Im Gespräch mit Adiam Zerisenai

Diskriminierungsfreie Pädagogik heißt Umlernen und neu Handeln

HLZ 7-8/2021: Hessen postkolonial

Foto: links Eleonore Wiedenroth-Coulibaly; rechts Adiam Zerisenai

Eleonore Wiedenroth-Coulibaly: Du bist aktiv bei KIDSemPOWERment, einer Gruppe, die von vorwiegend Schwarzen Müttern in Frankfurt ins Leben gerufen wurde, um Schwarzen Kindern, Indigenen Kindern und Kindern of Color im Prozess ihres Wachsens Stärke durch fürsorgliche Gemeinschaft mit auf den Weg zu geben. Hier wird eine neue Praxis erprobt, und dahinter stehen viele Gedanken über die Realitäten, denen Schwarze Menschen, Indigene Menschen und Menschen of Color in ihren Zusammenhängen, auch den familiären, in dieser weißen Dominanzgesellschaft ausgesetzt sind. Auf welche Weise machen sich die gewaltvollen Verhältnisse bemerkbar, in die deine und unser aller Kinder hineingeboren und hineinsozialisiert werden?

Adiam Zerisenai: Schwarze Kinder, Indigene Kinder und Kinder of Color erleben bereits sehr früh rassistische Gewalt, auch in Kindergärten und Schulen. Sie reagieren auf diese Machtstrukturen, die gegen ihre Existenz gerichtet sind, und auf rassistische Gewalterfahrungen unterschiedlich. So verweigern Kinder z. B. bewusst oder unbewusst den Austausch über ihre Gewalterfahrungen, auch um sich vor Re-Traumatisierung zu schützen. Einige Kinder gehen, wenn ihnen Verletzungen zugefügt werden, Konfliktsituationen eher aus dem Weg, andere zeigen ihre Wut. Meistens werden die Reaktionen der betroffenen Kinder von den Lehrer:innen und den Mitschüler:innen nicht wahrgenommen oder verharmlost, abgestritten, beurteilt oder sogar bestraft. Hinzu kommt, dass das Verhalten der Kinder von denselben Personen, die Rassismus ausgeübt haben, als aggressives Verhalten abgestempelt wird. Die Verurteilung verfestigt sich zum Vorurteil. Dies hat auch Folgen für die Noten, zum Beispiel durch eine schlechte Beurteilung des Sozialverhaltens. Diese Praxis zeigt die kolonialen Kontinuitäten von rassistischer Gewalt im Schulsystem und reproduziert immer wieder strukturell verankerte Ausschlussmechanismen und Ungleichheiten. Die Kinder sind wegen der ständigen Auseinandersetzungen mit Rassismus im Dauerstress. Stress aber wirkt sich negativ auf die psychische und physische Gesundheit der Kinder aus.

Eleonore Wiedenroth-Coulibaly: Ich wüsste von dir gerne, ob und wie sich Schwarze Kinder, Indigene Kinder und Kinder of Color im „Kanon“ wiederfinden können...

Adiam Zerisenai: In den Bildungsinstitutionen werden meistens weiße Personen hervorgehoben, da sie von der Dominanzgesellschaft als relevantere Menschen angesehen werden, ungeachtet dessen, ob das Kanonwissen damit in kolonial-rassistischer Tradition steht. In Schulmaterialien und Medien werden rassistische Wörter und Bilder benutzt, die betroffene Kinder verletzen. Zudem gibt es wenig oder keinen Raum für kolonial- und rassismuskritische Positionen – weder in der Vergangenheit noch in der Gegenwart. Durch die Nichtbenennung und Nichtanerkennung Schwarzer Perspektiven werden Schwarze Realitäten und Schwarzes Wissen exkludiert. Mit dieser Praxis wird struktureller Rassismus fortgesetzt. Schwarzes Wissen und positive Darstellungen in Schulmaterialien sind jedoch notwendig, damit auch Schwarze Kinder, Indigene Kinder und Kinder of Color ihren Platz in der Gesellschaft sehen, gestärkt werden und positive Selbstbilder entwickeln können.

Eleonore Wiedenroth-Coulibaly: Du formulierst ja auch immer wieder, dass die Vorstellung vom „Kind“ und damit einhergehend auch „Kindheit“ konstruiert sind …

Adiam Zerisenai: Ja, genau. Dabei werden Kinder gar nicht wirklich als eigenständige Wesen wertgeschätzt und allein aufgrund ihres Alters werden ihnen immer wieder Fähigkeiten abgesprochen. Schon bevor Erwachsene Kindern begegnen, haben sie diese bereits kategorisiert, die Begegnungen finden dann meist innerhalb dieser Schubladen statt. Erwachsene erliegen dabei ihren von klein auf erlernten Mustern. Hier werden fortwährend tonangebend Definitionen postuliert und Wirklichkeiten bestimmt. In der diskriminierungskritischen Pädagogik wird die Kategorie Alter als Analysekonzept betrachtet, um Ausschlussprozesse aufgrund von Adultismus erkennen und benennen zu können…
Eleonore Wiedenroth-Coulibaly: Kannst du den Begriff „Adultismus“ erklären?

Adiam Zerisenai: Gern, damit meint man die Diskriminierung von Kindern und Jugendlichen durch Erwachsene. Bei einer solchen Analyse sind die verschiedenen Kategorien wie race, Geschlecht, Klasse, Behinderung oder Religion zu beachten, die immer wieder ineinandergreifen. In den Institutionen arbeiten ja Menschen, die ihrerseits durch Institutionen gegangen sind und verinnerlicht haben, was sie dort und in ihrem Alltag und ihren Lebensumständen den Kindern weitergeben.

Eleonore Wiedenroth-Coulibaly: Wie werden Institutionen wie Schulen und Kitas ihrem Erziehungsauftrag zum Wohle der Kinder gerecht? Und was ist mit den Eltern, die ja nicht nur das Recht, sondern vor allem die Pflicht haben, sich um das Wohl ihrer Kinder zu kümmern und sie zu erziehen? Was muss sich da verändern?

Adiam Zerisenai: Es muss sich noch sehr viel verändern! Immer wieder verweigern die Bildungsinstitutionen und der Staat von Mehrfachdiskriminierungen betroffenen Schüler:innen das Recht auf gewaltfreie Bildung, Zugehörigkeit und uneingeschränkte Förderung. Diese institutionelle Verweigerung führt dazu, dass sich der Erziehungsauftrag der Eltern oder der Bezugspersonen ändert.

Eltern und Bezugspersonen, die rassistisches Fehlverhalten erkennen, achten darauf, dass ihre Kinder die Schulzeit möglichst gesund überstehen und sie intervenieren manchmal direkt, was schmerzhafte Erfahrungen aus der eigenen Vergangenheit und Schulzeit aufruft. Diese Interventionen aus dem direkten Umfeld des Kindes sind wichtig, jedoch können sie nicht die strukturellen und institutionellen Probleme lösen.

In Deutschland werden die koloniale Vergangenheit und deren Auswirkungen auf die Gegenwart ausgeblendet. Dies gilt auch und vor allem in den Bildungseinrichtungen für Kinder. Obwohl Schwarze Communities seit den 1980ern die strukturellen Probleme in Deutschland benennen und bekämpfen, wird in den politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Bereichen bisher keine Verantwortung übernommen. Ein erster Schritt zu Veränderung wäre, das Wissen und die Kämpfe von Rassismus betroffener Menschen anzuerkennen und sich kritisch mit der eigenen Positionierung in der Gesellschaft auseinanderzusetzen. Allerdings deutet die beharrliche Verweigerung der weißen Dominanzgesellschaft auf eine tief sitzende Angst vor dem Wandel hin. Menschen aus der Dominanzgesellschaft hatten und haben immer Vorteile innerhalb der etablierten kolonialen und rassistischen Strukturen. Sie haben Privilegien, die sie nicht missen möchten, und das macht ihnen Angst. Sie müssen diese Angst überwinden, um tatsächlich dem Ideal von gleicher Partizipation näher zu kommen.

Schwarze Kinder, Indigene Kinder und Kinder of Color haben das Recht auf eine gewaltfreie Bildung, auch sie haben ein Recht darauf, gestärkt und selbstbestimmt aufwachsen und leben zu können. Daher ist in den pädagogischen Berufen eine diskriminierungskritische Ausbildung und eine unabhängige Beschwerdestelle für betroffene Personen in den Bildungsinstitutionen erforderlich.

Und zum Schluss: An Sie, liebe Leser:innen der HLZ, habe ich die Erwartung, dass auch Sie sich mit betroffenen Kindern diskriminierungskritisch solidarisieren, umlernen und neu handeln. Damit wären Sie Teil der Veränderung.

Eleonore Wiedenroth-Coulibaly: Danke für diesen Austausch.

Zum Weiterlesen:

  • Maureen Maisha Eggers: Rassifizierung und kindliches Machtempfinden. Wie schwarze und weiße Kinder rassifizierte Machtdifferenz verhandeln auf der Ebene von Identität. Dissertation Kiel 2005. Online verfügbar unter: macau.uni-kiel.de
  • Natasha A. Kelly: Rassismus: Strukturelle Probleme brauchen strukturelle Lösungen! Zürich: Antrium. 2021
  • Elina Marmer und Papa Sow (Hg.): Wie Rassismus aus Schulbüchern spricht. Kritische Auseinandersetzung mit „Afrika“-Bildern und Schwarz-Weiß-Konstruktionen in der Schule. Weinheim: Beltz-Juventa 2015

KIDSemPOWERment der ISD-Bund e.V.

KIDSemPOWERment der ISD-Bund e.V. hat zum Ziel,  stärkende Räume für Schwarze Kinder, Indigene Kinder und Kinder of Color zu schaffen und zu halten. Vor vier Jahren starteten fünf Frankfurter:innen mit den ehrenamtlichen Aktivitäten. Bei monatlichen Treffen und Events erleben die Kinder in zugewandter Atmosphäre Mehrheitserfahrungen, was ihre positive Identitätsentwicklung fördert. Eltern und/oder Bezugspersonen haben außerdem die Möglichkeit sich auszutauschen und zu vernetzen. Programme für Kinder unterschiedlichen Alters sind in Entwicklung. Das Team von KIDSemPOWERment bietet seit Neuestem auch Weiterbildungen zu diskriminierungskritischer Pädagogik in Kindergärten und Schulen an.

kidsempowerment@isdonline.de