Zehn Jahre UN-Behindertenrechtskonvention

HLZ 7-8/2019: Inklusion

Auch zehn Jahre, nachdem die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) in Deutschland Gesetzeskraft erlangte, ist der dort festgeschriebene Rechtsanspruch von Kindern auf inklusive Beschulung längst noch nicht erfüllt. Vielmehr ist eine zunehmende Verhärtung der Fronten mit diametral unterschiedlichen Auffassungen darüber festzustellen, wie dieses Grundrecht im deutschen Schulwesen umzusetzen ist. Forderungen nach strukturellen Veränderungen am so genannten dreigliedrigen Schulsystem werden als „ideologisch begründet“ zurückgewiesen.

In Hessen wurde der Begriff des „Inklusiven Unterrichts“ ins Schulgesetz geschrieben, der die gemeinsame Unterrichtung von Schülerinnen und Schülern mit festgestelltem pädagogischem Förderbedarf mit Kindern meint, bei denen ein solcher Förderbedarf nicht festgestellt wurde. Alternativ werden diese Kinder in einer speziellen Schule unterrichtet, die im Laufe der Jahre oftmals umbenannt wurde. Aus der alten Hilfsschule wurde die Sonderschule und aus dieser die Förderschule.

Mit der Einführung so genannter „inklusiver Schulbündnisse (iSB)“ sollen nun Schülerinnen und Schüler mit gleichem sonderpädagogischem Förderbedarf innerhalb eines iSB an einer Regelschule unterrichtet werden, denen in besonderem Maße Ressourcen für diese Form des Förderbedarfes zur Verfügung gestellt werden sollen. Für die Mehrheit der betroffenen Kinder gilt somit, dass sie nicht zusammen mit den anderen gleichaltrigen Mitgliedern der „Gemeinschaft, in der sie leben“, in die Schule gehen, so wie dies die UN-BRK fordert. Sie werden von diesen getrennt an andern Schulorten unterrichtet. Mit solchen „Schwerpunktschulen“ wird es dann neben den weiter bestehenden „echten“ Förderschulen neue Lernorte für Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf geben. Damit wird die Reihe der Umetikettierungen fortgesetzt, ohne dass eine echte strukturelle Verbesserung im Sinne der UN-BRK wahrzunehmen ist.

Nun ist die Kohorte der schulpflichtigen Kinder wie die gesamte Gesellschaft unseres Landes von einer Vielzahl von Besonderheiten geprägt. Sie unterscheiden sich nach einer Vielzahl individueller Merkmale, wie Geschlecht, Hautfarbe, Religion, (sozialer) Herkunft, Intelligenz, Behinderung usw. Das Gemeinsame dieser Individuen ist das Aufwachsen in der örtlichen sozialen Gemeinschaft, die wiederum selbst die Diversität der Gesellschaft wenigstens teilweise abbildet. Mit Erreichen des Schulalters hat sich diese soziale Gemeinschaft in der Regel von der Familie ausgehend erweitert. Im ländlichen Gebiet kann das dann ein ganzes Dorf sein, in der Stadt eher das nähere häusliche Umfeld bis hin zu dem Viertel bzw. dem Stadtteil, in dem die Kinder leben.

Folgerichtig werden die Kinder dieser sozialen Gemeinschaft in der Regel in die örtlich zuständige Grundschule aufgenommen. Selbst wenn eine Familie gerade erst zugezogen ist, wird der neue Wohnort zum alleinigen Kriterium für den Schulort mit der nachvollziehbaren Begründung, dass die Integration in das neue soziale Umfeld so unterstützt werde. Nur eine Ausnahme gibt es von dieser Regel. Sie ist oben beschrieben und verstößt gegen die Vorgaben der UN-BRK.

Nach den vier Grundschuljahren wird die Kohorte dann geteilt, einzige Ausnahme in Hessen ist eine in Marburg bestehende sechsjährige Grundschule. Etwa die Hälfte darf ein Gymnasium besuchen, die verbleibende Hälfte verteilt sich auf eine große Zahl weiterer Schulformen. Dass die mit dieser Teilung verbundene Einsortierung in „gute“ und „schlechte“ Schülerinnen und Schüler nicht nur eine jährlich wiederkehrende strukturelle Diskriminierung für etwa die Hälfte aller Zehnjährigen in unserem Land darstellt, sondern ebenso gegen den Geist der UN-BRK verstößt, kann man an den Zahlen ablesen, die in dem oben stehenden Artikel angeführt werden. So bewegt sich der Anteil von Kindern und Jugendlichen mit sonderpädagogischem Förderbedarf an den Gymnasien auch nach zehn Jahren UN-BRK immer noch im unteren einstelligen Promillebereich.

Hans Braun