Erdkunde statt PoWi?

Neue Belegpflichten für die gymnasiale Oberstufe

HLZ 2022/6: Politische Bildung

Die Absicht der schwarz-grünen Koalition, dass das Fach Politik und Wirtschaft in der Q-Phase der gymnasialen Oberstufe nicht mehr abgewählt werden kann, rief auch die Erdkundelehrerinnen und -lehrer auf den Plan (HLZ S. 7). Robert Hottinger, Lehrer für Erdkunde und Kunst an der Immanuel-Kant-Schule Rüsselsheim und Mitglied im Vorsitzendenteam des GEW-Kreisverbands Groß-Gerau, hält die Entscheidung des Kultusministeriums für richtig, dass das Fach PoWi in der Q-Phase auch durch das Fach Erdkunde ersetzt werden kann.

Nicht zuletzt wegen der populistischen und radikalen Tendenzen in Europa oder auch angesichts des brutalen Angriffskrieges in der Ukraine sind die Überlegungen der Landesregierung nachvollziehbar, die politische Bildung zu stärken. Das Tempo der Veränderung durch die Globalisierung kann verunsichern, Preise für Lebensmittel und Energie und die Mieten in den Städten steigen und manche Dörfer veröden. Professor Rainer Mehren, Bundesvorsitzender des Hochschulverbandes für Geographiedidaktik, sieht im Unterrichtsfach Geographie eine „Schutzmauer gegen Populismus“. Der Klimawandel lasse sich nicht verhindern, „indem wir behaupten, es gäbe ihn nicht“, und die Flüchtlingstragödie lasse sich nicht beenden, „indem wir einfach einen Zaun um Europa bauen“ (1).

„Eine Schutzmauer gegen den Populismus“

Geographie betrachte die Zusammenhänge, beschreibe Ursachen und Folgen in ihrer ganzen Komplexität, „ob es um die Rodung des Regenwalds geht oder um die Verschmutzung der Ozeane, um Ferntourismus, die Energiewende, Mobilität oder die Gründe für Migration“ (2). Die Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln und Rohstoffen spielt auch bei der Betrachtung der Ursachen und Folgen des Krieges in der Ukraine eine Rolle, mit allen Auswirkungen auch in anderen Regionen der Welt.

Eine weitere Zukunftsaufgabe ist die gesunde Stadt. Dietmar Steinbach, Vorsitzender des Verbandes Deutscher Schulgeographen in Hessen, bildet angehende Erdkundelehrkräfte aus und betrachtete in der Frankfurter Rundschau vom 1. 9. 2019 die Entwicklung der Stadt Frankfurt am Main:

„Was bedeutet das für das Klima, werden die Sommer immer heißer, wenn alles zugebaut wird? (…) Was ist mit Gentrifizierung, also dem Phänomen, dass bestimmte Gesellschaftsschichten ihre eigenen Stadtteile besiedeln und andere verdrängen? Wer verdient daran, was bedeutet es für die Entwicklung des Raums in der Stadt und drum herum, wenn mit Wohnungen viel Geld verdient werden kann? Welche sozialen Verwerfungen ergeben sich daraus?“

Schülerinnen und Schüler tragen morgen Verantwortung, gerade auch für das Erreichen der Nachhaltigkeitsziele, der Sustainable Development Goals, in denen die UNO die größten Herausforderungen des 21. Jahrhunderts definiert hat: Klimawandel, Armut, Ressourcenverbrauch, weltweite Migration oder geopolitische Konflikte. Fast alle diese Themen, so Karl W. Hoffmann als Vorsitzender des Verbandes Deutscher Schulgeographen beim „Tag der Nachhaltigkeit“ des GEW-Kreisverbands Groß-Gerau im Oktober 2019, würden zentral und fundiert im Fach Erdkunde behandelt: „Die Erdkunde unterstützt die Jugendlichen bei ihrem Engagement für eine bessere Zukunft, indem sie z. B. die Ursachen, Folgen und Gegenmaßnahmen in Bezug auf den Klimawandel analysiert, hier aber keinem blinden Aktionismus folgt, sondern Möglichkeiten zur Reflexion als Entscheidungsgrundlage politischen Handelns bietet.“ (3)

Die Erdkunde ist – und das ist ein Alleinstellungsmerkmal - sowohl Naturwissenschaft als auch Gesellschaftswissenschaft. Sie berücksichtigt alle räumlichen Maßstabsebenen (global, regional, lokal) und Basiskonzepte (Mensch-Umwelt-System, Raumkonzepte, Leitbild der nachhaltigen Entwicklung) und kann Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE), die Menschen zu zukunftsfähigem Denken und Handeln befähigt, besonders gut unterstützen.

Kerncurriculum für die gymnasiale Oberstufe

Auch dem kürzlich vorgelegten Entwurf zur Überarbeitung des Hessischen Kerncurriculums Erdkunde für die gymnasiale Oberstufe (KCgO) liegt der Gedanke zugrunde, dass das Fach Erdkunde die Dimensionen Ökonomie, Ökologie, Soziales und Politik mit dem Ansinnen einer weltweiten Gerechtigkeit und der Gerechtigkeit zwischen den Generationen verknüpft. Um Erdkunde als Schulfach zu stärken, legte die Deutsche Gesellschaft für Geographie eine „Road Map 2030“ vor, die ebenfalls die Vernetzung mit Biologie, Chemie oder Physik auf der einen Seite und mit Geschichte oder Politik und Wirtschaft auf der anderen Seite betont (4).

Schon jetzt wird das Fach Erdkunde an vielen gymnasialen Oberstufen in Hessen überhaupt nicht angeboten. Eine Belegverpflichtung für PoWi in den Jahrgängen Q3 und Q4 hätte zu einer weiteren Marginalisierung der Erdkunde geführt, an vielen Schulen womöglich zu ihrem Aus in der Sekundarstufe II, da die Lernenden das Fach bisher ohnehin von der Einführungsphase an zusätzlich belegen müssen.

Der sich nun abzeichnende Kompromiss mit der Erfüllung der Belegpflichten im Bereich der politischen Bildung durch das Fach Erdkunde könnte zumindest einen weiteren Bedeutungsverlust des Faches im schulischen Angebot abwenden.

Dazu gehört auch eine Novellierung des KCgO Erdkunde, die den Beitrag des Faches zur politischen Bildung stärker betont und die sich nun im Beteiligungsverfahren befindet. Angesichts der Herausforderungen der Zukunft spricht also viel für eine Gleichberechtigung der drei Fächer Erdkunde, Geschichte und Politik und Wirtschaft, was eine verpflichtende Belegung von Erdkunde in der Einführungsphase voraussetzt.

Robert Hottinger


(1) Gießener Allgemeine vom 3.11.2019: „Viel mehr als Stadt, Land, Fluss“
(2) Gießener Allgemeine vom 21.1.2020: „Schutzmauer gegen den Populismus“
(3) GEW regional 12/2019, S. 11-14
(4) https://geographiedidaktik.org/roadmap-2030-fachschaftsarbeit