Postkolonialismus und politische Bildung

Im Gespräch mit Deborah Krieg, Bildungsstätte Anne Frank

HLZ 7-8/2021: Hessen postkolonial

Sheila Ragunathan: Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Beratungsarbeit in der postmigrantischen Gesellschaft und historische Bildung. Bei der Bildungsstätte Anne Frank sind Sie im Bereich Antisemitismus, Rassismus und Diskriminierung in Geschichte und Gegenwart tätig. Inwiefern sind Sie mit dem Thema Postkolonialismus konfrontiert?

Deborah Krieg: In einer postkolonialen und postnationalsozialistischen Gesellschaft können Rassismus, Antisemitismus und Diskriminierung nicht bearbeitet werden, ohne sich mit Kolonialismus und Nationalsozialismus auseinanderzusetzen - sowohl als historische Herrschafts- und Gewaltverhältnisse als auch als Rechtfertigungsideologien. Der historische Kolonialismus prägte sowohl die kolonisierten als auch die kolonialisierenden Gesellschaften.

Koloniale Erfahrungen wirken bis heute fort. Sie prägen die  gegenwärtigen Machtverhältnisse, unsere Vorstellungen und Weltbilder. Rassismus hat sich dabei tief in unsere Gesellschaft eingeschrieben, in unsere Sprache und unsere Wahrnehmung, wie wir die Welt sehen, verstehen, erklären und beschreiben. Vor und nach der „Wende“ schien es in allen Teilen Deutschlands einen immer wieder herausgeforderten, aber mehrheitsfähigen Konsens zu geben, dass die Abgrenzung und unbedingte Ablehnung von NS-Ideologie, Rassismus und Antisemitismus Vorausetzungen für eine demokratische und moderne Gesellschaft seien. Gleichzeitig fehlte und fehlt bis heute eine umfassende Auseinandersetzung mit Kontinuitäten, Formen und Funktionsweisen von Rassismus und Antisemitismus.

Die wenigsten haben in ihren postkolonialen Bildungsbiografien gelernt, rassistische Argumente, Sprache und Bilder zu dechiffrieren oder Rassismus in Institutionen und Strukturen zu erkennen. Viele Menschen sind ständig in der Verunsicherung, einerseits nicht rassistisch sein zu wollen und gleichzeitig nicht wirklich zu wissen, wo in ihren Handlungen Rassismus wirkt. Insofern ist Postkolonialismus Resonanzboden und Folie einer rassismuskritischen Bildungsarbeit. Die rassistische Ideologie war ein Mittel, Kolonialismus und Sklaverei zu legitimieren. Menschen konnten hier nicht gleich sein, sondern mussten hierarchisiert werden, um zu rechtfertigen, dass man sie nicht menschlich, nicht gleich behandelte. Als Folge wird eine hierarchische Rangordnung der unterschiedlichen Gruppen vorgenommen, in der Rassismus als gesellschaftliches Machtverhältnis legitimiert und konstituiert wird.

In der politischen Bildungsarbeit bedeutet die Auseinandersetzung mit der postkolonialen Gesellschaft, sich ein rassismuskritisches Instrumentarium anzueignen und pädagogische Räume und Momente zur Auseinandersetzung zu gestalten, um rassistische Wissensbestände und Praxen aktiv zu verlernen.

Ragunathan: Bedeutet die Auseinandersetzung mit Kolonialismus und der deutschen kolonialen Vergangenheit Erinnerungsarbeit?

Krieg: Bei der Auseinandersetzung mit Kolonialismus geht es um die Auseinandersetzung mit historischen Machtverhältnissen, Strukturen, Lebensrealitäten und Erfahrungen, um eine Verbindung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft herzustellen. Es geht darum, Geschichte und Geschichten zu lernen, aber auch um die Frage, ob und wie und was aus Geschichte gelernt werden kann. Und nicht zuletzt geht es um eine geschichtsbewusste Auseinandersetzung mit der Gegenwart.

Von der deutschen Sehnsucht nach einem „Platz an der Sonne“ über die wirtschaftliche und gesellschaftliche Funktion des Kolonialwarenhandels und die Praxis von „Völkerschauen“ und Völkerkunde bis hin zum Genozid an den Herero und Nama weisen Lehrmittel noch immer viel zu viele Leerstellen auf. Auch die Gegenwart kontemporärer Debatten um Kolonialismus und Sklaverei oder die Existenz und das Wirken von Menschen aus kolonialisierten Gebieten in Deutschland bleiben unterrepräsentiert bis de-thematisiert. Ein inzwischen bekannteres Beispiel dafür ist der Philosoph Anton Wilhelm Amo (HLZ 7-8/2021, S. 23 und www.homestory-deutschland.de/biografien/anton-wilhelm-amo.html).

Ragunathan: Sie sind auch Kuratorin des interaktiven Lernlabors „Anne Frank. Morgen mehr.“ der Bildungsstätte. Der Entstehungsprozess der Ausstellung wurde partizipativ in Zusammenarbeit mit Jugendgruppen gestaltet. Woher kam die Idee für den partizipativen Entstehungsprozess?

Krieg: Der Grundsatz einer partizipativen Entwicklung des Lernlabors als pädagogisches Angebot für die postmigrantische Gesellschaft war die Einbindung der Kompetenzen und Expertisen der adressierten Zielgruppe in seine Konzeption und Ausgestaltung. Jugendliche Expert:innen waren die Sachverständigen für die Ansprache von Jugendlichen: Welche sozialräumlichen und lebensweltlichen Bezüge sind für sie relevant, welche Perspektiven sind ihnen wichtig, welche Anforderungen stellen sie an einen selbstbestimmten, angstfreien Lernraum, welche Fragen und Anliegen haben sie zu den Themen Antisemitismus, Rassismus und Diskriminierung?

Die Vielfalt eigener Diskriminierungserfahrungen in einer pluralen Gesellschaft muss ernst genommen weden. Sie wirft ein neues Licht auf die Frage, wie wir in dieser Gesellschaft leben wollen und was wir für ein gerechtes Miteinander selbst tun können. Denn nur wer sich in den eigenen Erfahrungen von Betroffenheit, in der persönlichen Perspektive und im eigenen Engagement wahr- und angenommen fühlt, ist dazu bereit, eigene Haltungen und Verflechtungen zu überdenken, neues Wissen zuzulassen und Sinnhorizonte zu erweitern.

Insofern war die partizipative Konzeption und Evaluation des Lernlabors eine wesentliche Voraussetzung dafür, ein Angebot zu schaffen, das dazu einlädt, reflektiert, das heißt ohne abwehrende und diskriminierende Affekte, mit Pluralität und Diversität, mit Ambiguität und Dissonanz umzugehen. Das Lernlabor soll es möglich machen, eigene Anliegen ohne Rückgriffe auf rassistische oder antisemitische Argumentationen vorzutragen und eigene Ideen für ein demokratisches Zusammenleben sowie Handlungsstrategien gegen Rassismus, Antisemitismus und Diskriminierung zu entwickeln.

Ragunathan: Welche Herausforderungen und Möglichkeiten sehen Sie in partizipativen Lehr- und Lernprozessen für die politische Bildungsarbeit?

Krieg: Partizipation soll kein „leeres Versprechen“ bleiben, sondern die jugendlichen Perspektiven auf Augenhöhe in den Prozess einbinden. Hilfreich war die Transparenz über Entscheidungsprozesse und Verantwortlichkeiten, die zu einem klar definierten Handlungsraum und gewinnbringenden Einsichten auf allen beteiligten Seiten geführt hat. Einerseits ging es darum, marginalisierte und migrantische Erfahrungen und Wissensbestände sichtbar zu machen, und andererseits der Festschreibung von Stellvertreter:innen-Positionen keinen Vorschub zu leisten und die Vielstimmigkeit aus gemeinsamen Erfahrungsräumen als individuelle Perzeptionen und Rezeptionen zu bewahren.

Ragunathan: Inwiefern können partizipative Lehr- und Lernprozesse im Kontext von Diskriminierung an Schulen herangetragen werden? Welche Bedeutung nimmt Postkolonialismus in Ihren Fortbildungen mit Lehrkräften ein?

Krieg: In der ständigen Diskrepanz zwischen Sein-Wollen und Handeln-Können, zwischen Selbstbild und Handlungskompetenz entsteht eine große Emotionalität in der Auseinandersetzung mit Rassismus. Sowohl partizipative Lernprozesse als auch die Auseinandersetzung mit Postkolonialismus können hier einen Beitrag dazu leisten, Verletzungen und sekundäre Viktimisierungen zu vermeiden (siehe Kasten), Selbstreflexion zu etablieren, aktives Verlernen anzuregen und Zuhören in eine bewusste, rassismuskritische und letztlich politische Praxis zu überführen.

Ragunathan: Was möchten Sie Lehrkräften noch mitgeben?

Krieg: In einem vielschichtigen, verunsichernden und herausfordernden Themenkomplex wie Rassismus kann es sinnvoll sein, Jugendliche als Adressat:innen von Bildungsprozessen nicht vorrangig als potentiell Betroffene oder Täter:innen anzusprechen, sondern Ausgangspunkte zu wählen, in denen sie als Beobachter:innen oder Beteiligte potentiell empörte und solidarische Positionen einnehmen, um von hier aus eine Grundlage für die Auseinandersetzung mit Ansprüchen sowie realen Desideraten und Dysfunktionen einer rassismuskritischen Haltung zu entwickeln. Es sollte jederzeit möglich, aber niemals notwendig sein, eigene Betroffenheiten zu thematisieren: Die An- oder Abwesenheit von betroffenen Positionen sollte niemals erforderliches Beweismittel oder Gradmesser für die Relevanz oder Notwendigkeit einer Intervention bei rassistischen Verletzungen sein.

Das Interview führte Sheila Ragunathan. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Politikwissenschaft (Schwerpunkt Gender Studies) an der Justus-Liebig-Universität Gießen und promoviert zu Bildungsprozessen in diskriminierungskritischen universitären Lehrveranstaltungen der politischen Bildung.


Was ist ”Othering"? Und was bedeutet „Viktimisierung"?

Nach dem Konzept des Othering erfolgt die Aufteilung in „Wir“ und „Ihr“ auf der Grundlage von Konstruktionen, wobei das „Ihr“ als das gänzlich Andere erscheint. Im Gegensatz zum „Wir“ werden die Anderen als weniger emanzipiert, aufgeklärt, tolerant, demokratisch, gebildet etc. betrachtet. Es werden elementare Differenzen konstruiert, die negativ bewertet und betont werden. Wenn das Gegenüber durch die ständige Konfrontation mit diesen Zuschreibungen diese nach und nach unbewusst übernimmt, ist sie oder ist er tatsächlich zum vermeintlich Anderen geworden: Er oder sie hat sich dem Bild vom Anderen angeglichen. www.idaev.de/glossar

Sekundäre Viktimisierung meint die Gewalt nach der Gewalt (Viktimisierung) durch die Fehlreaktionen von Freund:innen, Familienmitgliedern, Bekannten oder Institutionen durch Nichtsehen, Nichthandeln, Rechtfertigen, Relativieren („Das war so nicht gemeint“), Abwerten („Du bist zu empfindlich“) oder Negieren („Das kann nicht sein“). Es handelt sich um Alltagserfahrungen in Form von andauernden (un)absichtlichen Diskriminierungen und groben und subtilen Verletzungen auf der interpersonellen, institutionellen, strukturellen oder diskursiven Ebene.