Diskriminierungskritische Perspektiven in Bildungseinrichtungen

Empowerment und Powersharing

HLZ 1-2/2022: Demokratie und Menschenrechte

„Wir sind alle gleich viel wert und haben die gleichen Chancen.“ Dieses Ideal ist leider weit entfernt von der Realität. Bereits Kinder erleben und erlernen diskriminierendes Wissen und Verhalten, abhängig von ihrer eigenen Position und ihren sozialen Zugehörigkeiten innerhalb der gesellschaftlichen Ungleichheitsverhältnisse. Zahlreiche Studien belegen, wie stark sich historisch gewachsene Machtstrukturen auf die psychische und physische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen auswirken.

Nicht alle Kinder und Jugendliche haben den gleichen Zugang zu den notwendigen gesellschaftlichen Ressourcen, „um einen positiven Selbst- und Weltbezug aufzubauen und stabil zu halten“ (1). So erleben zum Beispiel queere Jugendliche Diskriminierung und Ausgrenzung in Schulen und Freizeiteinrichtungen sowohl durch andere Jugendliche als auch durch Lehrkräfte. Diskriminierungserfahrungen lösen Stress aus und können sich auf die Schulleistungen auswirken – mit negativen Konsequenzen für den weiteren beruflichen Weg. Auch Rassismus wirkt sich auf die schulischen Bildungsverläufe aus, wie die „Max-und-Murat-Studie“ von Meike Bonefeld und Oliver Dickhäuser aufzeigt. Danach wurden fiktive Diktate von Murat signifikant schlechter bewertet als gleich gute oder schlechte Diktate von Max (2).

Diskriminierungskritik als Teil der Profession

Wir dürfen uns als pädagogische Fachkräfte somit nicht zurücklehnen. Stattdessen sollten wir Diskriminierungskritik ganz bewusst als grundlegende Perspektive unseres professionellen Selbstverständnisses verstehen, um Kinder und Jugendliche vor Diskriminierungserfahrungen möglichst zu schützen. Gleichzeitig ist es im Sinne von demokratischer Bildung wichtig, Kinder und Jugendliche dahingehend zu stärken, dass sie Diskriminierung erkennen und einen Umgang damit entwickeln können. Das gilt unabhängig davon, ob Kinder und Jugendliche negativ oder positiv von der jeweiligen Diskriminierungsform betroffen sind. Sowohl negativ von Rassismus betroffene Kinder als auch weiße Kinder brauchen beispielsweise Wissen über Rassismus und Strategien im Umgang mit Rassismus, wobei die Erfahrungen und Strategien unterschiedlich sind. Als pädagogische Fachkräfte in Bildungseinrichtungen und Sozialer Arbeit sind wir selbst in die gesellschaftlichen Diskriminierungsverhältnisse verstrickt, entweder indem wir selbst negativ betroffen sind oder indem wir von den Verhältnissen in einer privilegierten Position profitieren. Ein professionelles Selbstverständnis schließt folglich eine kritische Reflexion der Position(en) der Kinder und Jugendlichen sowie der eigenen mit ein.

Diskriminierungsformen wie Rassismus, Sexismus, Queerfeindlichkeit, Klassismus, Ableismus, Dick_Fettfeindlichkeit und viele andere bestimmen, wie sich Menschen in der Gesellschaft bewegen können, welche Erfahrungen sie machen und welche Möglichkeiten sie haben. Dabei können sich verschiedene Dimensionen, die Ungleichheit generieren, überschneiden. Der Fachbegriff der Intersektionalität (Überschneidung) wurde in den 1970er Jahren von der Schwarzen US-amerikanischen Juristin Kimberlè Crenshaw geprägt. Seine Wurzeln hat er in der Erfahrung der Schwarzen Frauenbewegung, innerhalb des weißen Mainstream-Feminismus marginalisiert und ausgeschlossen zu werden.

Macht darf vor dem Hintergrund der Komplexität von multiplen Zugehörigkeiten nicht dichotom verstanden werden: Wir sind als Personen immer mehrfach sozial positioniert, zum Beispiel weiblich, cis-geschlechtlich, akademisch, migrantisch, weiß, nicht-behindert, lesbisch usw. und deshalb selten „nur machtstark“ oder „nur machtschwach“. Aus dieser Perspektive sind Kinder und Jugendliche, aber auch Pädagog:innen unterschiedlich verletzungsmächtig und vulnerabel. Deshalb sollten wir pädagogisch wahrnehmen, reflektieren und berücksichtigen, wer über welche Privilegien verfügt und wer welche Diskriminierungserfahrungen macht.

Diskriminierungskritik und pädagogische Praxis

Daraus folgen für pädagogische Fachkräfte orientierende, selbstreflexive und selbstkritische Fragen:

  • Wen habe ich im Blick und auf welche Weise, wen nicht und warum?
  • Welche Konsequenzen haben gesellschaftliche Macht- und Herrschaftsverhältnisse für die Kinder und Jugendlichen, mit denen ich arbeite?
  • Welches Wissen habe ich über Diskriminierungsformen und wo sollte ich mich weiterbilden?
  • Wie wirken sich meine sozialen Positionierungen auf meine Arbeitsbedingungen, meine pädagogische Rolle und in den jeweiligen pädagogischen Settings aus?
  • Wie kann ich aus einer privilegierten und institutionellen Position heraus Soziale Arbeit und Bildung so konzipieren und gestalten, dass diese Ungleichheitsverhältnisse berücksichtigt werden?

Das Konzept des Empowerment-Hauses

Das Konzept des Empowerment-Hauses von Nkechi Madubuko bietet die Möglichkeit, pädagogische Praxis in Bezug auf Rassismus zu reflektieren und zu gestalten (3). Sie zeigt auf den drei Ebenen des Empowerment-Hauses, wie pädagogische Fachkräfte je nach eigener Positionierung Kinder und Jugendliche rassismuskritisch stärken und unterstützen können:

  • Die pädagogische Haltungs- und Wissenskompetenz, eine menschenrechtliche, rassismuskritische Haltung und eine entsprechende Sprache bilden das Fundament. Durch die Wahrnehmung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden soll versucht werden, Ungleichheiten auszugleichen. Nur ein Wissen über Rassismus und Diskriminierung ermöglicht es, vielfältige Identitäten mitzudenken und mit Erfahrungen und Vorfällen adäquat umzugehen.
  • Die Verhaltenskompetenz bildet die Basis-Ebene: Dazu gehören die Bereitschaft und die Fähigkeit zum Schutz vor Diskriminierung, die Reflexion von eigenen Vorurteilen und Stereotypen, die Darstellung verschiedener Lebensrealitäten, ein sensibler, diskriminierungskritischer Sprachgebrauch, die Haltung und das Vorleben von Wertschätzung. Pädagogische Fachkräfte sind Vorbilder und prägen entscheidend, wie Kinder und Jugendliche sich selbst wahrnehmen. Eine Umgebung, in der alle akzeptiert und angenommen werden, wie sie sind, und die dies im Verhalten und Umgang miteinander spiegelt, ist sehr stärkend. Das Ziel ist die Schaffung eines diskriminierungskritischen Umfelds, von dem alle Kinder und Jugendlichen profitieren.
  • Die Spitze des Hauses bilden Empowerment-Schutzräume, sogenannte Safer Spaces. Während die beiden unteren Ebenen des Empowerment-Hauses von allen pädagogischen Fachkräften unabhängig von ihrer eigenen sozialen Positionierung gestaltet werden, können die Safer Spaces nur von Personen gestaltet werden, die Wissen zu Empowerment und einen eigenen biografischen Zugang zum Thema mitbringen.
  • Madubuko stellt diese drei Ebenen des Empowerment-Hauses explizit mit dem Fokus auf Rassismus vor und bezieht sich auf das Empowerment von Schwarzen und PoC-Kindern und Jugendlichen. Sie lassen sich jedoch auf andere Diskriminierungsformen gewinnbringend übertragen, um pädagogische Prozesse machtkritisch und mit intersektionalem Anspruch zu gestalten.

Empowerment und Powersharing

Empowerment kann als der Prozess verstanden werden, in dem minorisierte oder machtschwache Personen auf der Grundlage von Selbstdefinition und Selbstbestimmung zu einer Ausweitung ihres Machtzugangs und damit ihrer Handlungsspielräume gelangen (4). Empowerment setzt zwar auf der individuellen Erfahrungs- und Gefühlsebene an, hat aber das Ziel, die kollektive und politische Dimension dieser Erfahrungen in den Blick zu nehmen und zu einer „Veränderung dieser kollektiven Abwertungs- und Ausgrenzungsprozesse und Sichtbarmachung eigener Ziele als Kollektiv auf verschiedenen sozialen und politischen Ebenen“ beizutragen (5).

Yasmine Chehata und Birgit Jagusch verstehen in diesem Zusammenhang Powersharing als „die andere Seite“ des Empowerments: „Was nützt das Empowerment von Individuen, wenn die Kraft der Veränderung individualisiert wird? Was nützt die Ermächtigung von Gruppen und Communities, sofern Menschen und Institutionen in privilegierten Strukturen nicht bereit sind, Machtpositionen anzufragen, neu auszuhandeln und auch aufzugeben?“ (6)
Empowerment und Powersharing unter emanzipatorisch-pädagogischer Perspektive zusammen zu denken, bedeutet vor allem, die eigene institutionelle Handlungsmacht zu fokussieren und konkrete Veränderungen anzustreben. So können Pädagogik und Soziale Arbeit machtkritische und transformative Bildungspraxis gestalten und zu mehr Gerechtigkeit beitragen.

 

Ioanna Menhard und Mirjam Tutzer

Ioanna Menhard ist Diplompädagogin und in der Jugendbildung und Jugendarbeit als Referentin sowie als Lehrbeauftragte in der Hochschullehre tätig. Sie beschäftigt sich theoretisch und praktisch mit Fragen einer emanzipatorischen, differenzsensiblen und diskriminierungskritischen Sozial- und Bildungsarbeit. Mirjam Tutzer ist Politikwissenschaftlerin mit dem Schwerpunkt feministischer postkolonialer Theorie und Rassismuskritik. Sie arbeitet in der politischen Bildungsarbeit, u.a. als Mitglied von frankfurt postkolonial.

Foto: Markus Spiske, www.unsplash.com


(1) Maisha Maureen Auma (2019): Vulnerable Jugendliche zwischen Anerkennung und Dehumanisierung. In: Sebastian Seng, Nora Warrach (Hg.): Rassismuskritische Öffnung. Herausforderungen und Chancen für die rassismuskritische Öffnung der Jugend(verbands)­arbeit und Organisationsentwicklung in der Migrationsgesellschaft. IDA e.V. S. 43.
(2) Meike Bonefeld, Oliver Dickhäuser (2018): (Biased) Grading of Students’ Performance: Students’ Names, Performance Level, and Implicit Attitudes. In: Frontiers in Psychology, Volume 9, Article 481, S. 1-13.
(3) Nkechi Madubuko (2021): Praxishandbuch Empowerment. Rassismuserfahrungen von Kindern und Jugendlichen begegnen. Beltz Juventa. S.145 ff.
(4) Gabriele Rosenstreich (2020): Empowerment und Powersharing unter intersektionaler Perspektive. In: Birgit Jagusch, Yasmine Chehata (Hg.): Empowerment und Powersharing. Ankerpunkte – Positionierungen – Arenen. Beltz Juventa, S. 229.
(5) Nkechi Madubuko: a.a.O, S.130.
(6) Yasmine Chehata, Birgit Jagusch (2020): Vortext: „Wenn Wissen und Diskurs persönlich wird und werden sollte“. In: dieselben (Hg.): Empowerment und Powersharing. Beltz Juventa, S. 9-17.