Großes Interesse an Fachforum

"Zugewandert in Hessen: Seiteneinsteiger – Eine Herausforderung für die Bildungspolitik"

Juni 2014

Sie sind traumatisiert durch Kriegserlebnisse und Flucht, entwurzelt, kennen weder Sprache noch Lebensstil, einige haben noch nie eine Schule besucht: Jugendliche Flüchtlinge in Hessen. Die anderen wandern mit ihren Familien in die EU ein – als sogenannte Seiteneinsteiger. So vielfältig ihre Schicksale sind, so vielfältig sollte das Bildungsangebot für sie sein. Darin waren sich die Rednerinnen und Redner und das überwiegend aus Fachleuten bestehende Publikum zum Forum im Römer einig.
 
Birgit Koch, stellvertretende Vorsitzende der GEW Hessen, eröffnete das Fachforum. Moderiert von Jascha Habeck (Hessischer Rundfunk) schilderten in mahnenden und bewegenden Worten und anhand zahlreicher Beispiele Nevroz Duman (Jugendliche ohne Grenzen), Marita Hecker (Jugendmigrationsdienst des Evangelischen Vereins für Jugendsozialarbeit), Rainer Götzelmann (Aufnahme- und Beratungszentrum für Seiteneinsteiger Frankfurt) und Jochen Steinacker (Wilhelm-Merton-Schule Frankfurt) ihre Erfahrungen mit jungen Flüchtlingen und Seiteneinsteigern. Die meisten, so das einhellige Fazit, passten in kein Bildungsraster. Doch ohne Bildung keine Lehrstelle und ohne Lehre keine Arbeit.

Bildung ist Menschenrecht? Für jugendliche Flüchtlinge und junge Einwanderer, waren sich die Anwesenden im Römer einig, treffe das kaum zu.

Dass es anders geht, zeigte Michael Stenger aus München. Der charismatische Bayer hatte die SCHLAU-Schule gegründet, die schulanalogen Unterricht für junge Flüchtlinge anbietet. Seit 2001 unterstütze die Stadt München das Projekt. Denn sein Fazit aus langer Arbeit mit Flüchtlingen überzeugte am Ende auch staatliche Stellen: Jugendliche Flüchtlinge ohne Chance auf Bildung und Beruf hätten als Lebensoption nur den Erhalt der Grundsicherung. Das, so Stenger, sei weder mit dem Recht auf Bildung vereinbar, noch mit dem Ziel, Flüchtlinge in die Gesellschaft zu integrieren. Gerade Jugendliche und junge Erwachsene zwischen 15 und 27 Jahren brauchten Perspektiven und die Chance Wurzeln zu schlagen. Verwehre man ihnen dies, könne es am Ende nicht nur teurer, sondern auch schwieriger in Bezug auf ein friedliches Zusammenleben in der Gesellschaft werden.

"Mit dem Angebot der SchlaU-Schule ... wurde europaweit erstmals ein ganzheitliches Schulkonzept für die Zielgruppe der 16- bis 21-Jährigen (in Ausnahmefällen bis 25-Jährigen) entwickelt, welches dieses Vorhaben nachhaltig umsetzen kann. Seit 2004 ist die SchlaU-Schule vom Bayerischen Kultusministerium als Schule für junge Flüchtlinge gemäß Art. 36 Abs. 1, S. 1, Nr. 3, BayEUG anerkannt." (Auszug aus Lehrkonzept der Schule).  

Michael Stengers Idee könnte und sollte Schule machen - auch in Hessen. 

Mehr zu den interessanten Beiträgen des Forums und zur Podiumsdiskussion mit Barbara Cárdenas (DIE LINKE), Mürvet Öztürk (Bündnis 90/DIE GRÜNEN) und Turgut Yüksel (SPD) ist in der HLZ 9/2014 nachzulesen. 

Veranstalter: Arbeitsgemeinschaft der Ausländerbeiräte Hessen (agah) – Landesausländerbeirat Diakonie Hessen – Diakonisches Werk in Hessen und Nassau und Kurhessen Waldeck e.V.  – Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW Hessen) – Kommunale Ausländer- und Ausländerinnenvertretung (KAV Frankfurt am Main)


Hintergrundinformationen 

Jeden Menschen von seinen Stärken, nicht von seinen Schwächen aus denken.

Koalitionsvertrag von CDU und Bündnis 90/DIE GRÜNEN: Aussagen im Koalitionsvertrag in Zeile 1574 "Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund" 

Zeile 1587: Wir wollen als Land die Bildungschancen von Kindern mit Migrationshintergrund fördern. Besondere Bedeutung kommt dabei der Intensivierung von Fördermaßnahmen zum Erlernen der deutschen Sprache zu.

Unsere Bewertung:

Es fehlen im Koalitionsvertrag konkrete Hinweise darauf, wie das Erlernen der deutschen Sprache im Primar- und Sekundarbereich und an den Beruflichen Schulen ausgestaltet werden soll. Ebenso bleibt ungesagt, wie Kinder und Jugendliche, die erst im Laufe ihrer Schulzeit nach Deutschland zuwandern, gefördert werden sollen.

Unsere Forderungen:

  • Wir brauchen ein Gesamtkonzept mit allen an der Integration der Schülerinnen und Schüler involvierten Bereichen (Bildungspolitik, HSM, HKM, Schule, Jugendhilfe, Migrationsberatungs-stellen und andere).
  • Wir brauchen Ganztagsschulangebote mit Tagesstrukturierung, individueller Förderung, kostenloser Verpflegung und eine Heranführung an die bestehenden Angebote der Gemeinde/Stadt.
  • Deutsch als Zweitsprache/Deutsch als Fremdsprache und interkulturelles Lernen müssen ein fester Bestandteil der Lehrer_innen-Ausbildung werden.
  • Wir brauchen flankierende, auskömmliche Jugendhilfeleistungen.
  • Wir brauchen flankierende, intensive Elternarbeit, die den Eltern oder Erziehungsberechtigen der Schüler_Innen durch Sprachkurse, den Einsatz von Dolmetscher_innen und verständliche muttersprachliche Informationen eine Teilhabe am Schulleben ermöglichen.
  • Wir brauchen von Anfang an eine Kombination von separater Beschulung in Form von Sprach-intensivklassen und eine integrative Beschulung in Form von ergänzenden Sprachangeboten. – Stigmatisierungen dürfen nicht sein und der Inklusionsgedanke ist zu befördern.
  • Wir brauchen „Sprachbildung“ und interkulturelles Lernen als einen integralen Bestandteil und eine zentrale Aufgabe des gesamten Unterrichts. 

Und was wir vor allem brauchen, ist:

Das Recht auf Schulbesuch für 16 bis 21-jährige zugewanderte junge Menschen auch über die Schulpflicht hinaus. Sollten diese Jugendlichen in ihrem Herkunftsland weniger als acht Schulbesuchsjahre absolviert haben, verlängert sich das Recht auf den Schulbesuch auf das 25. Lebensjahr.