügen zusammengepfercht in Vernichtungslager transportiert werden, machen es nicht besser. Natürlich: Brasilien ist schön, Lotte kümmert sich, Zweig ist ein gefeierter Autor, er ist finanziell unabhängig und arbeitet gerade an seiner Balzac-Biografie. Man erwartet weitere wichtige Werke aus seiner Feder. Doch das alles kann ihn nicht motivieren. Er wählt den Freitod.

Guillaume Sorel, genialer Zeichner vieler düsterer Graphic Novels, hat die letzten Tage von Zweig in beeindruckende Bilder umgesetzt. Meist in dunklen Brauntönen gehalten, bringt er die zunehmende Leere, die sich in dem Autor breit macht, fühlbar rüber. Ein Album, das zeigt, dass das nackte Überleben alleine zum Weiterleben im Exil nicht immer reicht. Und wenn es reicht, wie gehen die Betroffenen mit ihren Traumata um? Werden sie verarbeitet oder werden sie weitergegeben?

Die zweite Generation

Der in Belgien geborene Zeichner Michel Kichka, der heute an der Bezalel Academy of Arts and Design in Jerusalem unterrichtet, beschreibt in der Graphic Novel Die zweite Generation seine Kindheit. Sein 1926 geborener Vater wurde 1942 nach Auschwitz deportiert, seine Familie ermordet. Doch der Vater überlebte selbst den Todesmarsch nach Westen, auf den die Nazis nach dem Näherrücken der Roten Armee alle Häftlinge schickten, die noch irgendwie laufen konnten.

Diese Erfahrung prägte die Lebensweise des Vaters bis in kleinste Winkel des Alltags – und damit auch den Alltag seiner Kinder. Der Holocaust ist unausgesprochen in jeder Handlung des Vaters präsent, von der Art, wie er seine Suppe löffelt, bis zu der Art, wie er seine Kinder erzieht. Sohn Michel wacht nachts schreiend auf, weil er von dem KZ träumt, in dem die Familie umgebracht wurde. Er versucht die Geschichten des Vaters mit kindlicher Naivität nachzuvollziehen. Als der Vater erzählt, dass er während des Todesmarsches Schnee gegessen und davon Durchfall bekommen hat, isst der kleine Michel auch heimlich Schnee – und wundert sich, dass er keinen Durchfall bekommt.

Trotz allem Schrecken ist Die zweite Generation ein lebensbejahendes Album. Für den Vater ist schon die reine Existenz seiner Kinder ein Sieg über das Judenvernichtungsprogramm der Faschisten. Seine Erinnerungen hat er in einem Buch festgehalten und er leitet selbst in hohem Alter noch Führungen durch Auschwitz. Ein spannender und informativer Comic – durchaus auch mit komischen, schwarzhumorigen Elementen erzählt.
Alben wie Die letzten Tage von Stefan Zweig oder Die zweite Generation zeigen, dass es nicht damit getan ist, Flüchtlingen Nahrung, Kleidung und ein Dach über dem Kopf zu geben. Integration ist wichtig, die Aufarbeitung des erlebten Schreckens ebenfalls. Doch statt integrative Programme aufzulegen, arbeiten unsere Volksvertreter mit Grenzschließungen, Grundgesetzänderungen und scheinheiliger Propaganda daran, Menschen von Europa fernzuhalten und diejenigen, die es trotzdem schaffen, in gute und schlechte Flüchtlinge zu trennen. Dass beispielsweise die als Wirtschaftsflüchtlinge beschimpften Osteuropäer sehr wohl politische Fluchtgründe haben, zeigt ein Blick in die Statistik. Gut ein Drittel von ihnen sind Sinti und Roma. Weshalb sie fliehen, kann man nicht nur in den Jahresberichten von Amnesty International nachlesen.

Roma in Europa

Vor fünf Jahren ließ der damalige französische Präsident Sarkozy Roma-Lager in ganz Frankreich auflösen, um Stimmen am rechten Rand zu gewinnen. Die Roma wurden ausgewiesen, ihre Unterkünfte mit Bulldozern platt gemacht. Wohin die Menschen gehen sollten, war egal – Hauptsache anderswo hin. Der Fotograf Alain Keler hat Roma-Siedlungen im Kosovo, in Belgrad, in Tschechien, in Italien und in der Slowakei besucht und am Ende auch die Räumung der Siedlungen in Frankreich fotografisch dokumentiert. Das Ergebnis sind Reportagen über Lust und – meistens – Frust des Roma-Lebens, die von Emmanuel Guibert mit Zeichnungen ergänzt und von Frédéric Lemercier als interessante Foto-Comic-Collage zusammengestellt wurden.
Fotos und Zeichnungen passen sich kongenial ein, und die Montage von Lemercier fügt beides harmonisch zusammen. Ergänzt wird das Album durch zahlreiche Hintergrundinformationen und einen Artikel von Keler über die Räumungsaktion in Frankreich. Sehr informativ für alle, die sich für die Lebensbedingungen der Roma in Europa interessieren.

Ein neues Land

Wer sich für Migrationscomics allgemein, also unabhängig von aktuellen Entwicklungen interessiert, sollte Ein neues Land lesen. Das australische Kreativgenie Shaun Tan zeigt darin anschaulich, was es heißt, sich in komplett fremder Umgebung zurechtfinden zu müssen. Da das Album völlig ohne Sprache auskommt, muss sich der Leser – wie die Hauptfigur in dem Comic – in einer Welt zurechtfinden, deren Bewohner dem Figurenkabinett von Hieronymus Bosch entsprungen sein könnten. Die kubistisch anmutende Architektur und die rätselhaften Symbole und Rituale des neuen Landes machen es ebenfalls schwer, sich zu orientieren. Eines der mit Abstand besten Alben zum Thema Migration und traumhaft schön gezeichnet! Während es bislang nur eine gediegene gebundene Ausgabe für 30 Euro gab, wurde es jetzt auch als preisgünstiges Paperback zum halben Preis aufgelegt – leider in etwas kleinerem Format (17 x 23 cm) . Die gebundene Ausgabe ist schöner und größer (23,90 x 31,30 cm), aber als Paperback kommt die Geschichte auch gut. Absolut erstklassig.
Peter Hetzler

Peter Hetzler ist freier Journalist und stellt in seinem Weblog regelmäßig neue Autorencomics vor https://comickunst.wordpress.com


Reinhard Kleist:
Der Traum von Olympia
152 Seiten, gebunden. Carlsen, 17,90€

Guillaume Sorel und Laurent Seksik:
Die letzten Tage von Stefan Zweig
88 Seiten, gebunden. Jacoby & Stuart, 24€

Michel Kichka: Zweite Generation –
Was ich meinem Vater nie gesagt habe
180 SW-Seiten, gebunden.
Egmont Graphic Novel, 19,99€

Emmanuel Guibert, Alain Keler, Frédéric Lemercier:
Reisen zu den Roma
88 Seiten, gebunden. Edition Moderne, 25€

Shaun Tan: Ein neues Land
128 Seiten, gebunden. Carlsen, 29,90€
Paperback-Ausgabe (in etwas kleinerem Format), 14,99€