Der Schüler Vladi wird für die Lehrerinnen und Lehrer der inklusiven Grundschule Berg Fidel in Münster zur Herausforderung. An seinem Beispiel beschreibt Reinhard Stähling im ersten Kapitel des „Teambuchs Inklusion“ die Voraussetzungen für erfolgreiche Arbeit in multiprofessionellen Teams im inklusiven Unterricht. Der Nachdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Autoren und Verlag (Reinhard Stähling und Barbara Wenders: Teambuch Inklusion. Ein Praxisbuch für multiprofessionelle Teams. Schneider Verlag Hohengehren GmbH 2015).
Um für die Schulgemeinschaft verlässliche, Sicherheit vermittelnde Strukturen aufzubauen, brauchen wir auch Kooperationsformen zwischen den Lehrkräften, die handlungsfähig machen. (…) Das scheinen zwar alle erfahrenen Pädagogen zu wissen, aber sie können häufig noch nicht danach handeln, weil in vielen Schulen die festen Teams fehlen. Die Form der „gebundenen“ Ganztagsschule mit zuverlässig und langfristig vorhandenem Personal, wie in der Grundschule Berg Fidel seit 1992 erfolgreich etabliert, ist am besten geeignet, um den Aufwand an pädagogischen Absprachen zu reduzieren (1). In der Grundschule Berg Fidel wurde für jede Schulklasse ein eigenes festes Klassenteam gebildet, das die Arbeit mit der Klasse wöchentlich in einer Teamsitzung koordiniert. Die Klassenlehrerin leitet die Teamsitzung und ist Hauptansprechpartnerin der Eltern. Damit das Team handlungsfähig bleibt, ist es zweckmäßig, wenn es nicht zu groß ist. In einer Ganztagsklasse sind aber acht Mitarbeiter pro festem Klassenteam durchaus nicht selten. Auch beim Team- Kleingruppen-Modell (TKM) in Gesamtschulen unterrichten etwa acht Lehrkräfte einen Verbund von zwei bis vier Klassen in verschiedenen Fächern. Die Lehrkräfte ergänzen und entlasten sich. Die Schüler können so leichter in Zusammenhängen lernen. Die Zahl der Lehrkräfte ist überschaubar und ermöglicht gute kooperative Bezüge zueinander und ein stabile Beziehung zu den Schülerinnen und Schülern. Notwendig sind regelmäßige Teamsitzungen.
Inklusive statt additive Förderung
Das Team einer idealtypischen Grundschulklasse ist „multiprofessionell“ zusammengesetzt: Klassenlehrerin, Sonderpädagogin, Erzieherin oder sozialpädagogische Kraft, Fachlehrerin, Integrationshelfer, studentische Mitarbeiterinnen und eine Lehramtsanwärterin. Diese acht Erwachsenen arbeiten mit den Schülern und sind gemeinsam für sämtliche pädagogischen Aufgaben und alle Kinder verantwortlich. Ihr jeweiliger Aufgabenschwerpunkt unterscheidet sich, aber die Arbeit ist koordiniert. Alle sechs Wochen bekommt jedes feste, multiprofessionelle Klassenteam Supervision von der schulpsychologischen Beratungsstelle. (…)
Andreas Hinz beschreibt die Fehlentwicklung eines Integrationsmodells, bei der „ein Sonderlehrer für das Sonderkind ab und zu vorbeikommt und pädagogische Sonderangebote nach Sondercurricula mit Sondermethoden macht“ (2). Es entsteht eine „additive“ Förderkonstellation, in der die Schüler der Klasse mit ihren Potenzialen füreinander aus dem Blick geraten. Wenn wir im festen Team jedoch nach einem Inklusionsmodell arbeiten, verliert die Klassenlehrerin nicht ihre bedeutende Rolle als „Chefin“. Sie leitet das Team und sorgt dafür, dass sich jedes Teammitglied mit seinen Stärken und eventuell besonderen berufsspezifischen Kompetenzen in die Arbeit mit den Schülern einbringen kann.
Entsprechend der pointierten Gegenüberstellung von Inklusion und den Fehlentwicklungen der Integration werden wir in der nebenstehenden Tabelle zwei Pole von kollegialer Zusammenarbeit voneinander abgrenzen, um zu verdeutlichen, wie sich inklusive Teamarbeit versteht. Dabei unterscheiden wir zwischen einer Teamarbeit in festen Klassenteams, bei der die Mitarbeiter gemeinsam für alle Kinder da sind (Inklusion), und einer Kooperationsform, bei der sich einzelne nur für besondere Aufgaben zuständig fühlen (Fehlentwicklung der Integration). Indem wir das Inklusionskonzept auf die Teamarbeit anwenden, stellt sich viel deutlicher als zuvor die Frage, welche Faktoren zu effektivem Arbeiten in der Klasse führen (3).
Das feste Klassenteam sollte möglichst kontinuierlich über viele Jahre zusammenarbeiten. So kann das Team Schritt für Schritt immer mehr Routinen entwickeln und die komplizierten Abläufe erleichtern. Daher ist es besonders schwierig, mit „neu zusammengewürfelten“ Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ein handlungsfähiges Team zu entwickeln. Es braucht sehr lange, bis ein Team erfolgreich z.B. mit Verhaltensauffälligkeiten umzugehen lernt, wenn die Pädagogen noch nie zusammengearbeitet haben. Wenn die meisten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sich jedoch kennen und wissen, wo die Stärken und Interessen von jedem einzelnen liegen, können sie notwendige Schritte leichter absprechen und konsequent durchführen. So können Aufgaben sinnvoll verteilt werden. Zeugnisse und Lernentwicklungsberichte werden zur gemeinsamen Aufgabe und sind letztlich leichter zu bewältigen als alleine. Spezielle Fachgebiete wie z.B. Musik kommen mehr zur Geltung, wenn alle Teammitglieder ihre eigenen Potenziale einbringen können. Alle sind von der Last des Einzelkämpfers befreit und lernen von- und miteinander. Die Qualität des Unterrichts wächst. Auch die speziellen Kompetenzen von Sonderpädagogen mit bestimmten Schwerpunkten und Erfahrungen mit Schülern, die z.B. Regeln verletzen und emotional stark bedürftig erscheinen, fallen im festen und routinierten Team leichter auf fruchtbaren Boden. Die Pädagogen können sich zügig verständigen über Regeln und über Konsequenzen bei Nichtbeachtung. Klare und für alle transparente Vereinbarungen und Routinen bieten Handlungssicherheit für Mitarbeiter, Schüler und Eltern. Die Kontinuität des festen, multiprofessionellen Teams bietet zugleich auch fortwährende schulinterne Aus- und Fortbildungsmöglichkeiten über mehrere Jahre. (…)
Arbeit in heterogenen Gruppen
Um mit einer stark heterogenen Klasse arbeiten zu können, spielen nach unseren Erfahrungen drei Erfolgsfaktoren eine große Rolle:
- Koordination der Arbeit aller Mitarbeiter fester multiprofessioneller Teams: Ein Junge wie Vladi braucht solche klaren, im Team abgesprochenen und sich nicht widersprechenden Vorgehensweisen, die ihm und der Klasse Sicherheit geben können, ohne ihn auszuschließen.
- fester Teams über Jahre, in denen auch Sonderpädagogen mitarbeiten: Das „eingespielte“ multiprofessionelle Team ist handlungsfähig und kann einem Schüler wie Vladi eine feste Struktur geben, die er und seine Mitschüler brauchen.
- interne Aus- und Fortbildungen, berufsbegleitend, während der konkreten Arbeit sind effizient, wie die Berufspraxis gezeigt hat. Die Mitarbeiter verschiedener pädagogischer Berufe lernen miteinander in Teamsitzungen, bei der alltäglichen Unterrichtsarbeit oder in gemeinsamen externen berufsbegleitenden Aus- oder Fortbildungen.
Reinhard Stähling und Barbara Wenders
(1) Ursula Carle und Heinz Metzen (2014): Wie wirkt jahrgangsübergreifendes Lernen? Frankfurt am Main: Grundschulverband, S.70
(2) Andreas Hinz (2002): Von der Integration zur Inklusion – terminologisches Spiel oder konzeptionelle Weiterentwicklung? In: Zeitschrift für Heilpädagogik 53, S. 354–361, S.355
(3) Reinhard Stähling (2005): Die Klasse führt sich selbst. In: Grundschule, 37 (2), S. 30–33