Salafismus kann man nicht verbieten

Gespräch mit Enis Gülegen über jugendlichen Extremismus

HLZ 1/2 2015

Die Ausreise mehrerer hessischer Jugendlicher nach Syrien brachte ein Problem in die Schlagzeilen, das schon länger virulent ist. In salafistischen Gruppen organisierte Jugendliche, vor allem junge Männer, verteilten den Koran auf der Frankfurter Zeil, Lehrkräfte an beruflichen Schulen berichteten über Anwerbeaktionen auf dem Schulhof oder entdeckten Schülerinnen und Schüler auf Filmaufnahmen der öffentlichen Predigten von Pierre Vogel (Abu Hamza). Die ARD-Dokumentation „Sterben für Allah“ zeigt Schritte und Hintergründe der Radikalisierung am Beispiel von Enes aus Frankfurt, der mit 16 Jahren nach Syrien ging und dort starb, zeigte aber auch die Hilflosigkeit von Eltern, Lehrerinnen und Lehrern. HLZ-Redakteur Harald Freiling sprach darüber mit Enis Gülegen, dem Vorsitzenden der Arbeitsgemeinschaft der Ausländerbeiräte in Hessen (agah) und der Kommunalen Ausländervertretung (KAV) in Frankfurt. Enis ist Lehrer an der Sophienschule in Frankfurt und GEW-Mitglied.

Sind es aus deiner Sicht eher die Medien, die wenige Einzelfälle hochspielen, oder kommt da noch mehr auf uns zu?

Das Problem ist in der Tat sehr groß. Es gibt eine größere Zahl von Jugendlichen, die noch nicht so weit radikalisiert sind, dass sie unmittelbar vor der Ausreise stehen, aber in hohem Maße gefährdet sind. Es gibt sicherheitspolitische Aspekte, wenn Jugendliche, die in Syrien gekämpft haben, wieder zurückkehren. Fälle von Jugendlichen aus katholischem oder griechisch-orthodoxem Elternhaus zeigen aber, dass das Problem in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist und mit der Religion überhaupt nichts zu tun hat.

Das verstehe ich nicht. Der Salafismus ist doch zutiefst religiös motiviert. Salafistische Propagandisten sprechen ausschließlich über Religion, über die Gebote des Koran, über halal und haram …

Das meine ich nicht. Natürlich sind die salafistischen Heilsversprechen religiös begründet, aber das ist es nicht, was die Jugendlichen anzieht und fasziniert. Deshalb müssen wir, muss die Politik die Perspektive ändern. In den letzten Jahrzehnten wurden die Probleme der Einwanderungsgesellschaft immer reflexartig mit den rückständigen Strukturen der Herkunftsländer und zunehmend mit dem Islam erklärt, dem Radikalität irgendwie immanent sei. Denken wir an die Debatten über das Kopftuch, über den Schwimmunterricht, über „Ehrenmorde“ oder jetzt wieder über die Burka. Wir müssen über die wirklichen Ursachen sprechen, warum sich Jugendliche, die auch unsere Schulen durchlaufen haben, radikal von ihrer Umgebung lösen, ihre Familie, ihre Freunde und das Land verlassen, dessen Staatsbürger sie in vielen Fällen sind, und sogar bereit sind, zu sterben. Spätestens jetzt müssen wir uns fragen, was wir falsch gemacht haben.

Was haben wir denn falsch gemacht?

Wir alles wissen, dass es nicht die eine Ursache gibt. Aber wenn man die Biografien der Jugendlichen vergleicht, kann man nicht die Augen vor einer gemeinsamen Erfahrung verschließen: „Es gibt in dieser Gesellschaft keinen Platz für mich.“ Diese Erfahrung von Ausgrenzung und Marginalisierung machen auch deutsche Jugendliche, aber Jugendliche mit Migrationshintergrund um ein Vielfaches mehr, ganz besonders bei der Suche nach einer Ausbildungsstelle, einem Arbeitsplatz oder einer Wohnung. Und wir müssen uns als Bildungsgewerkschaft fragen – Hand aufs Herz, sagt man –, welchen Platz sie in der Schule haben: ihre Religionen, ihre Biografien und Erfahrungen, ihre Kulturen, ihre Sprachen und die Geschichten der Migration selbst. Oft können wir noch nicht einmal ihre Namen richtig aussprechen.

Der freie Tag am Ende des Ramadans gilt vielen noch immer als Betriebsstörung. Wenn die Gesellschaft ihnen so wenige Anknüpfungspunkte für die Herausbildung einer Identität bietet, ist es nicht verwunderlich, wenn sie den Heilsversprechen religiöser Rattenfänger erliegen. Versteh mich nicht falsch: Natürlich gilt das nicht für alle und es ist auch nicht zwingend. Nicht alle Jugendlichen erfahren Diskriminierung im selben Ausmaß, aber es gibt keinen, der sie nicht erlebt hat.

Was sind deine spezifischen Erfahrungen, welche Jugendlichen in besonderem Maße gefährdet sind?

Noch mal: Es gibt keine monokausalen Erklärungen und keine Zwangsläufigkeiten. Aber es sind dieselben Jugendlichen, die auch für andere Abwege prädestiniert sind. Zerrüttete Familien, instabile Strukturen, Generationenkonflikte, Erfahrungen des Scheiterns, der Ausgrenzung und der Diskriminierung machen die Radikalisierung leicht. Für die rechtsextreme Szene gibt es inzwischen eine breite Biografieforschung und da finden wir genau dieselben Strukturen: die Sehnsucht nach einer Identität und einer einfachen Erklärung der Welt, nach der verlässlichen Peer-Group, nach klaren Regeln, nach Anerkennung und Aufwertung. Was machen die Salafisten denn anderes? Sie bieten denen Halt, die in der Gesellschaft keinen Halt finden, denen die Erfahrung der Marginalisierung den Boden unter den Füßen weg zieht. Jetzt hören sie etwas ganz Neues: Du bist etwas wert …

Aber spielt da nicht auch die Religion eine Rolle?

Natürlich, denn gerade auch mit der Religion sind viele Diskriminierungserfahrungen verbunden. Seit 9/11 stehen Muslime strukturell ständig unter dem Rechtfertigungszwang, zu erklären, dass sie keine Terroristen sind. Heute müssen Muslime erklären, dass der Islamische Staat nichts mit dem Islam zu tun hat. Und auch da knüpfen die Salafisten an: „Komm zu uns und kehre denen den Rücken, die dich mit Dreck bewerfen, weil du ein Moslem bist.“ Aber auch hier geht es nicht um die Religion, sondern um die schrittweise Herauslösung aus den bisherigen Lebenszusammenhängen. Wenn sich dabei Jugendliche auch gegen die eigenen Eltern wenden, ihnen eine zu laxe Handhabung der religiösen Regeln vorhalten, ist es wieder dieselbe Botschaft: „Was hat denn die Anpassung an die deutsche Gesellschaft gebracht? Schaut euch um, was ihr mit eurem Wegducken erreicht habt!“

Jetzt sind wir aber in der Schule gezwungen, auch dann zu reagieren, wenn das Kind bereits in den Brunnen gefallen ist. Was sagst du Kolleginnen und Kollegen, die sich Sorgen machen, die bemerken, dass sich bei jungen Männern die Bartmode ändert, dass Sympathien für den IS geäußert werden?

Das fällt mir sehr schwer. Auch die Experten aus dem Verfassungsschutz und im Präventionsnetzwerk gehen davon aus, dass dann die Radikalisierung schon sehr weit fortgeschritten ist. Ich halte nichts davon, dass man solche Beobachtungen verdrängt oder als Ausdruck irgendeiner Jugendkultur beiseite schiebt. Das Violence Prevention Network (VPN) macht in dieser schwierigen Situation eine gute Arbeit, ist aber personell völlig unzureichend ausgestattet. Lehrkräfte und Sozialarbeit an der Schule wären mit einer solchen Aufgabe hoffnungslos überfordert. Sie sollten ihre Kraft darauf konzentrieren, eine Ausbreitung zu verhindern, indem sie Kindern und Jugendlichen andere Erfahrungen ermöglichen, dass sie nämlich zu uns gehören. Nicht ganz unwichtig wäre es auch, die Moscheegemeinden stärker zu unterstützen und ihre Jugendarbeit zu professionalisieren. Im Gegensatz zu den christlichen Kirchen und den jüdischen Gemeinden müssen sie die gesamte Arbeit rein ehrenamtlich machen.

Brauchen wir neue gesetzliche Regelungen?

Das ist der klassische gesellschaftliche Reflex gerade in Deutschland. Verbote liefern solchen Rattenfängern sogar noch zusätzliche Argumente: „Was ist das für eine Demokratie, in der die Verteilung des Korans verboten wird? Was ist das für ein Land, das dir wegen deiner Religion den deutschen Pass entziehen will?“ Man kann den Salafismus nicht verbieten, sondern muss die Ursachen für seinen Erfolg bekämpfen und allen Jugendlichen zeigen, dass sie einen Platz in dieser Gesellschaft haben – und das nicht nur mit Worten. Und natürlich muss man alles dafür tun, dass die Auseinandersetzung mit dem Salafismus die Islamophobie in diesem Land nicht noch weiter befeuert.

Vielen Dank für das Gespräch.