Die meisten Personalversammlungen der verschiedenen BFZ im Kreis Groß-Gerau und einige Kollegien von allgemeinen Schulen verfassten schon im Frühjahr 2018 einen Offenen Brief mit ihren „Forderungen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen und Wahrung der sonderpädagogischen Professionalität“. Einige der beteiligten Kolleginnen und Kollegen sind GEW-Mitglieder, doch schon länger hadern sie mit ihrer Gewerkschaft, da sie sich von ihr nicht ausreichend vertreten fühlen. Die HLZ dokumentiert den Brief im Wortlaut.
Inklusion ist eine wunderbare Idee des gemeinsamen Lernens, Erlebens und Sich-Entwickelns in heterogenen Gruppen, jeder in seinem Tempo, von seinem Lern- und Entwicklungsstand ausgehend, begleitet und geleitet durch kompetente Lehrkräfte, die sich wohlwollend und freudvoll um das individuelle Kind kümmern. Die Realität in Groß-Gerauer Schulen sieht aber leider anders aus. Zu viele Kinder mit unterschiedlichsten Bedürfnissen in großen Klassen, zu wenig Förderlehrerstunden zur Unterstützung der Klassenlehrkraft und zur individuellen Förderung der Kinder, mangelnde Zeit für Kooperationen und zu viel Bürokratie: Das ist nur ein Auszug der Probleme, mit denen sich Lehrkräfte in der Umsetzung der Inklusion täglich konfrontiert sehen. Zurzeit gelingt die inklusive Beschulung im Grunde nur dort, wo eine Lehrkraft viel Engagement, private Zeit, Geld und Herzblut investiert. Doch selbst dann stehen die Kolleginnen und Kollegen mit ihren Problemen alleine da. Das macht auf Dauer krank, egal ob Förderschul- oder Regelschullehrkraft.
Hinzu kommt, dass im Zuge der Inklusion die Professionalität der Sonderpädagogen derzeit stark untergraben wird. „Inklusion aus einer Hand“ – klingt schön, gestaltet sich aber sehr schwierig. Trotz Fortbildungsmaßnahmen der Sonderpädagogen und Poolstunden, über die sich Sonderpädagogen von „Experten“ in anderen Förderschwerpunkten beraten lassen können, muss schlussendlich die Förderschullehrkraft quasi „fachfremd“ in allen sonderpädagogischen Förderschwerpunkten beraten und fördern.
Erschwerend kommt hinzu, dass die bereits im kleinen, eigenen System sehr gut inklusiv arbeitenden Förderschulen immer stärker abgebaut werden, statt den Schatz an Erfahrung und Ressourcen zu nutzen und diese Systeme für Regelschulkinder zu öffnen. Stattdessen müssen sich Förderschulkolleginnen und -kollegen entscheiden, ob sie ganz in die Inklusion gehen oder ganz im stationären System Förderschule bleiben. Allerdings erübrigt sich die Entscheidung für Letzteres häufig schnell und man ist quasi „gezwungen“, in die Inklusion zu gehen, da sich die eigene Förderschule reduzieren muss.
Sicherlich gibt es Kolleginnen und Kollegen, die gerne mit ihrer vollen Stelle in die Regelschulen gehen, um dort die inklusive Beschulung bedürftiger Kinder zu unterstützen. Jedoch gibt es sicher ebenso viele Kolleginnen und Kollegen, die genau dies nicht möchten, da sie gern eine eigene Klasse führen und unterrichten wollen, statt nur zu beraten und zu diagnostizieren.
Die Arbeitsrealität als sonderpädagogische Beratungslehrkraft wird bisher auch in der universitären Ausbildung noch nicht vollumfänglich vermittelt. Es wird nach wie vor vorrangig das Handwerkszeug für die Arbeit in einer Förderschule gelehrt und nur rudimentär Wissen und Fertigkeiten zur Bewältigung des Alltags als Beratungslehrkraft an einer Regelschule unterrichtet.
Hinzu kommt, dass es massive Engpässe in der Gewinnung neuer Förderschullehrkräfte gibt, obwohl diese dringend gebraucht werden. Auch hier sollten sich die Universitäten öffnen und mehr Studienplätze in den Fachbereichen in der Sonderpädagogik anbieten! Auch eine Beratung interessierter Studienanfänger hin zum Förderschullehramt wäre sicherlich sinnvoll. Denn ohne zusätzliches Fachpersonal ist eine Gewährleistung guter sonderpädagogischer Förderung derzeit kaum leistbar. Deshalb fordern wir von Entscheidungsträgern schnellstmöglich die Lösung der obigen Probleme durch wirkliche Hilfe wie etwa:
- umgehende, noch umfassendere Anpassung der universitären Ausbildung an die Anforderungen der Arbeit als Förderschullehrkraft und verstärkter Einsatz bei der Rekrutierung neuer Förderschullehrkräfte
- Aufstockung der personellen Ressourcen im Bereich der Inklusion durch zusätzliche Stunden durch Einstellung weiteren Personals in der Inklusion, ohne diese von den noch bestehenden Förderschulen abzuziehen
- Sicherstellung, dass an einer Regelschule alle sonderpädagogischen Professionen vertreten sind, so dass Teamarbeit möglich wird und ein fachlicher und professioneller Austausch gewährleistet ist
- Gewährleistung, dass Förderschullehrkräfte nicht als „Einzelkämpfer“ an einer Regelschule arbeiten müssen
- Sicherung des Fortbestands der Förderschulen als „sonderpädagogischer Hafen“, um professionelle Weiterbildung zu sichern
- Wahlmöglichkeit für Förderschullehrkräfte, ob sie als Beratungslehrer und/oder Förderschullehrer tätig sein wollen
- angemessene räumliche und sachliche Ausstattung (PC, Laptop, Drucker, Internet, Material)
- in der Stundentafel verankerte Koordinationsstunden mit den Kolleginnen und Kollegen, welche gemeinsam eine Regelschule betreuen, sowie ebenso verankerte Koordinationsstunden mit den betreffenden Regelschulkolleginnen, um Teamarbeit zugunsten der Kinder anbahnen zu können.
HLZ 7-8/2019: Die Diskussion geht weiter
Reaktionen auf die Artikel in der HLZ 6/2019 und weitere Beiträge zum Thema „Inklusion“ und „Sonderpädagogische Förderung“ findet man in der HLZ 7-8/2019. Unter anderem sind dort folgende Artikel vorgesehen:
- Inklusion auch im Bildungsgang Gymnasium?
- Ausbildung für das Lehramt Förderschule an Hochschulen und im Vorbereitungsdienst
- Inklusive Beschulung ist noch lange keine Inklusion
- Inge Holler-Zittlau, Verband Sonderpädagik Hessen e.V.: Inklusion als gemeinsame Aufgabe