„Mach, dass der besser Mathe kann"

Förderpädagogische Lehrkräfte in inklusiven Schulen

HLZ März/April 2023

Das obige Zitat ist eine typische Aussage, mit der sich Regelschulkräfte an sonderpädagogische Lehrkräfte wenden, denn aus unterschiedlichen Gründen wird Sonderpädagogik als ‚Serviceleistung‘ verstanden, die möglichst unauffällig in das System Regelschule integriert werden soll. Die Gründe hierfür sind vielfältig: Eklatante Ressourcenprobleme, stabile Berufsrollen, schulische Traditionen, aber auch mangelnde Steuerungen auf der Ebene von Bildungspolitik, Bildungsverwaltung und den Schulleitungen. Grundsätzliche Erwägungen wie die Weiterentwicklung inklusiven Unterrichts oder Aspekte der Schulentwicklung spielen demgegenüber in der Regel eine untergeordnete Rolle, obgleich sie für die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Schulen zentral sind.
 

Das vom BMBF geförderte Projekt „Förderpädagogische Lehrkräfte in inklusiven Grundschulen (FoLiS)“ hat im Zeitraum 2018-2020 unter der Leitung von Prof. Dr. Jan Kuhl (TU Dortmund) und Prof. Dr. Vera Moser (Goethe Universität Frankfurt) und den wissenschaftlichen Mitarbeitern Lisa Kuhl und Dr. Torsten Dietze in vier Bundesländern (Berlin, Hessen, Mecklenburg Vorpommern und Nordrhein-Westfalen) die Aufgabenwahrnehmung von und Aufgabenerteilung an sonderpädagogische/n Lehrkräfte/n in inklusiven Grundschulen (laut Selbstbezeichnung) untersucht. Die Forschenden wollten wissen, welche Aufgaben von wem benannt werden und inwiefern die förderpädagogischen Lehrkräfte sich dabei als berufszufrieden erleben.
 

Hintergrund des Projekts ist die Annahme, dass sich durch die UN-Behindertenrechtskonvention das Aufgabenspektrum förderpädagogischer Lehrkräfte verändert, es insbesondere zu mehr kooperativer Zusammenarbeit kommt und sich die inklusive Unterrichts- und Schulentwicklung als zentrale Aufgabe stellt. Allerdings zeigen sowohl Alltag als auch die Datenlage, dass sich das Ideal kooperativer, gemeinsamer Unterrichtung, wie sie in den Modellschulen der 1980er und 90er Jahre praktiziert wurde, beim Ausbau der Inklusion in die Fläche nicht durchsetzen würde. In der Realität finden sich, wie immer, Kompromissbildungen.
 

Die Datenerhebung des Projekts fand in einem Mixed-Methods-Design in verschiedenen Ebenen des Schulsystems statt: 22 Interviews mit Personen aus Bildungspolitik und –verwaltung, 89 Fragebögen von Grundschulleitungen, sowie 22 ausführliche Interviews mit förderpädagogischen Lehrkräften.
 

Auf der Ebene der landespolitischen Steuerung zeigte sich, dass der Einsatz von förderpädagogischen Lehrkräften an Regelschulen insbesondere durch die Zuweisung und Verteilung der personellen Ressourcen, die Festlegung der dienstrechtlichen Stammschule der Lehrkräfte, Regelungen zur Zuständigkeit für die sonderpädagogische Feststellungsdiagnostik und Regelungen zu einem Einsatz als Klassenlehrkraft auf der Ebene der Bildungspolitik gesteuert wird (vgl. Abb. 1). Inhaltliche Vorgaben zu Aufgaben der förderpädagogischen Lehrkräfte finden sich hier nicht, so dass die konkrete Ausgestaltung an die Einzelschulen bzw. die einzelnen förderpädagogischen (bzw. kooperierenden) Lehrkräfte delegiert wird. Diese Ausgestaltungen finden oft ad-hoc statt, strukturelle Klärungen, z.B. in schriftlichen Vereinbarungen, finden sich selten. Auch feste Zeiten für Besprechungen und Planungen mit anderen pädagogischen Professionen sind in weniger als der Hälfte der untersuchten Grundschulen ausreichend strukturell verankert. Die Ausstattung mit förderpädagogischen Lehrkräften wird sowohl von den Grundschulleitungen als auch von den förderpädagogischen Lehrkräften häufig als unzureichend bewertet.
 

Bezüglich der konkreten Praktiken des Einsatzes der förderpädagogischen Lehrkräfte konnte (s. Abb. 2) insgesamt eine traditionelle arbeitsteilige Übernahme der Verantwortung für Aufgaben im und um den Unterricht durch die Grundschullehrkräfte und die förderpädagogischen Lehrkräfte vorgefunden werden: Die Grundschullehrkräfte sind vor allem für Aufgaben rund um den Unterricht mit der gesamten Klasse zuständig, während die förderpädagogischen Lehrkräfte insbesondere spezifische Planungs- und Vorbereitungs- (u.a. Materialerstellung, Förderpläne) sowie Beratungsaufgaben übernehmen. Dabei zeigt sich zum einen eine Trennung entlang des Kriteriums des festgestellten sonderpädagogischen Förderbedarfs der Schülerinnen und Schüler, zum anderen aber auch entlang des Kriteriums der Lernzielgleichheit bzw. -differenz: Die förderpädagogischen Lehrkräfte sind insbesondere bei Lernzieldifferenz zuständig, bei Lernzielgleichheit (oder präventiver Förderung) sind die Zuständigkeiten weniger eindeutig verteilt.
 

Die sonderpädagogische Förderung findet vor allem in Kleingruppen- oder Einzelfördersettings statt, gemeinsames und geplantes Teamteaching wird vergleichsweise selten realisiert. Des Weiteren zeigt sich, dass die förderpädagogischen Lehrkräfte durch die Grundschullehrkräfte unterschiedlich adressiert werden: Mal sollen sie die Rolle eines Helfers/einer Helferin bei der Unterrichtsplanung, Materialerstellung und Unterricht übernehmen, mal sollen sie in Kleingruppen extern Förderungen durchführen und mal sollen sie beratende und kooperative Tätigkeiten übernehmen. Dabei finden sich die förderpädagogischen Lehrkräfte kaum selbst gestaltend in Bezug auf die Art der Tätigkeit wieder, eher in Bezug auf die Art der Durchführung. Zudem konnte festgestellt werden, dass viele förderpädagogische Lehrkräfte nicht als Überzeugung an inklusiven Grundschulen arbeiten, sondern weil der frühere Arbeitsplatz an einer Förderschule nicht mehr existiert. Auch spielt die Aufgabe inklusiver Schul- und Unterrichtsentwicklung in der Mehrheit der Befragten keine Rolle.
 

In Bezug auf die Berufszufriedenheit konnte im Interviewmaterial rekonstruiert werden, dass sich zwei unterschiedliche Berufstypen herausgebildet haben:  Einerseits Personen, die sich gerne als Experten adressieren ließen und die Aufgaben der individuellen Förderung, Beratung und Kooperation flexibel übernahmen, weil sie sich in ihrem Expertenwissen bestätigt sahen. Andererseits fand sich der Typus der beziehungsorientierten Lehrkraft, die ihre Aufgabe in der dauerhaften Zusammenarbeit mit Schülern und Schülerinnen sieht und hier auch als Unterrichtende aktiv ist. Hier spielt das Erleben zufriedenstellender Beziehungen eine zentrale Rolle für die eigene Berufszufriedenheit. Diese beiden Typen bilden sich derzeit zufällig in den Schulen aus und können als Erfüllung, aber auch als Zumutung erlebt werden – je nachdem, welchem Typus sich die Lehrkraft zugehörig fühlt.
 

Als Konsequenz zeigen die Ergebnisse, dass eine Steuerung des Einsatzes förderpädagogischer Lehrkräfte auf Ebene der Einzelschule dringend erforderlich ist. Denn die Befunde machen deutlich, dass unklare Aufgabenbestimmungen, aber auch vielfältige Abordnungen an mehrere Schulen einer integrierten unterrichtlichen Zusammenarbeit zuwiderläuft und eine eher wenig abgestimmte, arbeitsteilige Zusammenarbeit hervorruft.  Zudem haben sich naturwüchsig zwei Typen förderpädagogischer Tätigkeit herausgebildet: die des flexiblen Experten und die der beziehungsorientierten Lehrkraft. Entsprechen diese Modelle den eigenen professionellen Konzepten, führt dies auch zu Berufszufriedenheit, im gegenteiligen Falle aber zu Wegbewerbungen und einer Ablehnung inklusionsorientierter Arbeit.
 

In einer solchen dezidierten Aufgabenklärung müsste zudem deutlich werden, dass die UN-Behindertenrechtskonvention nicht nur individuelle Förderung unter den Bedingungen möglichst geringer äußerer Differenzierung einfordert, sondern insgesamt die angemessene Gestaltung der Lernumgebung in einem inklusiven Setting. Diese Aufgabe der Schul- und Unterrichtsentwicklung stellt sich unter den Bedingungen des knappen Personals einmal mehr, weil hier neue Modelle der Individualisierung, Digitalisierung, eigenständigem Arbeiten und gruppenbezogener Unterrichtung entwickelt und erprobt werden können.
 


Weiterführende Literatur:
 

  • Moser, V. (2022): Inklusion im Bildungssystem: Definitionen, Steuerung, Prozesse und Wirkungen. Ergebnisse des Promotionskollegs 040 ‚Inklusion-Bildung-Schule‘ (Working Paper Studienförderung. Düsseldorf: Hans Böckler Stiftung.
  • Kuhl, J., Moser, V., Wolf, L. & Dietze, T. (2022). „Mach, dass die in Mathe und Deutsch besser lernen“ – Ergebnisse zum Einsatz von förderpädagogischen Lehrkräften an Grundschulen. In F. Buchhaupt, J. Becker, D. Katzenbach, D. Lutz, A. Strecker & M. Urban (Hrsg.), Qualifizierung für Inklusion: Grundschule. Münster: Waxmann, 79-91.
  • Moser, V. (2022): Adressierungspraxen von Sonderpädagog*innen in inklusiven Settings. In B. Seerke & B. Streese (Hrsg.), Wege der Kooperation in der inklusiven Bildung (S. 89-98). Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
  • Wolf, L., Dietze, T., Moser, V. & Kuhl, J. (2022): „Sie wissen ja, welche Schätze sie im Kollegium haben“ – Der Einsatz förderpädagogischer Lehrkräfte in Grundschulen aus der Perspektive der Educational Governance. Zeitschrift für Grundschulforschung, 15, 81-99.
  • Moser, V. (2022): Chancengleichheit – Das leere Versprechen des deutschen Bildungssystems. Gastbeitrag in: DER SPIEGEL 10.5. 2022.
  • Ludwig, J., Wolf, L., Dietze, T., Hummrich, M.& Moser, V. (2023, i.Dr.): „Ich habe in jeder Klasse mein Zuhause“ – Sonderpädagogische Lehrkräfte an inklusiven Schulen zwischen Personenbezug und Expertise. Ein Beitrag zur Erforschung des Lehrerhabitus. Zeitschrift für Pädagogik.