Anstieg der Schülerzahlen setzt sich fort

Zunahme auch in Hessen

HLZ 5/2019: 70 Jahre Grundgesetz

Kurz vor Weihnachten titelte die Süddeutsche Zeitung: „Privatschulen werden beliebter – und immer elitärer“. Grundlage war eine neue umfassende empirische Untersuchung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) (1). Danach hat sich der Anteil der Kinder, die eine Privatschule besuchen, seit Anfang der 1990er Jahre annähernd verdoppelt. Inzwischen gehen mehr als neun Prozent aller Kinder auf eine Privatschule. Dabei ist eine zunehmende soziale Segregation auszumachen: Der Anteil von Kindern mit Akademikereltern an Privatschulen ist sowohl in Westdeutschland als auch in Ostdeutschland gestiegen und fällt deutlich höher aus als an öffentlichen Schulen. Zudem leben Schülerinnen und Schüler, die Privatschulen besuchen, häufiger in Haushalten mit hohen Einkommen.
Die Autorinnen der DIW-Studie sehen diese Entwicklung mit Sorge. Sie empfehlen deshalb Höchstbeträge beim Schulgeld oder eine Einkommensstaffelung. Außerdem müssten öffentliche Schulen durch zusätzliche Investitionen attraktiver werden.

Zunahme auch in Hessen
Die Ergebnisse der DIW-Studie decken sich mit den Ergebnissen unserer Studie aus dem vergangenen Jahr: Auch für Hessen haben wir eine deutliche Zunahme beim Privatschulbesuch feststellen können, insbesondere in Südhessen. Darüber hinaus konnten wir aufgrund einer regionalen Auswertung auf Ebene der Kreise und kreisfreien Städte zeigen, dass ein statistischer Zusammenhang zwischen hohen Einkommen und dem Besuch von Privatschulen besteht (2). Die jetzt verfügbaren Zahlen für das Schuljahr 2017/18 schreiben die im vergangenen Jahr erhobenen Befunde im Trend fort – und legen für Hessen einen dringenden Handlungsbedarf nahe.
So ist die Zahl der Schülerinnen und Schüler, die Privatschulen besuchen, im Schuljahr 2017/18 gegenüber dem vorherigen Schuljahr um 839 Kinder und Jugendliche gestiegen. Zugenommen hat damit auch der Anteil der Schülerinnen und Schüler, die eine Privatschule besuchen, und zwar von 7,3 auf 7,5 Prozent. Dabei ist dann allerdings auch die für das Schuljahr 2016/17 in der hessischen Statistik neu eingeführte Kategorie „ohne Angaben“ aus Gründen der Vergleichbarkeit enthalten. Hier werden Schülerinnen und Schüler aus dem Ausland erfasst, die in Intensivklassen grundlegende Kenntnisse der deutschen Sprache erwerben. Wird diese neue Kategorie ausgeklammert, dann beträgt der Anteil der Schülerinnen und Schüler an Privatschulen aktuell sogar 7,6 Prozent.

Der Anstieg konzentriert sich fast ausschließlich auf den Regierungsbezirk Darmstadt (+ 777 Kinder bzw. Jugendliche). Hiervon wiederum entfällt der größte Teil auf die Stadtregion Frankfurt (+ 519) bzw. die Stadt Frankfurt (+ 375). Erläuterungen zur Abgrenzung der Stadtregion Frankfurt von der Stadt Frankfurt findet man in der Tabelle. Werden die verschiedenen Schulformen betrachtet, dann profitieren von dem Anstieg insbesondere die privaten Grundschulen (+ 385) und die privaten Gymnasien (+ 352). Im Regierungsbezirk Darmstadt besuchen mittlerweile 5,4 Prozent der Grundschülerinnen und Grundschüler private Schulen, in der Stadt Frankfurt beträgt der Anteil sogar 12,1 Prozent.

Die absoluten Zahlen zur Entwicklung des Besuchs privater Grundschulen und Gymnasien seit dem Schuljahr 2005/06 und ihre regionale Streuung in Hessen sind der Tabelle zu entnehmen. Zwar ist die Zahl der Schülerinnen und Schüler auf privaten Gymnasien deutlich höher als diejenige auf Grundschulen. Aber wenn man die Entwicklung seit dem Schuljahr 2005/06 in den Blick nimmt, dann fällt insbesondere der hohe Anstieg im Grundschulbereich – und hier wieder in Südhessen – ins Auge. Dies ist eine durchaus bedenkliche Entwicklung, da gerade den Grundschulen eine wichtige Funktion als „Schule für alle“ zukommt. Zumindest in den ersten Schuljahren sollen auch im gegliederten deutschen Schulsystem dem Grundsatz nach alle Kinder, unabhängig von der sozialen Herkunft, gemeinsam lernen. Dem trägt das Grundgesetz Rechnung, indem es in Artikel 7 deren Genehmigung zusätzlich zum Verbot der „Sonderung nach den Besitzverhältnissen der Eltern“ (Absatz 4) an ein „besonderes pädagogisches Interesse“ (Absatz 5) bindet.

Angesichts dieser Entwicklung stellt sich die Frage, ob Gesetzgeber und Schulverwaltung in Hessen den Anforderungen des Grundgesetzes in ausreichendem Maße Rechnung tragen. Die ausgesprochen starke Zunahme bei den privaten Grundschulen – insbesondere in der Rhein-Main-Region – legt die Vermutung nah, dass seitens der Schulverwaltung bei der Genehmigung von privaten Ersatzschulen keine strengen Vorgaben hinsichtlich des „besonderen pädagogischen Interesses“ angelegt werden. Dies wäre aber unbedingt erforderlich, um zu vermeiden, dass private Grundschulen den Rückzug von besserverdienenden, zumeist akademisch gebildeten Familien aus dem öffentlichen Bildungssystem befördern.

Regulierung erforderlich
Darüber hinaus bestehen in Hessen keinerlei Regularien, wie das Schulgeld auszugestalten ist. Zwar übernimmt das Hessische Schulgesetz in Artikel 171 die allgemein gehaltene Formulierung hinsichtlich des Sonderungsverbots aus dem Grundgesetz, es mangelt aber an einer Konkretisierung. Genau dies wurde bereits von Laura Jung, Marcel Helbig und Michael Wrase in einem Diskussionspapier des Wissenschaftszentrums Berlin bemängelt. Als mit dem Sonderungsverbot vereinbar nennen sie ein Schulgeld in der Größenordnung von durchschnittlich 160 Euro pro Monat. Dieser Betrag wird von einem Großteil der hessischen Privatschulen überschritten, zudem mangelt es oft auch an einer sozialen Staffelung (3).
Die oben zitierte Studie des DIW liefert einen weiteren Beleg dafür, dass die Schülerschaft an Ersatzschulen sich in ihrer soziodemographischen Zusammensetzung deutlich von der Gesamtschülerschaft unterscheidet. Darüber hinaus kann sie auch aufzeigen, dass sich parallel zum Wachstum der Privatschulen auch deren soziale Selektivität tendenziell vergrößert hat. So hat sich im Zeitraum von 1995 bis 2015 der Anteil der Kinder auf einer Privatschule bei Elternhäusern mit hohen Bildungsabschlüssen und hohen Einkommen deutlich stärker erhöht als in den Vergleichsgruppen:
„Vor 20 Jahren waren die Unterschiede in der Privatschulnutzung in Westdeutschland zwischen den einkommensstärksten 20 Prozent der Haushalte (fünftes Einkommensquintil) und dem einkommensschwächsten Fünftel der Haushalte (erstes Einkommensquintil) mit nur zwei Prozentpunkten noch sehr gering. Im Jahr 2015 betrug der Unterschied fünf Prozentpunkte. Kinder aus einkommensstarken Haushalten gehen also immer häufiger auf eine Privatschule – im Jahr 2015 waren es fast zwölf Prozent.“ (4)

Die Koalition aus CDU und Grünen  will nach dem im Dezember vorgelegten Koalitionsvertrag „ein fairer Partner der Schulen in freier Trägerschaft“ sein (S.94). Sie könnten „eine Bereicherung sein und wichtige Impulse für die Schulentwicklung geben“:
„Ihre Finanzierung wurde in den vergangenen Jahren auf eine neue, deutlich verbesserte Grundlage gestellt. Wir werden die Ergebnisse evaluieren und das Ersatzschulfinanzierungsgesetz für die Zukunft entsprechend anpassen. Dabei werden wir verstärkt die Entwicklung der Schulgelder in den Blick nehmen. Die Höhe des Schulgeldes darf nicht dazu führen, dass bestimmte Bevölkerungsteile von vornherein vom Schulbesuch ausgeschlossen sind (Sonderungsverbot).“
Wenn die Koalition diese Ankündigung ernst meint, dann muss sie umgehend dafür sorgen, dass die Ersatzschulen schulrechtlich verbindlich zu einer anderen Ausgestaltung der Schulgelder verpflichtet werden. Die Genehmigungspraxis und die Aufsicht über das Privatschulwesen müssten insbesondere im Grundschulbereich deutlich restriktiver gehandhabt werden. Darüber hinaus muss aber auch das öffentliche Schulsystem gestärkt werden. Auch wenn bezweifelt werden darf, ob Privatschulen das von ihnen versprochene bessere Bildungsangebot tatsächlich einlösen können, so dürften es doch in Teilen auch die bestehenden Probleme im öffentlichen Schulwesen sein, die das Wachstum der Privatschulen befördern: Marode Schulgebäude, große Klassen und Unterrichtsausfall dürften bei nicht wenigen Eltern Hoffnungen auf bessere Lernbedingungen an einer Privatschule wecken.

Kai Eicker-Wolf und Roman George, Referenten der GEW Hessen

Zahl der hessischen Schülerinnen und Schüler, die eine Privatschule besuchen

Regierungsbezirk

2005/06

2017/18

absolute

Differenz

Differenz in %

Grundschulen

Hessen

4.669

9.592

+ 4.923

+ 105,4

RB Darmstadt

3.451

7.792

+ 4.341

+ 125,8

RB Gießen

514

749

+ 235

+ 45,7

RB Kassel

704

1.051

+ 347

+ 49,3

Stadtregion Frankfurt

2.438

5.756

+ 3.318

+ 136,1

Frankfurt

1.633

3.210

+ 1.577

+ 96,6

Gymnasien

Hessen

24.613

24.981

+ 368

+ 1,5

RB Darmstadt

15.248

16.408

+ 1.160

+ 7,6

RB Gießen

3.969

3.613

- 356

- 9,0

RB Kassel

5.396

4.960

- 436

- 8,1

Stadtregion Frankfurt*

8.218

10.039

+ 1.821

+ 22,2

Frankfurt*

1.945

2.698

+ 753

+ 38,7

* Die Stadtregion Frankfurt umfasst in Anlehnung an die harmonisierten Begriffe des Statistischen Amtes der Europäischen Union die beiden kreisfreien Städte Frankfurt und Offenbach sowie den Main-Taunus-Kreis, den Hochtaunuskreis, den Wetteraukreis, den Main-Kinzig-Kreis sowie die Landkreise Offenbach und Groß-Gerau.


(1) Katja Görlitz,C. Katharina Spieß, Elena Ziege, Fast jedes zehnte Kind geht auf eine Privatschule – Nutzung hängt insbesondere in Ostdeutschland zunehmend vom Einkommen der Eltern ab, in: DIW Wochenbericht 51+52/2018.
(2) Kai Eicker-Wolf und Roman George, Ein Beitrag zur wachsenden sozialen Ungleichheit: Die Entwicklung des Privatschulbesuchs in Hessen seit dem Schuljahr 2005/06. Finanzpolitisches Arbeitspapier der GEW Hessen Nr. 3.
(3) Michael Wrase, Laura Jung, Marcel Helbig, Defizite der Regulierung und Aufsicht von privaten Ersatzschulen in Bezug auf das Sonderungsverbot nach Art. 7 Abs. 4 Satz 3 GG, WZB Discussion-Paper 2017-003.
(4) Görlitz/Spieß/Ziege 2018, S. 1109.