Kinderschutz bleibt ein Zukunftsprojekt

Im Gespräch mit Professorin Maud Zitelmann

HLZ 1–2/2018: Sexuelle Gewalt

Wer mit Maud Zitelmann spricht, merkt sehr schnell: Hier ist eine Hochschullehrerin, die den Inhalt ihrer Vorlesungen und Seminare von der Pike auf gelernt hat, als Erzieherin, als Pflegemutter schwer gefährdeter Kinder und in langjähriger pädagogischer Praxis in der Kinder- und Jugendhilfe. Das Thema ihrer Dissertation „Kindeswohl und Kindeswille im Spannungsfeld von Pädagogik und Recht“ zieht sich wie ein roter Faden durch ihre berufliche Biografie und ist zugleich ihr „kategorischer Imperativ“ für die Ausbildung zum Bachelor Soziale Arbeit an der Frankfurt University of Applied Sciences (FUAS), der früheren Fachhochschule. Und man versteht auch sehr schnell, warum sie 2013 mit dem Hochschulpreis für Exzellenz der Lehre ausgezeichnet wurde: Hier ist eine Hochschullehrerin, die als Praxisdozentin für das Anerkennungsjahr weiß, wie schwierig die Arbeit in den Jugendhilfeeinrichtungen, in Jugendämtern oder Heimen ist, die die Erfahrungen in der Praxis ernst nimmt, die interdisziplinäres Arbeiten in der Kooperation mit Juristen und Ärztinnen auch tatsächlich umsetzt und zugleich einen fundierten Einblick in die wissenschaftlichen Betrachtungen geben kann. Das Gespräch führte HLZ-Redakteur Harald Freiling.

HLZ: Sie haben vor 15 Jahren in einem Interview davon gesprochen, dass „das Kindeswohl ein Zukunftsprojekt“ werden muss. Ist nicht das Wohl der Kinder in aller Munde? Und wie weit sind wir mit dem „Zukunftsprojekt“ gekommen?

Zitelmann: In aller Munde, vielleicht. Aber es ist allein die Praxis, die zählt. Noch immer bleibt das Leid vieler vernachlässigter und traumatisierter Kinder und Jugendlichen unbeachtet, es fehlt häufig grundlegend an Fachwissen und Ressourcen zum Schutz der Kinder, aber auch an einem ganz klar entschiedenen Vorgehen gegen misshandelnde Erwachsene. 

Auch an unserer Hochschule erwerben die meisten Studierenden der Sozialen Arbeit ihren Bachelor, ohne sich vertieft mit den vielfältigen Aspekten des Kinderschutzes befasst zu haben. In meinem Fall konnte die Professur inzwischen mit Zustimmung des Präsidenten auf das Thema „Kinderschutz“ umgewidmet werden, dies ist in der Hochschullandschaft aber eine ganz seltene Ausnahme. Es fehlen an fast allen Hochschulen Professuren, die das interdisziplinär fundierte Fachgebiet in Lehre und Forschung vertreten. Dies gilt für die Studiengänge der Sozialen Arbeit, für die Erziehungswissenschaften und die Lehrerbildung, Pädiatrie und Rechtsmedizin, Entwicklungspsychologie und die akademische Ausbildung angehender Polizisten sowie der Familienrichter. 

2018 und 2019 sollen 700 Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen in hessischen Schulen eingestellt werden, um Lehrkräfte zu entlasten und unterrichtsunterstützend Probleme der Bildungsbenachteiligung anzugehen. Wie steht es um deren Ausbildung?

Viele werden sich im Lauf ihres Studiums, ihrer Praktika und ihres Anerkennungsjahrs mit den Fragen des Kinderschutzes befasst haben, aber vertieftes, differenziertes Fachwissen zur Arbeit mit verhaltensschwierigen und gefährdeten Kindern und Jugendlichen bringt sicher nur ein sehr kleiner Teil mit. Eine solche Spezialisierung schon in der Hochschule zu leisten, ist schwierig, denn das Spektrum der Handlungsfelder in der Sozialen Arbeit ist sehr breit. Es wird aber dann zum Problem, wenn man dann plötzlich ohne Fachkenntnisse der Misshandlungsforschung unter oft schwierigen Bedingungen in der Praxis die Verantwortung für den Schutz geschädigter und gefährdeter Kinder trägt – und zwar persönlich und auch im Sinne einer strafrechtlich bedeutsamen Garantenstellung…

HLZ: … mit der Bitte um eine kurze Erklärung…

Die Fachkräfte im Jugendamt haben durch den Staatlichen Schutzauftrag die Pflicht, im Rahmen einer fachgerechten Berufsausübung ihnen anvertraute Kinder und Jugendliche vor Gefahr zu schützen. Erleidet ein Kind aber schwere Schäden oder kommt es zu Tode, muss die für den Fall zuständige Fachkraft mit strafrechtlichen Folgen rechnen, sofern sie die Gefährdung dieses Kindes nicht fachgerecht eingeschätzt und im Rahmen ihrer Möglichkeiten auch beendet hat. Viele erinnern sich zum Beispiel noch an den Tod des kleinen Kevin, der in Bremen im Jahr 2006 bei drogensüchtigen Eltern lebte und zu Tode misshandelt wurde. Oder an den Tod von Siri aus Wetzlar im Jahr 2010, für den sich eine ehemalige Studentin unserer Hochschule vor Gericht zu verantworten hatte. Dieser enorme Druck bei unzureichender Ausbildung und viel zu hoher Fallbelastung sowie das große Elend, das die Kolleginnen und Kollegen des Jugendamtes in den meist benachteiligten Familien sehen, führen wohl dazu, dass viele von ihnen schon bald wieder aus dem Allgemeinen Sozialdienst aussteigen, nicht nur für eine Familienzeit. 

Aber gerade für das Leid der Kinder durch sexuelle Gewalt und sexuellen Missbrauch gibt es doch inzwischen große Aufmerksamkeit...

Ja, vielleicht in den Medien, insbesondere auch durch die Aufdeckung des sexuellen Missbrauchs in den Institutionen, in kirchlichen Einrichtungen, an der Odenwaldschule und durch die Thematisierung des Unrechts und Elends der Heimerziehung, nicht nur in den 50er und 60er Jahren. Heute wissen wir, dass es in jeder Schulklasse statistisch ein Kind oder zwei Kinder gibt, die sexuell missbraucht werden oder durch Missbrauch traumatisiert sind. Wie vielen Kindern wird wirklich geholfen? Wo gibt es die Fachkräfte in Schulen und der Jugendhilfe, die auf die Abklärung und Intervention bei sexuellem Missbrauch vorbereitet sind, über die nötige Zeit und das Fachwissen verfügen? Die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder auf fachlich ausgewiesene Personen im Familiengericht, bei der Polizei, in der kinderärztlichen Praxis zu treffen, ist gering. Hier wären zeitnahe und ganz niedrigschwellige Beratungsangebote für Fachkräfte wichtig, ebenso die Arbeit in interdisziplinären Teams und Supervision. 

In allen Kampagnen zum Thema Sexueller Missbrauch gibt es die Botschaft an die Erwachsenen: „Schaut hin!“ Nach meiner langjährigen Berufserfahrung als Lehrer nehmen das viele Kolleginnen und Kollegen sehr ernst, doch sie scheitern bei der Suche nach kompetenter, umfassender Hilfe. Wenden sie sich an das Jugendamt, bekommen sie nie eine Rückmeldung, was das Jugendamt unternimmt. Doch die brauchen sie dringend, denn ihre tägliche Arbeit mit dem Kind geht ja weiter.

Sie sprechen da ein großes Problem an. Auch Lehrerinnen und Lehrer sind nach dem Hessischen Schulgesetz „Garanten“ für das Kindeswohl. Wenn sie Anhaltspunkte für die Gefährdung des Wohls einer Schülerin oder eines Schülers haben, müssen sie sich darum kümmern und gegebenenfalls auch das Jugendamt informieren (§ 3 Abs.10). Nach dem bundesweit geltenden Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz haben gerade Lehrkräfte den Anspruch auf „Beratung durch eine erfahrene Fachkraft“, und zwar mit pseudonymisierten Daten. Ein guter Ansatz, der weiter geführt werden muss! In der letzten Legislaturperiode des Bundestags setzten sich insbesondere Ärztinnen und Ärzte dafür ein, dass der Datenschutz, dem die Jugendämter unterliegen, gegenüber professionellen Hinweisgebern gelockert wird, so dass diese wenigstens erfahren, welche Maßnahmen das Jugendamt ergreift.

Gerade im Bereich des sexuellen Missbrauchs ist die Beweisführung extrem schwierig und die Energie der Täter groß, Beweise zu vernichten, die Kinder, die möglichen Zeuginnen und Zeugen und auch die Hinweisgeber unter Druck zu setzen.

Ja, das ist so – und es ist schwer auszuhalten. Gegebenenfalls muss ich nämlich hinnehmen, dass das Kind weiter leidet, bis es gerichtsfeste Tatsachen gibt. Voreiliges Handeln kann den wirksamen Schutz des Kindes gefährden. So kann ich die Täter in der Regel erst dann mit dem Vorwurf konfrontieren, wenn das Kind geschützt, also meist in Obhut genommen ist.

Ist der Datenschutz der einzige Grund, dass Lehrkräfte nach einer Kontaktaufnahme manchmal den Eindruck haben, dass ihre Hinweise nicht ernst genommen werden, dass sich „nichts tut“?

Ja, das ist ein wichtiger Grund. Auch gibt es sehr unterschiedliche Arbeitsweisen, wenig Feedback-Kultur und Teamstrukturen für die Zusammenarbeit der Professionen, die mit einem Kind zu tun haben. Und es gibt auf beiden Seiten zu wenig Wissen über Aufträge, Rolle und Arbeitsweise der anderen. Doch all das darf kein Grund sein, beim nächsten Mal lieber wegzuschauen. Für die Lehrerinnen und Lehrer heißt das: Sie müssen melden, melden, melden. Am besten immer schriftlich und je konkreter sie ihre Beobachtungen und Mitteilungen der Kinder benennen, umso besser. Wenn sie den Eindruck haben, dass sich nichts tut und das Jugendamt keine Auskunft gibt, kann die Schule nach dem Gesetz über das Verfahren in Familiensachen auch das Familiengericht einschalten (§ 24). 

Kommen denn viele Hinweise aus der Schule?

Ich habe hier gerade die Zahlen von 2016. Danach kommen bei schulpflichtigen Kindern zwischen 6 und 14 Jahren 20 % der Hinweise auf Kindeswohlgefährdungen aus der Schule. Damit ist sie in dieser Altersgruppe vor Polizei und Justiz (18,5 %) und einem Elternteil (8 %) der wichtigste Hinweisgeber. Trotzdem müssen auch Lehrkräfte verstärkt fortgebildet werden, um Anzeichen für die Misshandlung von Kindern, von Vernachlässigung oder Missbrauch zu erkennen. Sie müssen wissen, wie man fachgerecht mit gefährdeten Kindern spricht und wie man diese Gespräche dokumentiert.

HLZ: Noch mal zurück zum Ausgangspunkt unseres Gesprächs: Was ist ihr vordringlicher Wunsch, um das „Zukunftsprojekt Kinderschutz“ weiter voranzubringen?

Wir sind schon ein Stück vorangekommen. Wir haben seit der Jahrtausendwende eine neue Gesetzgebung zum Kinderschutz, die nun in die Praxis umgesetzt werden muss, das braucht Personal und Ausstattung. Es gibt einen unabhängigen Bundesbeauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (HLZ S.17), wir haben in Hessen einen Landespräventionsrat und einen Landesaktionsplan, und es wurden viele Projekte angestoßen. Deshalb vielleicht heute nur ein dringender Wunsch an das Wissenschaftsministerium: Schaffen Sie zusätzliche Lehrkapazitäten für den Kinderschutz und Anreize zur Lehre und Forschung in den Hochschulen, damit angehende Fachkräfte aller Kindesdisziplinen besser auf ihre schwierige Arbeit mit hoch gefährdeten Kindern und Jugendlichen vorbereitet und zu einer Kooperation befähigt werden, die den Schutz der Kinder gewährleistet.
Vernachlässigung, Misshandlung und sexuelle Gewalt werden oft über Generationen weitergelebt. Mit jedem Kind, das die Chance erhält, wirksam geschützt in seiner Familie oder aber dauerhaft bei zugewandten Ersatzeltern aufzuwachsen, wird dieses Elend der Wiederholung unterbrochen. In diesem Sinn bleibt das Kindeswohl weiterhin ein Zukunftsprojekt.

Vielen Dank für das Gespräch.