Die Geschichtsvergessenheit beenden!

Postkoloniale Interventionen in Frankfurt, Gießen und Kassel

HLZ 7-8/2021: Hessen postkolonial

Foto: Der Ivory Club in Frankfurt

Sahra Rausch HLZ 7-8/2021 S.13 befragte aktive Mitglieder postkolonialer Initiativen in Frankfurt, Gießen und Kassel nach ihren Intentionen, ihren Angeboten für erinnerungskulturelle Stadtrundgänge und ihren Erfahrungen.

Wie und wann habt ihr euch gegründet?

Kassel: In vielen deutschen Städten, zum Beispiel in Freiburg, Berlin, Frankfurt, Köln oder Leipzig, haben sich in den letzten knapp zehn Jahren erinnerungskulturelle Projekte gegründet. Die Gruppe kassel postkolonial entstand auf Initiative des Fachgebiets Entwicklung und Postkoloniale Studien an der Fachgruppe Politikwissenschaft im Jahre 2015. Sie umfasst zehn bis 15 Personen aus der Universität Kassel, aus der Kunsthochschule und aus rassismuskritischen Gruppen.

Frankfurt: Die Gruppe hat sich zunächst 2010 im Rahmen eines Treffens zur postkolonialen Stadtforschung in Frankfurt gegründet. Die Premiere des Rundgangs fand im Rahmen einer Konferenz des Frankfurt Research Center for Postcolonial Studies im Juni 2011 statt. Seit 2015 bieten wir regelmäßige Stadtrundgänge in Frankfurt an und überarbeiten und ergänzen unsere Intervention ständig. Wir sind mit fulda postkolonial, gießen postkolonial und marburg postkolonial vernetzt und im bundesweiten Bündnis Decolonize! aktiv.

Gießen: Giessen postkolonial ist ursprünglich im Rahmen eines Seminars zur Einführung in post- und dekoloniale Theorie an der Uni Gießen entstanden. Dort haben die Studierenden unter Leitung von Sebastian Garbe zu Gießens kolonialen und postkolonialen Spuren recherchiert und das Projekt in die Wege geleitet. Im Jahr 2018 hat sich giessen postkolonial als breite zivilgesellschaftliche Gruppe formiert, die im Sommer 2019 ihren ersten öffentlichen Rundgang angeboten hat.

Warum ist eurer Ansicht nach eine Intervention wichtig?

Gießen: Die gesamte Bewegung postkolonialer Initiativen ist gesellschaftspolitisch von hoher Relevanz, weil gerade hierzulande eine mangelnde Erinnerungs- und Bewusstseinskultur über die Kolonialzeit und ihre Nachwirkungen herrscht. Dabei zeigen sich in allen Städten Spuren des Kolonialismus, die immer noch gegenwärtige Strukturen und Denkweisen prägen. Nur mit einem Blick in die Kolonialgeschichte können wir beispielsweise verstehen, warum heute ungleiche Tauschbeziehungen zwischen verschiedenen Weltregionen herrschen oder worin rassistische Ideologien ihren Ursprung haben. Deshalb ist es wichtig, die Brücke von Vergangenheit und Gegenwart aufzuzeigen und globale Verhältnisse der Ungleichheit im Lokalen zu reflektieren. So werden auch Zusammenhänge des Kolonialismus und Postkolonialismus mit dem eigenen Leben und der eigenen Stadt sichtbar.

Kassel: Uns geht es darum, Kassels koloniale Vergangenheit und Gegenwart, das Nach- und Weiterwirken kolonialer Traditionen und Herrschaftsverhältnisse aufzudecken. Wir ziehen Verbindungen zwischen Kassels Rolle im historischen Kolonialismus und unserem Alltag heute und betrachten die Verwobenheit Kassels mit globalen gesellschaftlichen Prozessen. Deutschland ist als Kolonialmacht im Gegensatz zur britischen oder französischen Kolonialherrschaft deutlich weniger sichtbar und in den Schulbüchern kommt Kolonialismus kaum vor. Und wenn, dann oftmals in verharmlosender Form. Wir wollen dieser Geschichtsvergessenheit ein Ende setzen und die verschüttete Vergangenheit auch an vermeintlich für die Globalgeschichte unwichtigen Orten wie Kassel sichtbar machen.

Frankfurt: Die „koloniale Amnesie“ der deutschen Dominanzgesellschaft erfordert eine kritische Auseinandersetzung, da sie die koloniale Vergangenheit und die postkoloniale Verantwortung nach wie vor und zu oft ausblendet. Mit unseren Stadtrundgängen möchten wir zu einer gemeinsamen Reflexion über postkoloniale Kontinuitäten und aktuelle rassistische Strukturen in Deutschland einladen. Mangelnde Aufklärung über deutsche Kolonialverbrechen, über rassistische Begriffe in Kinderbüchern oder über Rassismus in der Polizei sind dabei nur wenige Beispiele für eine koloniale Vergangenheit, die noch nicht vorbei ist.

Wie geht ihr vor? Was sind eure Projekte?

Frankfurt: Zunächst haben wir nach Orten gesucht, die eine explizite Verbindung mit dem Kolonialismus haben. Dazu gehören unter anderem „Völkerschauen“, Expeditionen, Straßennamen oder Kolonialwarenläden. Darüber besuchen wir Orte, die entweder einen positiven Bezug zum Kolonialismus herstellen oder strukturell stark mit kolonialen und rassistischen Verhältnissen verknüpft sind wie das Polizeisystem. Seit 2015 bieten wir regelmäßig Stadtführungen für Hochschulseminare, Gewerkschaften und außerschulische Bildungsträger an. Zur Vermittlung der postkolonialen Verschränkungen ist es uns wichtig, mit den Teilnehmenden ins Gespräch zu kommen. Mit pädagogischen Methoden wollen wir ein Nachdenken über die Bedeutung der Orte anregen und eine Reflexion über die eigene Verstrickung und Rolle anstoßen. Eine weitere Basis unserer Arbeit ist die Vernetzung mit anderen postkolonialen oder antirassistischen Initiativen hessen- und deutschlandweit.
Kassel: Wir machen politische Bildungsarbeit, Workshops, sind kommunalpolitisch aktiv und führen postkoloniale Stadtrundgänge durch.

Gießen: Hauptsächlich bieten wir postkoloniale Stadtrundgänge an. In unseren Gruppentreffen haben wir den Rundgang inhaltlich und pädagogisch konzipiert. Dabei laufen wir verschiedene Stationen ab, die uns koloniale und postkoloniale Spuren in Gießen verdeutlichen und gleichzeitig ihre thematische Bandbreite aufzeigen. Von kolonialen Sammelbildern (Abbildung rechts) über Kolonialwarenläden bis hin zu kolonialer Raubkunst ist vieles vorzufinden. Wir versuchen vor allem, mit den Teilnehmenden ins Gespräch zu kommen und aktuelle Bezüge aufzuzeigen. Sobald es die Pandemiesituation erlaubt, sollen auch wieder Workshops an Schulen, z.B. im Rahmen von Projektwochen, stattfinden.

Welchen Ort in eurer Stadt würdet ihr der Leser:innenschaft der HLZ aufgrund seiner kolonialen Geschichte und seiner gegenwärtigen Bedeutung gerne näher bringen?

Kassel: Der auf Initiative von Landgraf Friedrich II. errichtete Bergpark Wilhelmshöhe ist Weltkulturerbe der UNESCO. Er ist aber auch Schauplatz einer meist im Verborgenen bleibenden Obsession an den Körpern Schwarzer Menschen. Friedrich II. beschäftigte bei Hofe, im chinesischen Dorf „Mulang“ (Foto: unten) und in seinem Leibgarde-Regiment bis zu 50 Schwarze Menschen, die im Bergpark und in der Stadt Kassel lebten. Sie gelangten über hessische Offiziere nach Kassel oder wurden bei niederländischen Händlern erworben und „freigekauft“. Sie waren regulär besoldet, wurden allerdings durch auffällige Kleidung in exotisierender Weise zur Schau gestellt und befanden sich in einem privilegierten Abhängigkeitsverhältnis. Einige von ihnen gingen Ehen mit Kasseler Bürger:innen ein, andere desertierten oder begingen Suizid. Die Körper von mindestens fünf Schwarzen Personen wurden nach ihrem Tod für anatomische Studien verwendet, die durch den Kasseler Anatom Samuel Thomas Soemmering durchgeführt wurden. Um phänomenologische Annahmen einer Verwandtschaft zwischen Menschen afrikanischer Herkunft und Affen zu verifizieren, sezierte Soemmering die Körper Schwarzer Menschen. 1784 erschien die Schrift „Über die körperliche Verschiedenheit des M* vom Europäer“. Er kommt darin zum Schluss, dass Schwarze Menschen zwar Menschen seien, jedoch den Menschenaffen näherstünden. Obwohl Soemmerings Studie schon damals umstritten war, trug sie dazu bei, den „Wissenschaftlichen Rassismus“ salonfähig zu machen und kolonialrassistisches Handeln zu legitimieren. In Kassel-Kirchditmold trägt bis heute ein Platz Soemmerings Namen. Erst seit kurzer Zeit setzt in Kassel eine kritische Auseinandersetzung mit Soemmerings Taten ein.

Gießen: Exemplarisch für die Stadt Gießen ist der Namensgeber unserer Universität Justus Liebig. Deshalb beginnt unser Rundgang immer am Hauptgebäude der JLU. Hier zeigen wir die sogenannten Liebig-Bilder, mit denen der von Justus Liebig entwickelte Fleischextrakt beworben wurde. Die rassistischen Darstellungen einheimischer Bevölkerungsgruppen in den Kolonien sollten das deutsche Kolonialreich glorifizieren. Dabei wurden phänotypische Merkmale verzerrt dargestellt und das Wesen der Menschen als unterwürfig porträtiert. Die Bilder blendeten die Gewalt kolonialer Herrschaft aus und formten die rassistische Ideologie meist junger Rezipient:innen. Solche kolonialen Bilderwelten, die abwertende Stereotype darstellen, sind bis heute gang und gäbe.

Frankfurt: Das Luxus-Restaurant „The Ivory Club“ in der Taunusanlage ist ein Beispiel für den gegenwärtigen positiven Bezug auf die Kolonialgeschichte im Frankfurter Stadtbild (Foto S.16). Die Verortung im Frankfurter Bankenviertel, direkt gegenüber dem Hauptsitz der Deutschen Bank, deren Gründung eng mit der Finanzierung deutscher Kolonialexpeditionen verbunden war, weist auf die Besonderheit des Frankfurter Kontexts hin. Das 2006 eröffnete Restaurant wirbt mit einer „zeitgenössischen Kolonialküche“. Der Eingang des Restaurants wird von zwei großen Plastikstoßzähnen und Elefantenfiguren flankiert und stellt einen positiven Bezug zu Großwildjagd und kolonialer Ausbeutung her. Ambiente, Dekoration und Speisekarte sind explizit an die britischen „Gentlemen Clubs“ des kolonisierten Indiens aus dem 18. und 19. Jahrhundert angelehnt, elitären Männervereinen für die Freizeitgestaltung der weißen Oberschicht. Vorträge und Ausstellungen in diesen Clubs, die sowohl in den Kolonien als auch in den Metropolen existierten, prägten das rassistische Verständnis von den Kolonien. Die positive (Re)Inszenierung kolonialer Orte ist Ausdruck einer Sehnsucht nach Herrschafts- und Denkstrukturen, die kolonialen Mustern folgt.

Vielen Dank für das Gespräch.

Weitere Informationen gibt es auf den Internetseiten frankfurt.postkolonial.net, giessenpostkolonial.wordpress.com, kassel-postkolonial.de