Teambuch Inklusion

Multiprofessionelle Klassenteams an der Grundschule Berg Fidel

HLZ 7–8/2018: Multiprofessionelle Teams

Der Schüler Vladi wird für die Lehrerinnen und Lehrer der inklusiven Grundschule Berg Fidel in Münster zur Heraus­forderung. An seinem Beispiel beschreibt Reinhard Stäh­ling im ersten Kapitel des „Teambuchs Inklusion“ die Vor­aussetzungen für erfolgreiche Arbeit in multiprofessionellen Teams im inklusiven Unterricht. Der Nachdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Autoren und Verlag (Rein­hard Stähling und Barbara Wenders: Teambuch Inklusion. Ein Praxisbuch für multiprofessionelle Teams. Schneider Ver­lag Hohengehren GmbH 2015).

Um für die Schulgemeinschaft verlässliche, Sicherheit ver­mittelnde Strukturen aufzubauen, brauchen wir auch Koope­rationsformen zwischen den Lehrkräften, die handlungsfähig machen. (…) Das scheinen zwar alle erfahrenen Pädagogen zu wissen, aber sie können häufig noch nicht danach han­deln, weil in vielen Schulen die festen Teams fehlen. Die Form der „gebundenen“ Ganztagsschule mit zuverlässig und langfristig vorhandenem Personal, wie in der Grundschule Berg Fidel seit 1992 erfolgreich etabliert, ist am besten ge­eignet, um den Aufwand an pädagogischen Absprachen zu reduzieren (1). In der Grundschule Berg Fidel wurde für jede Schulklasse ein eigenes festes Klassenteam gebildet, das die Arbeit mit der Klasse wöchentlich in einer Teamsitzung ko­ordiniert. Die Klassenlehrerin leitet die Teamsitzung und ist Hauptansprechpartnerin der Eltern. Damit das Team hand­lungsfähig bleibt, ist es zweckmäßig, wenn es nicht zu groß ist. In einer Ganztagsklasse sind aber acht Mitarbeiter pro festem Klassenteam durchaus nicht selten. Auch beim Team- Kleingruppen-Modell (TKM) in Gesamtschulen unterrichten etwa acht Lehrkräfte einen Verbund von zwei bis vier Klas­sen in verschiedenen Fächern. Die Lehrkräfte ergänzen und entlasten sich. Die Schüler können so leichter in Zusammen­hängen lernen. Die Zahl der Lehrkräfte ist überschaubar und ermöglicht gute kooperative Bezüge zueinander und ein sta­bile Beziehung zu den Schülerinnen und Schülern. Notwen­dig sind regelmäßige Teamsitzungen.

Inklusive statt additive Förderung

Das Team einer idealtypischen Grundschulklasse ist „multi­professionell“ zusammengesetzt: Klassenlehrerin, Sonderpä­dagogin, Erzieherin oder sozialpädagogische Kraft, Fachleh­rerin, Integrationshelfer, studentische Mitarbeiterinnen und eine Lehramtsanwärterin. Diese acht Erwachsenen arbeiten mit den Schülern und sind gemeinsam für sämtliche pädago­gischen Aufgaben und alle Kinder verantwortlich. Ihr jewei­liger Aufgabenschwerpunkt unterscheidet sich, aber die Ar­beit ist koordiniert. Alle sechs Wochen bekommt jedes feste, multiprofessionelle Klassenteam Supervision von der schul­psychologischen Beratungsstelle. (…)

Andreas Hinz beschreibt die Fehlentwicklung eines Inte­grationsmodells, bei der „ein Sonderlehrer für das Sonder­kind ab und zu vorbeikommt und pädagogische Sonderan­gebote nach Sondercurricula mit Sondermethoden macht“ (2). Es entsteht eine „additive“ Förderkonstellation, in der die Schüler der Klasse mit ihren Potenzialen füreinander aus dem Blick geraten. Wenn wir im festen Team jedoch nach einem Inklusionsmodell arbeiten, verliert die Klassenlehrerin nicht ihre bedeutende Rolle als „Chefin“. Sie leitet das Team und sorgt dafür, dass sich jedes Teammitglied mit seinen Stärken und eventuell besonderen berufsspezifischen Kompetenzen in die Arbeit mit den Schülern einbringen kann.

Entsprechend der pointierten Gegenüberstellung von In­klusion und den Fehlentwicklungen der Integration werden wir in der nebenstehenden Tabelle zwei Pole von kollegialer Zusammenarbeit voneinander abgrenzen, um zu verdeutli­chen, wie sich inklusive Teamarbeit versteht. Dabei unter­scheiden wir zwischen einer Teamarbeit in festen Klassen­teams, bei der die Mitarbeiter gemeinsam für alle Kinder da sind (Inklusion), und einer Kooperationsform, bei der sich einzelne nur für besondere Aufgaben zuständig fühlen (Fehl­entwicklung der Integration). Indem wir das Inklusionskon­zept auf die Teamarbeit anwenden, stellt sich viel deutlicher als zuvor die Frage, welche Faktoren zu effektivem Arbeiten in der Klasse führen (3).

Das feste Klassenteam sollte möglichst kontinuierlich über viele Jahre zusammenarbeiten. So kann das Team Schritt für Schritt immer mehr Routinen entwickeln und die komplizierten Abläufe erleichtern. Daher ist es besonders schwierig, mit „neu zusammengewürfelten“ Mitarbeiterin­nen und Mitarbeitern ein handlungsfähiges Team zu entwi­ckeln. Es braucht sehr lange, bis ein Team erfolgreich z.B. mit Verhaltensauffälligkeiten umzugehen lernt, wenn die Pädagogen noch nie zusammengearbeitet haben. Wenn die meisten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sich jedoch ken­nen und wissen, wo die Stärken und Interessen von jedem einzelnen liegen, können sie notwendige Schritte leichter absprechen und konsequent durchführen. So können Auf­gaben sinnvoll verteilt werden. Zeugnisse und Lernentwick­lungsberichte werden zur gemeinsamen Aufgabe und sind letztlich leichter zu bewältigen als alleine. Spezielle Fach­gebiete wie z.B. Musik kommen mehr zur Geltung, wenn alle Teammitglieder ihre eigenen Potenziale einbringen kön­nen. Alle sind von der Last des Einzelkämpfers befreit und lernen von- und miteinander. Die Qualität des Unterrichts wächst. Auch die speziellen Kompetenzen von Sonderpä­dagogen mit bestimmten Schwerpunkten und Erfahrun­gen mit Schülern, die z.B. Regeln verletzen und emotional stark bedürftig erscheinen, fallen im festen und routinierten Team leichter auf fruchtbaren Boden. Die Pädagogen kön­nen sich zügig verständigen über Regeln und über Konse­quenzen bei Nichtbeachtung. Klare und für alle transparente Vereinbarungen und Routinen bieten Handlungssicherheit für Mitarbeiter, Schüler und Eltern. Die Kontinuität des fes­ten, multiprofessionellen Teams bietet zugleich auch fort­währende schulinterne Aus- und Fortbildungsmöglichkei­ten über mehrere Jahre. (…)

Arbeit in heterogenen Gruppen

Um mit einer stark heterogenen Klasse arbeiten zu können, spielen nach unseren Erfahrungen drei Erfolgsfaktoren eine große Rolle:

  1. Koordination der Arbeit aller Mitarbeiter fester multiprofessioneller Teams: Ein Junge wie Vladi braucht sol­che klaren, im Team abgesprochenen und sich nicht wider­sprechenden Vorgehensweisen, die ihm und der Klasse Si­cherheit geben können, ohne ihn auszuschließen.
  2. fester Teams über Jahre, in denen auch Son­derpädagogen mitarbeiten: Das „eingespielte“ multiprofes­sionelle Team ist handlungsfähig und kann einem Schüler wie Vladi eine feste Struktur geben, die er und seine Mit­schüler brauchen.
  3. interne Aus- und Fortbildungen, berufsbeglei­tend, während der konkreten Arbeit sind effizient, wie die Berufspraxis gezeigt hat. Die Mitarbeiter verschiedener päd­agogischer Berufe lernen miteinander in Teamsitzungen, bei der alltäglichen Unterrichtsarbeit oder in gemeinsamen ex­ternen berufsbegleitenden Aus- oder Fortbildungen.

Reinhard Stähling und Barbara Wenders

(1) Ursula Carle und Heinz Metzen (2014): Wie wirkt jahrgangsüber­greifendes Lernen? Frankfurt am Main: Grundschulverband, S.70
(2) Andreas Hinz (2002): Von der Integration zur Inklusion – ter­minologisches Spiel oder konzeptionelle Weiterentwicklung? In: Zeitschrift für Heilpädagogik 53, S. 354–361, S.355
(3) Reinhard Stähling (2005): Die Klasse führt sich selbst. In: Grund­schule, 37 (2), S. 30–33