Wettenberg: Aufarbeitung in Deutschland

HLZ 3/2018: Nachbar Frankreich

Gerhard Bökel (71) wurde 1978 im damaligen Landkreis Wetzlar für die SPD direkt in den Landtag gewählt. Von 1985 bis 1994 war Bökel Landrat des Lahn-Dill-Kreises und von 1994 bis 1999 hessischer Innenminister. Nach dem Wahlsieg der CDU war Bökel bis 2008 wieder Abgeordneter. 2003 war er – erfolgloser – Spitzenkandidat der SPD. Die enge Beziehung Bökels zu Südfrankreich entstand schon in seiner Amtszeit als Abgeordneter und als Landrat in Wetzlar. Nach Beendigung seiner Anwalts­tätigkeit lebt er einige Monate im Jahr in der Nähe von Avignon, das bereits 1960 und damit schon vor dem deutsch-französischen Freundschaftsvertrag von 1963 Partnerstadt Wetzlars wurde. Die Gemeinde Sorgues in der unmittelbaren Nachbarschaft Avignons ist seit 1972 mit Krofdorf-Gleiberg verschwistert, das damals ebenfalls zum Kreis Wetzlar gehörte und heute Teil der Gemeinde Wettenberg im Landkreis Gießen ist. Während eines Studienaufenthalts in Avignon stieß Bökel auf die Geschichte des „Geisterzugs“, die ihn danach nicht mehr los ließ und nach längeren Forschungsaufenthalten in französischen Archiven zu dem Buch „Der Geisterzug, die Nazis und die Résistance“ führte. Mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag veröffentlicht die HLZ Auszüge aus dem 13. Kapitel. Es verdeutlicht, dass auch die deutsch-französischen Städtepartnerschaften ohne eine dauerhafte Aufarbeitung der Geschichte und ein Erinnern an Krieg und NS-Verbrechen nicht möglich sind.

Frühjahr 1997: Norbert Schmidt aus dem mittelhessischen Wettenberg ist wieder einmal zu Besuch im südfranzösischen Sorgues. Im Bücherregal seiner Freunde sieht er ein Buch mit dem Titel „Le Train fantôme – Toulouse, Bordeaux, Sorgues, Dachau“. Das weckt seine Neugier. Sorgues, mit dem Wettenberg seit 1972 verschwistert ist, auf einem Buchtitel mit Dachau? Ein Blick in das Buch gibt Antwort. Im August 1944 war der Bahnhof Sorgues Ziel eines unsäglichen Gewaltmarsches von 700 Gefangenen, die bei glühender Hitze von Nazis und ihren französischen Gehilfen vom 17 Kilometer entfernten Roquemaure durch die Weinfelder getrieben worden waren. Viele Einwohner brachten ihnen in Eimern und Krügen Wasser, dazu Früchte und Brot. Und sie ließen sich von den schwer bewaffneten Begleitern nicht einschüchtern. Erst jetzt erfährt Norbert Schmidt (…), der seit 1987 Vorsitzender der Deutsch-Französischen Gesellschaft in Wettenberg ist, dass bereits 1991 vor dem Bahnhof das Mahnmal zum Gedenken an die Opfer des Geisterzugs errichtet worden war – direkt am Place Wettenberg, wie er damals schon hieß. 

Auch Günter Feußner, in den Jahren 1965 bis 1986 Bürgermeister in Krofdorf-Gleiberg und der späteren Großgemeinde Wettenberg, und sein Nachfolger Gerhard Schmidt wussten von all dem nichts. (…) Feußner, Jahrgang 1937, erzählt, wie es zu den ersten Kontakten mit den Franzosen gekommen ist. Schon bald hatte er als junger Bürgermeister, noch keine 30 Jahre alt, den Wunsch, Kontakte mit einer französischen Gemeinde anzubahnen. Es waren die Jahre, in denen die ersten Gemeinden nach den beiden verheerenden Weltkriegen mit kommunalen Partnerschaften einen Beitrag zur Versöhnung leisten wollten. Den gleichen Wunsch, berichtet Günter Feußner, hatte damals der kommunistische Bürgermeister von Sorgues, Fernand Marin. (…)

Fernand Marin, für den die Versöhnung mit Deutschland so wichtig war, hatte bereits ein bewegtes Leben hinter sich. Schon 1940 schloss er sich dem Widerstand gegen die Nazis und die französischen Kollaborateure an, wurde Mitglied der Parti communiste français und war im Untergrund aktiv. Er wurde festgenommen, inhaftiert und konnte flüchten. In der Partei war er ein Vertrauter von René Ferdinand Arthaud, der 1946 von Georges-Augustin Bidault als Minister in die provisorische Regierung berufen wurde und Fernand Marin zu seinem Büroleiter machte. Die Regierung blieb nur kurz im Amt, Bidault wurde als Ministerpräsident vom Sozialisten Léon Blum abgelöst, der schon 1936/37 und 1938 Ministerpräsident von Volksfrontregierungen war.

Fernand Marin wurde daraufhin von seiner Partei nach Algerien und Marokko geschickt, um aus der ursprünglich links-republikanischen und während der Krieges verbotenen Zeitung Alger républicain ein kommunistisches Blatt zu machen. 1951 nach Frankreich zurückgekehrt, wurde er wieder Lehrer, zunächst in Carpentras, dann in Avignon. Er wurde Stadtverordneter in Avignon, in Opposition zu Bürgermeister Daladier, und – mit Unterbrechungen – dreimal als Abgeordneter in die Nationalversammlung gewählt. (…)

In beiden Kommunen gab es Vorbehalte. Marin konnte aber nicht nur seine kommunistischen Freunde, sondern auch die Sozialisten für eine Partnerschaft gewinnen. Hilfreich war auch, dass sich ehemalige Kriegsteilnehmer dafür aussprachen: die Anciens Combattants et Victimes de la Guerre auf französischer und der Verband der Kriegsbeschädigten (VdK) auf deutscher Seite. (…) Dessen Vorsitzender in Wettenberg war Karl Schmidt, der Vater von Norbert Schmidt. Er hatte 1944 beim Kampf in der Nähe von Metz ein Bein verloren. (…) Mit Fernand Marin starb im Februar 2016 wenige Wochen vor seinem 97. Geburtstag eine „historische Persönlichkeit des Kommunismus“, wie ihn die Tageszeitung L´Humanité in einem Nachruf bezeichnete. (…)

Als Norbert Schmidt (…) bei seinen Freunden das Buch fand und von der Tragödie des Gefangenentransports erfuhr, wusste er, dass in den vielen Reden und Gesprächen vieles ausgeklammert worden war. Auch die meisten Menschen in Sorgues hatten erst Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre von den Ereignissen im August 1944 erfahren. (…)

Im Vorstand der Deutsch-Französischen Gesellschaft war man sich schnell einig, dass man mehr wissen wollte über den Geisterzug, die Besatzung der Partnerstadt durch die Nazis, über den Widerstand, die Résistance. (…) Der Verein kaufte 25 Exemplare des Buches und schlug der Wettenbergschule vor, sich im Unterricht mit dem Thema zu befassen. Das Projekt kam in der Gesamtschule zunächst nur langsam in Gang, bekam aber neuen Schub als der Feuilletonredakteur der FAZ Jürg Altwegg in seinem Buch „Geisterzug in den Tod“ die Odyssee beschrieb. (...) Das war der Durchbruch. Die Zehntklässler der Gesamtschule – die Schule hat keine Oberstufe – befassten sich in mehreren Fächern mit dem Thema. In Deutsch, Französisch, Geschichte, Sozialkunde und in Kunst wurden Zeitungsartikel gesammelt, Plakate und Objekte geschaffen, Fotos und Filme gemacht. 

Im Mai 2002 fuhren die Schüler dann mit ihren Lehrern nach Sorgues, in die Partnerstadt. Schon am zweiten Tag ging es nach Roquemaure zum verbliebenen Rest der Brücke, über die am 18. August 1944 die Gefangenen auf die andere Rhôneseite kamen. In Anwesenheit einiger Zeitzeugen aus dem Jahr 1944 wurden die Schüler von den Bürgermeistern von Sorgues und Roquemaure zu ihrem Fußmarsch nach Sorgues verabschiedet. Sie nahmen genau die Strecke, auf der die Gefangenen damals bei glühender Hitze durch die Felder getrieben worden waren. (…) Nach Deutschland zurückgekehrt, präsentieren die Schüler in einer Ausstellung mit Bildern, Texten und Objekten ihre Aufarbeitung des Geisterzugs und dokumentierten ihre Begegnungen mit den Zeitzeugen. 

Ein ähnliches Projekt der Wettenbergschule fand 2005 zum 60. Jahrestag des Kriegsendes statt. Im August 2017 las Gerhard Bökel in der Schule, die jetzt „Gesamtschule Gleiberger Land“ heißt, aus seinem Buch und diskutierte mit 150 Schülerinnen und Schülern. Wieder stellte die Deutsch-Französische Gesellschaft der Schule einen Klassensatz des Buchs zur Verfügung. Ende Mai 2018 werden Jugendliche aus Wettenberg im Rahmen eines Europa-Projekts nach Sorgues fahren. Gerhard Bökel wird sie beim Besuch des Résistance-Museums in Fontaine-de-Vaucluse begleiten und vom „Geisterzug“ berichten.